zurück zur Startseite

Die Nudelsuppe und der Aktienmarkt
oder: Der Zorn des Analysten

Was haben die chronisch verschnupften Straßen Bangkoks mit den Geldflüssen auf dem Kapitalmarkt gemein und was hat das Ganze wiederum mit dem Wetter beziehungsweise der Wildente von Ibsen zu tun? Inwiefern lassen sich rätselhafte Diagramme von Kursbewegungen mit dem hymnischen Pulsieren eines späten Gedichtes von Hölderlin vergleichen? Welcher Zusammenhang besteht eigentlich zwischen einer Nudelsuppe und dem Wesen der Börse? Ein in Bangkok stationierter indischer Aktienanalyst versucht seinem Verständnis von börsianischen Geheimnissen mit abenteuerlichen Vergleichen eine (un)durchschaubare Form zu geben. Und verliert dabei selbst – die Fassung. Erzählung eines gescheiterten Interviews von Peter Oberdorfer

Bangkok. Nachdem der Taxifahrer hilflos und unter Flüchen vom widrigen Verkehrsgetümmel mehrmals am anvisierten Bürogebäude vorbeigespült wurde, ohne wirklich halten zu können, gelang das Stehenbleiben und ich trat auf die Straße. Einer dieser namenlosen Glastürme stand vor mir: dunkel, verspiegelt, vollkommen geheimnislos. In der Empfangshalle eines großen thailändischen Wertpapierhandelshauses lächelte man mich lange an und fragte mich schließlich nach meinem Begehr. „I have an appointment with Mr. Ramachai, the head of the researchdepartment.“ Ich gab meinen Namen an, die Dame versuchte ihn nachzusprechen, aber die Laute schienen für ihren Mund zu grob und klobig. Sie schaute drein, als hätte sie etwas Giftiges gegessen. „Just call me Peter.“
„Okay, Mister Peter, would you like to drink some tea?“
„Yes please, but actually I would like to talk to Mister Ramachai.“
„But Mister Ramachai is so busy.“
„The important man is always busy, I have an appointment with him, now.“
„He has so many appointments.“
„But I am here now and I want to talk to him.“ Ich wurde mit dem zarten Fräulein ein bisschen harscher, sie zuckte zurück und flatterte davon.
„Okay Peter, you can come“, sagte sie, als sie wiederkam. Die kleine Unhöflichkeit hatte mich den Mister gekostet.

Wenn man vom Empfangsraum in die tatsächlichen Arbeitsräume eines Unternehmens vordringt, ist das ungefähr so, wie wenn man vom Zuschauersaal eines Theaters hinter die Bühne geht: ziemliche Entzauberung. War draußen noch alles marmorn und glatt und makellos, mit ruhigen Stimmen, sonor klackenden Stöckelschuhen und schönen Damen, so wurde ich jetzt in eine riesige Rumpelkammer geführt. Hinter labyrinthisch verschachtelten Paravents tauchte hier und da ein Kopf zwischen Papieren auf, schaute leer wie ein Fisch und verschwand wieder. Ganz hinten, am tiefsten versteckt, fand ich Herrn Ramachai, den Chefanalysten des Unternehmens. Monitore, Papierstapel und Paravents umgaben ihn wie ein Schneckenhaus.

Die Dame ließ mich einfach stehen und ging, der Mann würdigte mich keines Blickes, sagte aber: „Hallo Peter“, als sei ich ein alter Freund. „Setzen Sie sich doch.“ Er schichtete einige Papiere um und schaute auf. Ich war erstaunt, einen Inder zu sehen. Er mochte um die Fünfzig sein, das dichte, tief ansetzende Haar und die Brauen waren weiß, die Stirn dazwischen nahm nur einen schmalen Hautstreifen ein, auf dem sich allerdings eine Unzahl kleinster und schön parallel gezogener Falten in ständiger Bewegung befanden – wie Korallengewächse, dachte ich. Sein Blick fixierte mich mit einer starren Eindringlichkeit, in der etwas Irres lag: „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich wollte mit Ihnen über den thailändischen Aktienmarkt sprechen.“
„Sie sind der unermüdliche Journalist, der so oft angerufen hat.“
„Ja.“
Er seufzte, ich gab ihm meine Karte. „Aus Österreich?“ Er schaute mich listig an, die Stirnfaltenziehharmonika ging in die Breite. „Österreich? Soll ich Ihnen etwas verraten? Ich weiß nicht warum, aber in der Schule geriet ich oft ins Träumen, ich blätterte im Atlas und starrte Österreich an, solange bis mir die verrücktesten Geschichten einfielen, die alle in Österreich spielten.“
„Ist Ihnen denn etwas in Erinnerung?“

„Ja, ja. Ich wunderte mich als Kind immer darüber, dass die Welt so lückenlos regelmäßig ist, dass jeder Baum einen Schatten wirft, dass alle Busse Reifen haben, dass alle Menschen mit Köpfen daherkommen und so weiter. Und Österreich, ich weiß nicht warum, dieses kleine Land mit der Form einer schlecht fabrizierten steinzeitlichen Keule, stellte ich mir als Insel der Ausnahme von allen Normen vor, dort kugelten mehrere Sonnen am Himmel herum und keine leuchtete richtig, dachte ich mir. Dort kann es geschehen, dass du hinter einen Busch schaust und die Welt hat vergessen, diesen Raum auszufüllen, kein Waldboden, die Stelle ist weiß, leer, nacktes Universum, dachte ich mir.“ Er begann zu kichern, zunächst leise, dann immer heftiger und krampfhafter. „Österreich“, stieß er hervor und krümmte sich, schließlich enthemmt lachend.

„Sie hatten als Kind eine sonderbare Fantasie, scheint mir.“
„Ich war Einzelkind und meine Eltern schweigsam. Aber andererseits, ist eine nicht sonderbare, das heißt: eine normale Fantasie denkbar?“, fragte er mich. „Fantasie ist doch immer ein Abschweifen und Ausscheren ins … ins … ja nicht einmal das lässt sich bestimmt sagen.“
„Möglich, ich möchte nicht zuviel Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen und vorsichtig auf mein Anliegen zurückkommen.“
„Den thailändischen Aktienmarkt?“
Ich nickte vorwurfsvoll.
„Sie wissen nicht, wie nahe wir diesem Punkt schon gekommen sind. Spielerisch gewissermaßen. Wenn man den Kapitalmarkt verstehen will, braucht man nämlich viel, unendlich viel Fantasie, ungefähr so viel wie für das Verständnis eines Gedichtes von … eines späten Gedichtes von … sagen wir – Hölderlin.“
„Sie kennen Hölderlin?“
Er schaute drein wie ein störrisches Kleinkind: „Warum nicht?“, und kramte aus den unteren Papiersedimenten in der näheren Umgebung seines Schreibtisches eine alte englische Ausgabe des Hyperion hervor. Ich zuckte mit den Schultern.

„Im Gedicht werden logische Zusammenhänge, die in der Prosa breit auseinandergewalzt werden, gewissermaßen zusammengespannt, zusammengelegt, verdichtet, sodass ein großer, anderer Zusammenhang daraus wird: der poetische. Auf dem Kapitalmarkt findet ähnliches statt. Die gesamte Welt, alle ihre Wirklichkeiten und Unwirklichkeiten werden auf eine einzige Linie zusammengepresst, den Index. Ist das nicht unglaublich?“ Langsam wurde mir klar, warum mein Gesprächspartner so grenzenlos beschäftigt war: Bei der Annäherung an einen Gegenstand holte er so weit aus, dass dieser Gegenstand aus dem Blickfeld verschwand. Er schien ein leichtes Unbehagen in meiner Miene zu bemerken. „Wissen Sie, ich bin kein Thai, sondern Inder und ich bin weit herumgekommen, unter anderem arbeitete ich zwei Jahre lang in Wien, jawohl! Und ich wollte einem Herren aus Österreich mit Abschweifungen herzlich entgegenkommen, weil ich mir dachte, das müsste ihrer Barocknatur entsprechen, aber Sie enttäuschen mich. Sie scheinen wirklich nur ein paar Auskünfte über Aktien haben zu wollen.“

Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. „Diese Auskünfte zu bekommen war tatsächlich der Anlass, aus dem ich zu Ihnen kam. Wir können natürlich gerne abschweifen, nichts lieber als das, allerdings, wenn es geht, hin zum Wesentlichen, zum Eigentlichen, zum Kern der Sache und weg von der Oberfläche der Zahlen und Daten. Ich bin nämlich keine ostösterreichische Barocknatur mit Bierbauch, sondern Tiroler. Wir lieben die klare Sicht und den steilen Weg zum Gipfel, verstehen Sie: Hochgebirgsmenschen.“ Er reichte mir mit pathetischer Geste, von der unklar blieb, ob sie ernst gemeint war oder meine patriotische Anwandlung (manchmal passiert das) ins Lächerliche ziehen sollte, die Hand. „Ich bin auch Bergmensch.
Kaschmir. Ich verstehe Sie. Wo waren wir?“
„Hölderlin.“
„Ja die gesamte Welt schillert in einem hässlichen Chart nicht anders als in einem konfusen Gedicht. Eine andere interessante Parallele besteht zum Wetter.“

„Reden wir doch übers Wetter.“
„Man sagt, dass das Öffnen eines gewöhnlichen Fensters hier und jetzt theoretisch einen Orkan auslösen kann. Das heißt, das Wetter braut sich aus einem unendlich vielfältigen Gemisch von Kausalfaktoren zusammen. Aber nicht alle Faktoren sind in ihrer Bedeutungsschwere gleich gewichtig, nicht wahr? Einige, vergleichsweise wenige Faktoren treten stark und regelmäßig in Erscheinung, so wie der Monsun etwa in Asien oder der Föhn in Tirol. Diese Faktoren sind in ihrem Erscheinen relativ konstant und berechenbar und führen erfahrungsgemäß zu bestimmten Wetterlagen. Sie bilden gewissermaßen die Grundlage der Wettervorhersage durch die Meteorologie. Würde die Wetterlage ausschließlich vom Öffnen und Schließen aller Fenster dieser Welt und dem weltweiten Zusammenspiel aller dieser Fenster abhängen, so wäre eine Wetterkunde wahrscheinlich unmöglich zu organisieren und wir würden statt der Wetterprognose wahrscheinlich einen Regentänzer im Fernsehen zu sehen kriegen. Ja und ähnlich verhält es sich mit den Kursausschlägen an den Börsen: Es gibt einige dominante Faktoren, die die anderen überlagern, die mit Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit auftreten und bestimmte vorhersehbare Wirkungen zeitigen. Sie ermöglichen es, dass ich hier auf einem Stuhl sitze und den Job habe, den thailändischen Aktienmarkt zu analysieren.“

„Sie sagen, sie analysieren den thailändischen Aktienmarkt: Ist es Ihnen denn je gelungen, eine dieser Analysen abzuschließen, in der Form, dass etwas Konkretes daraus hervorging? Ich meine, so etwas wie ein Ergebnis?“

„Schauen Sie, die Welt ist keine Milchmädchenrechnung, aus der ein Ergebnis hervorgeht, und die Börse als Teil dieser Welt folglich auch nicht. Das war jetzt übrigens ein klassischer Syllogismus: Obersatz (‚Die Welt ist keine Milchmädchenrechnung‘), Untersatz (‚Die Börse ist Teil dieser Welt‘) und eine Conclusio (‚Auch die Börse ist keine Milchmädchenrechnung‘) als Ergebnis. Aber Ergebnisse dieser Form interessieren mich nicht. Die Conclusio ist in den Prämissen so sonnenklar enthalten, dass nur ein Pedant daraus einen Satz macht und den dann Schlussfolgerung oder Ergebnis nennt. Für so etwas bin ich zu stolz. Ich bin kein Schwindler, sondern Analyst!“

Er verschränkte energisch die Arme und starrte auf einen der Monitore, auf dem sich ein neuer Chart zusammensetzte. Die Zahlen, die rings um uns langsam und unbeirrbar in allen möglichen Formen und Farben über die Bildschirme rieselten, gaben Ramachais Arbeitsplatz den Anschein einer Unterwasserwelt, eines digitalen Aquariums. „Jetzt würde ich gerne ‚Yellow Submarine‘ von den Beatles hören“, sagte ich, um das Schweigen vorsichtig zu brechen. Er schaute nachdenklich und nickte langsam mit dem Kopf. „Sie haben meinen Faden verloren. Wo waren wir stehen geblieben?“
„Dominante Kausalfaktoren“, sagte ich.

„Ja, richtig, werden wir konkret. Ganz einfach. Wenn Thailand und Myanmar einen Krieg beginnen, bricht die Börse hier in Bangkok ein. Das kann man zum Beispiel sicher sagen.“
„Das ist zu banal, daraus kann ich keine Geschichte machen.“
„Ist das wirklich so banal? Als der letzte Afghanistan- Krieg, der Pakistan unmittelbar involvierte, losging, hob das den pakistanischen Index an und brachte Bewegung in die Börse. Weil Investoren auf starke amerikanische Wirtschaftshilfe hofften, als Dank für die Unterstützung im Antiterrorkrieg, oder wie das verrückte Ding heißt. Aber Sie haben recht: im Allgemeinen wirken Kriege negativ, sie belasten die Volkswirtschaft, erzeugen Unsicherheit und die Investoren verschwinden. Das ist ja auch gerade im Moment das Problem. Der Demagoge Bush verhängte in seiner Konzeptlosigkeit einen Kriegszustand über die gesamte Welt, ohne diesen Kriegszustand klar und präzise zu definieren und auch ohne zu sagen, wodurch dieser Krieg je zu Ende gehen kann. Das ist lähmendes Gift für die Wirtschaft und die Märkte. Undefinierbare Unsicherheit. Angst. Investments, Kaufentscheidungen werden verschoben, Verkäufe dominieren.“
„Sie sagten doch, wir werden jetzt konkret.“
„Wenn Sie eine konkrete Information haben wollen: Der thailändische Index gewann in der ersten Jahreshälfte 2002 deshalb so stark, weil langsam wieder Vertrauen westlicher Investoren in die hiesigen Verhältnisse zurückkehrte und sich die thailändische Wirtschaft nach der großen Krise 97/98 endgültig stabilisierte. Aber immer noch gelten wir als riskantes Investment, einfach weil wir so weit weg vom Schuss sind. Als die allgemeine Stimmungslage in der Welt sich um die Jahresmitte wieder verschlechterte, durch die aufgeflogenen Betrügereien an der Wallstreet und die so sinnlos vom Zaun gebrochene Irak-Krise und weiß der Teufel wodurch sonst noch, sanken hier die Werte rasch. Schlicht weil keiner im Westen in Zeiten wie diesen Lust auf Risiko hat, oder darauf, was man bei euch für ein Risiko hält. Die Wirtschaftsentwicklung in Thailand spielte plötzlich keine Rolle mehr, die ist so gut wie vor einem halben Jahr. Da geht es um Stimmungslagen, die mit Thailand nichts zu tun haben. Wenn du hier sitzt und das deinen Kunden, die plötzlich ihr Geld verlieren, erklären sollst, ist das ziemlich frustrierend. Ein klarer Zusammenhang zwischen der volkswirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes und dem Klima an der Börse besteht nur dann, wenn die Wirtschaftslage schlecht ist. Da hauen die Anleger schnell ab. Aber eine positive Wirtschaftslage, wie wir sie jetzt haben, kann sehr schnell von anderen globalen Faktoren überlagert und zwischenzeitig belanglos werden. Dann spielt plötzlich die Hauptrolle, auf welchen Kopf Bush gerade seinen Colt gerichtet hält, weil er als populärer Kriegsherr in die Wahlen zum amerikanischen Kongress ziehen will. Allerdings – um noch einmal auf das Wetter zurück und schnell von Bush weg zu kommen – existiert ein gravierender Unterschied zwischen dem Wetter und der Börse: Das Wetter wird nur von realen Umständen beeinflusst. Wenn Sie befürchten, dass es morgen in Bangkok schneien könnte und diese Befürchtung anderen eintrichtern, in so überzeugender Form, dass, sagen wir, alle Bewohner dieser Stadt sie schließlich mit Ihnen teilen, so wird sich trotzdem die objektive Wahrscheinlichkeit, dass es morgen in Bangkok schneit, von der Null nicht wegbewegen. Anders an der Börse: Hier spielt das, was nicht der Fall ist, aber von Leuten geglaubt, gehofft oder befürchtet wird, eine größere Rolle als das, was der Fall ist. Ja, für den Analysten geht es eigentlich nie um eine quasi objektiv naturwissenschaftlich orientierte Analyse von Fakten und deren Zusammenwirken, sondern darum, was bestimmte Fakten in den Gehirnen von Anlegern vermutlich auslösen werden. Wir sind eigentlich Psychologen, Psychopathologen, wenn Sie so wollen, Fachleute, wenn es um die Mechanik der Gier und des Geizes geht, aber auch und vor allem Experten für – die Dummheit.“

„Die Dummheit?“
„Wussten Sie, dass die sogenannte Asienkrise 97/98 zu einem beträchtlichen Teil auf Dummheit und Massenpanik beruhte? Es gab und gibt bei uns strukturelle Probleme, keine Frage. Fehlinvestitionen, Überschuldung, Korruption, zuviel Intervention durch die Politik. Aber diese Tatsachen waren allen Beteiligten schon vor 97 bekannt und nicht nur das: Die enge Verflechtung von Wirtschaft, Finanz und Politik wurde vor der Krise im Westen als Erfolgsgeheimnis der asiatischen Form des Kapitalismus ausgewiesen, als eine neue Möglichkeit, eine Wirtschaft effektiv und mit vereinten Kräften zu steuern, die dem trägen, transparenten, demokratischen Modell des Westens überlegen sei. Ich habe das hundertmal in Analysen der besten westlichen Zeitungen gelesen. Vor 97. Dann stürzte der thailändische Baht ab und eine rätselhafte Panik überzog die gesamte Region bis nach Südkorea. Wissen Sie, wenn in Italien aufgrund einer hausgemachten Korruptionsaffäre die Börse einbricht, so wird die Wiener Börse davon nicht viel spüren, obwohl Österreich und Italien Nachbarländer sind, nicht wahr? Es gibt einfach zwischen den beiden Kapitalmärkten keine Verflechtungen, die eng genug wären, um die Wiener Börse in die Krise mitzureißen. Und sogar ein amerikanischer Fondsmanager aus Texas, der in Rom und in Wien investiert, wird sein Geld nicht aus Wien abziehen, nur weil er es aus Rom abzieht. Er wird sich denken: Austria is not Italy and Italy is not Austria.“
„So ähnlich.“
„Für Südostasien gilt das nicht. Als die Währungskrise über Thailand hereinbrach, zogen die Investoren das Geld nicht nur aus Thailand ab, sondern schlagartig auch aus Malaysia, Indonesien, den Philippinen, Südkorea und Singapur. Einfach aus Vorsicht, weil man ja nie wissen kann, oder vor allem: weil man nichts weiß und nicht weiß, dass es sich bei diesem Geschmeiß mit Schlitzaugen durchaus um unterschiedliche, selbständige Nationen und Märkte handelt. So breitet sich eine Krise aus, verstehen Sie? Und dann schreiben die Blätter von den Strukturproblemen der Tigerstaaten und verordnen uns naseweis Reformprogramme, damit wir das gottverdammte Vertrauen westlicher Investoren wieder zurückgewinnen.“

Er hielt inne und schaute mich wütend an. „Merken Sie eigentlich gar nichts?“, fragte er und steckte, ja eigentlich – rammte sich eine Zigarette in den Mund.
„Wie meinen Sie das?“
„Sie warten hier auf eine Einschätzung des thailändischen Aktienmarktes und Sie bekommen sie nicht. Fällt Ihnen das nicht auf?“
„Ich bin geduldig, wie Sie sehen.“
„Sie riefen gestern an und ich sagte, ich hätte keine Zeit, Sie sagten, Sie kämen nur für kurze Zeit, ich sagte, meinetwegen, kommen Sie. Vorhin sagte ich der Sekretärin abermals, ich hätte keine Zeit, aber Sie ließen sich nicht abwimmeln, dann beleidigte ich ihr Heimatland Österreich, wirklich ein verrücktes Land, entschuldigen Sie, aber Sie gingen nicht, dann philosophierte ich kreuz und quer durch die Gegend, nur um nicht auf Ihre Fragen einzugehen, aber Sie blieben geduldig sitzen. Soll ich Ihnen etwas verraten: Ich hasse die Medien, ich hasse die Journalisten, mehr als alles andere auf dieser Welt und Sie können hier auf ein beschissenes Statement über die Börse in Thailand so lange warten, bis Sie so schwarz sind wie ich!“

Ich nahm mir, ohne zu fragen, eine Zigarette. „Ich fand das nicht so uninteressant, was Sie sagten. Als tieferen Grund für den eigentümlichen Gesprächsverlauf nahm ich an, entschuldigen Sie, dass Sie eben verrückt seien wie so viele Leute.“
„Sie sitzen hier wie ein Unschuldslamm und schauen mich groß an. In Wahrheit bedienen Sie eine Dreckschleuder, jawohl! Wir sagten vorhin, dass sich der Kapitalmarkt mit einem Gedicht vergleichen ließe. Der Vergleich hinkt an einer bedeutenden Stelle. Ich weiß nicht, ob es einen Sinn hat zu sagen, dass Dichtung Wahrheit enthält, weil der Begriff der Wahrheit, der eigentlich ein logischer und kein metaphysischer ist, dadurch obskur wird, nicht wahr? Aber es ist so, dass die Lektüre Hölderlins meine Seele reinigt und glättet und mich froh macht wie ein langes, tiefes Zwiegespräch mit Gott. Es liegt etwas Erhabenes in diesen Gedichten, tatsächlich. Im Kapitalmarkt ist nichts Erhabenes, hier werden Lügen und Gerüchte und Halbwahrheiten und Fehleinschätzungen verdichtet. Und wer ist schuld daran? Zu einem beträchtlichen Teil: ihr Journalisten! Leider ist die Welt so kompliziert geworden, dass ich nicht einfach auf die Straße gehen kann, um mich mit eigenen Augen jener Fakten zu vergewissern, die für mich gerade wichtig sind. Will ich den Zustand dieses oder jenes Unternehmens oder dieser oder jener Volkswirtschaft kennen, so muss ich mich auf dieses oder jenes Medium verlassen, das über dieses oder jenes Unternehmen oder diese oder jene Volkswirtschaft berichtet. Praktisch alle Informationen, die für die Anleger relevant sind, gehen durch den Filter von Medien und Nachrichtendiensten und werden da kräftig verfälscht. Journalisten verstehen meistens von dem, was sie schreiben, gar nichts und sind vollkommen auf ihre Informanten angewiesen. Du rufst bei einem Analysten an und fragst ihn etwas. Der hat eigentlich davon keine profunde Kenntnis, sagt aber etwas, um etwas gesagt zu haben, oder lügt wissentlich, weil das Unternehmen, über das er spricht, vielleicht in irgendeiner Geschäftsbeziehung zu der Bank steht, für die er arbeitet. Der Journalist, der Esel, sitzt da, hört zu, genau wie Sie hier, lässt den größten Unsinn kenntnislos über sich ergehen, trägt alles brav niedergeschrieben nach Hause und zimmert seine Story daraus. Und die Leute glauben selbstverständlich, was in der Zeitung steht. In Wirklichkeit ist aber alles Unsinn, was geschrieben wird, fast alles Unsinn, selbst in den besten Zeitungen!“

Er stand auf. Rachamai war längst zum Schreien übergegangen. Vorübergehende Mitarbeiter nahmen seinen Wutanfall nicht zur Kenntnis, als geschähe nichts Besonderes. „Das gesamte System ist mit Lügen verstopft!“, brüllte er. Er stieß Papiere und Broschüren und Zeitungen und Bücher von seinem Schreibtisch. „Lügen!!! Überall! Sie werden arglos verbreitet oder wissentlich, dann weiterverbreitet und wiedergekaut, bis der Ursprung unklar und die Lüge zur selbstverständlichen Annahme geworden ist. Und darauf werden dann von Leuten wie mir Analysen aufgebaut, die vollkommen falsch sind, falsch sein müssen und dann werden Anlegerentscheidungen getroffen, die vielleicht auch falsch sind, aber weil viele sie treffen, stellen sie sich als richtig heraus, weil sie Geld einbringen und die Kurse nach oben treiben, ohne dass es dafür eine realwirtschaftliche Grundlage gibt. Der ganze heillose New-Economy-Boom hat nach diesem Prinzip funktioniert!“

Er hielt inne, setzte sich und wischte sich mit einem altmodischen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Ramachai atmete heftig und wirkte alt. „Ich sagte, ich komme aus dem Kaschmir, aus dem Hochgebirge. Ich wuchs in einer wundervollen, heilen Welt auf. Mein Vater machte nach 1949, als Indien und Pakistan geteilt wurden, ein kleines Vermögen, weil indische Truppen in unserer Gegend stationiert wurden, deren Lebensmittelversorgung er organisierte. Mit dem Geld ließ er mich Philosophie und Wirtschaft studieren, mit dem Ergebnis, dass ich es hier mit Bergen von Schmutz zu tun habe. Die Lüge hat auf dem Kapitalmarkt eine sonderbare, dämonische Eigendynamik entwickelt. Dass das Ganze funktioniert, ist das Rätselhafte. Kennen Sie die ‚Wildente‘ von Ibsen? In dem Stück wird gezeigt, wie die Existenz eines Menschen zusammenbricht, dem man die Lebenslüge nimmt, indem man ihn über die Wahrheit aufklärt. Die Lüge wird in dem Stück als etwas Lebensnotwendiges dargestellt, das man dem Menschen nicht einfach scheinheilig entreißen darf. Mich hat diese Vorstellung der Funktionstüchtigkeit, ja der Notwendigkeit der Lüge in meiner hochherzigen Jugend, als ich dieses Stück las, zutiefst angewidert. Aber auf dem Kapitalmarkt habe ich sie bestätigt gefunden. Ja, Ibsen hatte recht! Denn wenn alle Leute auf dieser Welt wüssten, was in unserer Branche gelogen und geschoben und betrogen wird, würden alle Börsen und Banken und das gesamte Finanzsystem schlagartig zusammenbrechen, weil keiner mehr einen Cent in dieses Drecksloch stecken würde. Schlagzeile: Vertrauenskrise. Dann können die Medien darüber schreiben, durch welches Fünf- oder Siebenpunkteprogramm das Vertrauen der Anleger wieder zurückgewonnen werden kann! Viel Vergnügen, ihr Arschlöcher!“ Er lachte laut, zerriss einige Papiere und warf die Schnitzel in die Luft.

„Nur wird die Lüge nie vollständig aufgeklärt werden können, weil sie nie vollständig nachgewiesen werden kann beziehungsweise dieser Nachweis niemals allseits akzeptiert würde. Der Betrieb wird nie restlos zusammenbrechen und immer irgendwie weiter gehen. Es ist wie mit dem Straßenverkehr hier in Bangkok. Es gibt wenige Regeln, noch weniger Menschen, die sie kennen, und keiner hält sich an sie. Trotzdem wälzen sich jeden Tag Millionen von Autos durch die Straßen, langsam, ächzend, stotternd, stinkend. Das Ganze funktioniert, schlecht aber doch irgendwie. Eigentlich faszinierend. Apropos Straßenverkehr: Haben Sie Lust auf eine Nudelsuppe? Ich lade Sie ein. Für heute mache ich Schluss.“
„Gut.“
Ich schaltete das Diktiergerät ab.

Es war schon Abend geworden, als wir auf die Straße hinaus traten. Die Rushhour war in vollem Gang, die Autos standen und ein vielschichtiges Hupkonzert schallte durch die Straßen. Manche der Beiträge waren rhythmisch so ausgefeilt, dass sie sehr viel Übung verrieten. Ramachai bewegte sich tänzerisch, querfeldein durch die aufgefädelten Kolonnen und hielt an einem kleinen Stand am Straßenrand. Wir setzten uns auf die wackeligen Hocker und bekamen schon nach wenigen Minuten zwei Töpfe mit Nudeln vorgesetzt, dazu bestellte Ramachai eine große Flasche Bier und zwei Gläser. Als ich mit dem Essen beginnen wollte, stoppte mich der Koch aufgeregt und schrie: „Kun! Kun!“
„Er meint, Sie müssen die Suppe umrühren, dann schmeckt sie besser!“
Ich steckte die Chopsticks in die Schüssel und holte zum kräftigen Umrühren aus, als mich diesmal Ramachai unterbrach.
„Wie, glauben Sie, verändert sich die Position sämtlicher Nudeln im Topf, wenn Sie einmal mit den Stäbchen
im Uhrzeigersinn kräftig umrühren?“
„Die Position der Nudeln wird schon sehr bald unwichtig gewesen sein, weil ich sie aufessen werde, restlos“, entgegnete ich.
„Sub specie aeternitatis gilt das gleiche für alle Bewegungen an den Börsen“, sagte Ramachai und begann mit dem Essen.

Der Verkehr ringsherum bewegte sich keinen Millimeter.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.