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„Ich habe die Gefahr auf die Bühne gebracht.“

Marina Abramovic, Grande Dame der Performance-Kunst, gastierte im September 2002 auf Einladung der Klangspuren Schwaz und des Festivals Transart in Südtirol. Die Festung Franzensfeste war Schauplatz eines Gespräches, das der in Berlin lebende Regisseur Werner Heinrichmöller mit der Künstlerin führte: über Schüchternheit und Blöße, Angst und Kontrolle und eine Art, das Schwimmen zu lernen.

Werner Heinrichmöller: Sie sprechen oft darüber, wie es ist, Leere zu empfinden. Sie brauchen diese unendliche Leere, diese innere Wüste, sagen Sie, nichts soll festgelegt sein, bevor Sie zu arbeiten beginnen. Ihre Performance gestern war eher statisch, wie eine lebende Skulptur. Heutzutage sind die Leute jedoch an kurze Schnitte, Action, Videoclips gewöhnt. Sie nehmen da eine extrem gegenteilige Position ein, indem Sie mehr oder weniger jede Bewegung verweigern. Ist das nicht gefährlich? Viele Zuschauer werden vielleicht nervös oder langweilen sich, anstatt zur Ruhe zu finden. Das ist die eine Frage. Die andere ist: Welche Methoden entwickeln Sie, um diesen Zustand der kompletten Leere zu erreichen?

Marina Abramovic: Der moderne Mensch hat seinen Mittelpunkt verloren. Und zwar vollkommen. Wir leben in einer „Zapping-Kultur“, wir sitzen auf der Couch und schalten von einem Programm auf das andere. Wir zappen durch das Leben und durch den Tag. Wir halten nie inne. In unserer Kultur ist Nichtstun mit enormen Schuldgefühlen verbunden. John Cage war einer meiner wichtigsten Lehrer und er hat gesagt: „Es ist äußerst wichtig, zu dem Punkt zu gelangen, an dem man sich langweilt, und dann über diesen Punkt hinauszugehen. So erreicht man eine andere Dimension.“ Das bedeutet, ruhig sein – nichts tun und der Stille zuhören. Und genau das vermeiden wir immer. Wir wollen den Film in unserem Inneren nicht sehen. Wir wollen nur von dem Film aus der Außenwelt unterhalten werden. Es gibt keine Entwicklung und das Leben wird zum Fragment. Ich habe jetzt mehr und mehr das Bedürfnis, ausgedehnte Performances zu machen. Die gestrige dauerte nur 24 Minuten, doch jetzt werde ich ein Stück in New York machen, das 12 Tage und 12 Nächte lang sein wird. Ohne Unterbrechung. Durch eine solche Long-Process- Performance gelangen wir in eine andere Dimension von Zeit. Und wenn man diese andere Dimension erreichen will, muss man sich wirklich anstrengen. Wissen Sie, ich bin immer wieder in die Wüste gegangen, denn Wüsten sind der beste Ort, um sich mit sich selbst zu konfrontieren. Dort gibt es ein Minimum an Reizen. Das Stück, von dem ich gesprochen habe, wird am 16. November in New York starten, es heißt „A House with Ocean View“. Es gibt aber gar keinen Blick aufs Meer. Das ist eine Metapher. Das Meer ist in unserem Kopf, und diesem Meer müssen wir gegenübertreten. Ich habe drei verschiedene Schachteln, die wie sehr große Schuhkartons aussehen und zum Publikum hin offen sind. In einer Schachtel ist ein Bett, in der anderen ein Stuhl und in der dritten eine Dusche und eine Toilette. Und dann gibt es Leitern, die in den Raum hinunterführen, doch die Tritte der Leitern sind aus Messern gemacht, so dass man nicht hinauf- oder hinuntersteigen kann. Im Raum gibt es ein sehr großes Teleskop. Die Leute können das komplette Bild sehen, sie können aber auch das Teleskop verwenden, um meinen Körper zu vergrößern wie eine Galaxie und jeden Millimeter betrachten zu können. Ich werde die ganze Zeit lang, 12 Tage, nichts essen. Ich werde nur Wasser trinken, das aus einem kleinen Rohr kommt. Die Idee des Stückes ist, dass ich mich selbst reinige, im puren Sinn des Wortes, und ich möchte zeigen, wie dieses gereinigte Ich meine eigene Energie verändern kann und wie meine Energie die Energie des Raums verändern kann und wie die Energie des Raums das Publikum verändern kann.

H.: Wie lange beherrscht bei einer solchen Performance der Gedanke an Essen Ihr Denken?

A.: Höchstens die ersten vier Tage, danach ändert sich das, und dann ist es sehr wichtig, auf die andere Seite zu gelangen. Um dorthin zu kommen, braucht es Zeit. Das Publikum kann mit mir in diesen Bereich vordringen. Der Künstler ist eine Antenne der Gesellschaft, ihr Sauerstoff. Deshalb muss er gewisse Dinge aufzeigen, und das ist meine Funktion. Wissen Sie, was Soziologen herausgefunden haben: Die längste Zeitspanne, innerhalb der wir uns noch konzentrieren können, liegt bei 30 Sekunden – wie ein Werbespot von Coca Cola. Früher waren es 15 Minuten.

H.: In den 50er-Jahren lachten die Leute in Deutschland durchschnittlich 12 Minuten am Tag. Wissen Sie, wie lange wir heute lachen? Ungefähr vier Minuten. – Aber wir haben noch eine Frage offen …

A.: Richtig. Ihre zweite, eingangs gestellte Frage bezog sich auf meine Vorbereitung. Ich präpariere mich nicht. Ich konzentriere mich nur darauf, am Beginn der Performance in eine andere Dimension einzutreten. Das ist alles. Man tritt aus seinem privaten Ich in das Ich der Performance, weiter nichts.

H.: Sie lassen völlig los.

A.: Ich denke immer an Maria Callas. Sie hat gesagt: Wenn man auftritt, muss man darauf achten, dass ein Teil des Gehirns völlig loslässt, während der andere Teil absolute Kontrolle ausübt.

H.: Ich erinnere mich an Ihre Performance „Rest Energy“. Sie hielten den Bogen und Ulay, Ihr damaliger Partner, zog an der Sehne; der Pfeil war auf Ihr Herz gerichtet.

A.: Die Grundlage dieses Stücks ist das Vertrauen. Denn wenn einer von uns sich bewegt, bin ich tot. Ulay wurde gefragt: Warum zielen Sie nicht auf Ihr eigenes Herz? Er antwortete, dass er nicht auf sein Herz zielen müsse, weil mein Herz auch seins sei. Das war also wirklich eine gute Antwort.

H.: Im Talmud steht etwas über die sogenannte „Gabe der Engel“, womit eine besondere Fähigkeit gemeint ist: zu handeln, bevor man weiß. Sie besitzen offensichtlich diese Gabe.

A.: Das ist sehr wichtig, denn ich will in unbekanntes Terrain vordringen. Ich habe die Gefahr auf die Bühne gebracht, die Angst. Ich öffne mich ganz, um diese Erfahrung machen zu können, also weiß man nicht, was passieren wird. Ich habe auch die Performance mit den Schlangen nie geprobt. Das ist verrückt, denn fünf Minuten vor der gestrigen Performance hielt ein Mädchen die Schlange und wurde zwei Mal unter dem Auge in die Wange gebissen. So etwas lässt sich nicht vorhersehen. Und es ist wichtig, dass es nicht vorhersehbar ist.

H.: Ist so etwas je bei „Dragon Heads“ passiert?

A.: Ich wurde nie gebissen. Es war schlimmer. Ich hatte eine riesige, 20 Kilo schwere Schlange um den Hals. Sie rutschte weg und schlang sich um meine Kehle. Eine sehr gefährliche Situation. Das heißt nicht, dass sie einen töten will, aber sie glaubt, man sei ein Baum oder so etwas.

H.: Gibt es niemanden mit einer Waffe, der Sie retten könnte?

A.: Nein, in einem solchen Moment darf man eine Schlange nicht berühren. Man muss sich total entspannen, aber gleichzeitig ist man in Panik, der Puls rast und die Schlange wird nervös. Also muss man lernen, sich trotz Panik zu entspannen, und das ist interessant.

H.: Also könnte man sagen, dass Sie eigentlich gegen Ihre Überzeugung leben: Der vernünftige Mensch konfrontiert sich ja nicht selbst mit Angst. Sie aber katapultieren sich absichtlich in gefährliche Situationen.

A.: Ja, aber der Unterschied ist, dass wir im Leben ja wirkliche Unfälle und Tragödien erleben und darauf überhaupt nicht vorbereitet sind. Indem ich die Gefahr auf die Bühne bringe, lerne ich, damit umzugehen. Das ist der große Unterschied. Ich warte nicht darauf, dass mir ein Unfall passiert. Ich habe die Kontrolle. Ich muss Valie Export zitieren. Sie hat gesagt: „Wenn ich mir selbst Schmerzen bereite, um mich von der Angst vor Schmerzen zu befreien, dann ist der Schmerz okay.“ Das ist es. Wir machen das nicht aus masochistischen oder exhibitionistischen Gründen.

H.: Es gibt einige Künstler, die versuchen, die Menschen zu schockieren. Haben Sie vor drei Monaten bei der Ausstellung „KUNST-WERKE“ in Berlin auch diese brutale Videoinstallation mit wütenden, beißenden Kampfhunden gesehen?

A.: Von dem mexikanischen Künstler? Ja, die habe ich gesehen.

H.: Ich war mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, auf diese Weise zu provozieren.

A.: Das ist eine interessante Frage. In meinem Fall würde ich niemanden – nicht das Publikum, nicht meine Studenten – in diese Lage bringen. Ich muss nur für mich verantwortlich sein. … Aus ethischen Gründen kann ich so etwas nicht erlauben. Wir könnten diese Frage auch Toscani, dem Benetton-Fotografen, stellen.

H.: Sie haben nie live auf der Bühne ein Tier geschlachtet wie Otto Mühl in den 60er- und 70er-Jahren? A.: Ich habe 1975 an einer Nitsch-Performance in Prinzendorf teilgenommen, weil es mich interessierte, bei der Arbeit eines anderen dabei zu sein. Das Schaf lag auf einer Bahre, ich hatte fünf Kilo Schafdärme auf meiner Brust und ich weiß nicht wie viele Liter Blut. Das Stück sollte 24 Stunden dauern. Sie wissen schon, all diese Rituale. Doch nach zwölf Stunden hörte ich einfach auf. Ich hatte keine Motivation mehr.

H.: Waren Sie in Ihrer Jugend schüchtern? A.: Sehr! Ich konnte nicht einmal eine Straße entlang gehen, wenn jemand hinter mir ging, weil ich Angst hatte hinzufallen. Ich musste stehenbleiben.

H.: Also führten Sie ein zweites Leben in Ihrer Phantasie, um durchzukommen.

A.: Ich glaube, nicht nur ich bin so. Es gibt viele schüchterne Leute, die sich bewusst extrovertieren und Performances machen, um die Schüchternheit zu überwinden. Ich war extrem schüchtern. Ich weigerte mich zu laufen, bis ich vier Jahre alt war. Ich wollte einfach nicht gehen, ich war immer in der Ecke eines Zimmers.

H.: Sind Sie in den Kindergarten gegangen?

A.: Ja, in den französischen Kindergarten. Meine Mutter hat mich hineingesteckt. Ich hatte keine Wahl.

H.: Haben Sie sich dort fremd gefühlt?

A.: Ich glaube, ich hatte dort nie Freunde. Ich hatte nie Puppen oder etwas zum Spielen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Spielsachen hatte. Ich kroch immer unter eine Decke im Bett und spielte mit dem Schatten, wenn das Licht durch die Decke kam. Auch später blieb das so: Ich konnte nicht vor einer größeren Anzahl von Leuten sprechen. Ich war extrem schüchtern. Ich erinnere mich an eine lustige Geschichte, als ich mit zwölf die Präsidentin des Schachklubs war. Unsere Schule musste simultan gegen viele andere Schulen spielen ... und dann haben wir gewonnen. Ich war Präsidentin und musste auf die Bühne gehen. Als Preis bekamen wir acht Schachbretter. Also ging ich voller Angst auf das Podium, schüttelte die Hand des Rektors und dieses Ekel gab mir acht Schachbretter, die riesengroß waren. Ich umklammerte sie und dann fiel ich einfach mitten auf der Bühne hin! Die Schachbretter lagen überall herum und die ganze Schule lachte wie verrückt. Danach weigerte ich mich einen Monat lang, aus dem Haus zu gehen oder mit Leuten zu reden.

H.: Und Sie haben diesen Vorfall später nie in einer Performance verwendet?

A.: Noch nicht.

H.: Haben Sie je dieses Gefühl von Befangenheit verspürt – in dem Sinn, dass man zu sehr darauf achtet, wie man wirkt? Als ich Ihre Performance mit dem Ventilator sah, ...

A.: ... „The Rhythm Four“...

H.: … ja, da hielten Sie Ihr Gesicht in den Ventilator und atmeten so viel Luft ein, wie Sie konnten. Für mich war das, als ob das Gesicht von seiner Befangenheit befreit werden sollte.

A.: Nein, das war nicht die Absicht. Meine Absicht war herauszufinden, wie ich die Performance unter Ausschaltung des Bewusstseins machen kann. Ich wurde tatsächlich bewusstlos. Das Publikum hat das nicht bemerkt, weil durch den Ventilator das Gesicht immer noch bewegt wurde. Meine Idee war also, meinen Körper so weit zu bringen, dass es gleichgültig ist, ob man bei Bewusstsein ist oder nicht – die Performance geht weiter. Noch niemand war wirklich in diesen Bereich vorgedrungen, ich war die erste, glaube ich. Das geschah durch Zufall, denn in einem anderen Stück („Rhythm Five“) bekam ich, als ich am Boden innerhalb des brennenden Sterns lag, zu wenig Sauerstoff und wurde bewusstlos. Die Zuschauer griffen ein, ich war sehr wütend, denn dadurch wurde das Stück unterbrochen. Danach machte ich zwei andere Performances mit psychedelischen Drogen. Ein Teil meines Bewusstsein war sehr klar, doch im anderen Teil war ich sechs Stunden lang völlig weggetreten. Ich grinste nur dumm vor mich hin und war überhaupt nicht da. Trotzdem machte ich weiter.

H.: Hatten Sie die Wirkung der Drogen vorher ausprobiert?

A.: Nie. Ich bin absolut gegen Drogen.

H.: Als Sie damals das Bewusstsein verloren – entstanden da irgendwelche Bilder oder Träume, an die Sie sich später erinnern konnten?

A.: Nein, eigentlich nicht. Ich war einfach leer. Ich hatte ein viel stärkeres Erlebnis in Australien bei den Aborigines – ohne Drogen. Denn die Aborigines nehmen keine Drogen. Ich habe ein Jahr bei ihnen gelebt. Es war extrem heiß, 55° C in der australischen Wüste. Die Hitze ist so groß, dass sie dich wie eine heiße Wand umschließt. Diese heiße Wand drosselt das Lebenstempo auf Null. In diesem Zustand sieht man dreidimensionale Bilder, die in der Zukunft passieren werden. Ich habe in nur eine Richtung geschaut, hatte aber ein Blickfeld von 360 Grad. Ich konnte alles sehen, was hinter mir passierte. – Ich bringe meinen Studenten bei, sich innerhalb von einer Stunde in diesen Zustand zu versetzen. Das ist eine Frage der Konzentration.

H.: Bei der Hitze in der australischen Wüste fällt mir die Geschichte von Bulgakow ein, die Sie in einem Interview erzählt haben.

A.: Ja, das ist wirklich eine verrückte Geschichte, wie Bulgakow gestorben ist. Er hatte eine der merkwürdigsten Krankheiten, die es gibt. Sein Körper brachte die Körpertemperatur vollkommen durcheinander und er bekam so hohes Fieber, dass sein Gehirn praktisch kochte. Das ist eine der Krankheiten, die von einer Milliarde Menschen nur einer bekommt. Das kann nur einem Russen passieren.

H.: Praktizieren Sie transzendentale Meditation oder Yoga?

A.: Wissen Sie, ich bin eine der irregulärsten Personen, die Sie je getroffen haben. Ich kenne keine Regelmäßigkeit. Ich mache die Dinge nur im Augenblick. Es gibt Zeiten, in denen ich überhaupt nichts tue, und dann gibt es Phasen, da mache ich alles. Ich fahre jedes Jahr zu einem Ayurveda-Kurort in Sri Lanka oder Indien. Und ich verbringe viel Zeit in einem tibetanischen Kloster. Man lebt dort exakt nach dem vorgegebenen Tagesplan der Mönche. Aufstehen um vier Uhr früh, meditieren usw.

H.: Ich habe gelesen, dass David Lynch transzendental meditiert und dass er unter anderem so zu den merkwürdigen Visionen und Bildern seiner Filme kommt. Haben Sie jemals ein Drehbuch für einen Spielfilm geschrieben?

A.: Nein, aber ich träume davon. Ich filme ziemlich viel. Eines Tages werde ich mich hinsetzen und das ganze Filmmaterial und all die Landschaften, in denen ich gewesen bin, zu einem gigantischen, bizarren Film zusammenschneiden.

H.: In Mozarts Zauberflöte kommt die berühmte Wasser- und Feuerprobe vor. Gesetzt den Fall, Sie würden einen Film drehen: Wie würden Sie die Wasserprobe inszenieren?

A.: Ich würde wieder auf meine eigene Erfahrung zurückgreifen: wie mein Vater mir das Schwimmen beigebracht hat. Mein Vater ruderte mit einem Boot mitten aufs Meer hinaus und warf mich ins Wasser. Dann ruderte er einfach weiter, ohne zurückzublicken. Ich dachte: Er muss doch zurückschauen! – denn ich war am Ertrinken. Ich tauchte auf und ab, auf und ab.

Er blickte nicht zurück.

H.: Wie alt waren Sie?

A.: Sechs. Ich dachte, er muss doch zurückschauen … ich schrie; aber er ruderte einfach weiter. Schließlich hielt er an, ohne auf mich zu achten. Ich wurde so wütend, dass es mir gelang, bis zum Boot zu schwimmen. Das war eine unglaubliche Erfahrung.

H.: Und er hatte Ihnen vorher nicht das Schwimmen beigebracht?

A.: Er hatte es versucht, aber ich habe mich geweigert.

H.: Sind Sie in einem religiösen Umfeld aufgewachsen?

A.: Ja, orthodox. Ich bin – wie Sie wissen – in Jugoslawien groß geworden. Mein Großvater war ein Heiliger, und meine Mutter und mein Vater waren Kommunisten. Ich komme aus einem sehr widersprüchlichen Umfeld. Ich spielte meine ganze Kindheit lang mit meiner Großmutter in der Kirche und meine Eltern
waren immer bei Parteiversammlungen.

H.: Bedeutet orthodox zu sein, auch zur Beichte zu gehen wie die Römisch-Katholischen?

A.: Nein, ich bin nie zur Beichte gegangen. Mir ging es nur um die Gesänge und die Gerüche. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich das ganze Weihwasser in der Kirche ausgetrunken. Ich dachte, ich würde heilig werden, wenn ich dieses Wasser trinke. Stattdessen bekam ich aber nur Durchfall.

H.: Das war Ihre erste Performance.

A.: Ja, das ist richtig.

H.: Wenn ich mir die Bilder von Ihrer Performance „Nightsea Crossing“ anschaue und Sie da nackt vor dem Publikum sehe, frage ich mich, wie Sie das schaffen, wo Sie doch schüchtern sind.

A.: Privat bin ich wirklich schüchtern, auch in einer Beziehung ist das für mich schwierig. Doch bei einer Performance ist der Körper wie ein Werkzeug; er ist wie der Pinsel für den Maler. Man arbeitet mit seinem Körper, um eine Botschaft zu vermitteln.

H.: Es gibt eine Performance mit Ulay: Er liegt auf dem Boden mit einem erigierten Penis, Sie sitzen hinter ihm und haben überhaupt keine Beziehung zu ihm. Daran ist nichts Pornografisches, aber es ist trotzdem schockierend, weil die Atmosphäre so statisch ist. Normalerweise betrachtet man eine Erektion oder die Sexualität als etwas Dynamisches.

A.: Sie haben den ersten Teil vergessen. Die Installation hat zwei Teile. Zuerst geht man in einen Raum und sieht einen riesigen, sich drehenden Propellerflügel, der von einer Seite der Wand zur anderen geht. Also kann man in den Raum nicht hinein, sonst könnten einem die Beine abgeschnitten werden. Hier haben wir eine völlig mechanische Energie, etwas, das immer weiterläuft. Dann geht man auf die nächste Ebene hinauf und man sieht menschliche Energie in einer statischen Position: Man sieht Ulay, der am Boden liegt und an die Decke schaut, und ich sitze da und schaue zur Wand. So entsteht ein Kreuz. Dieser Raum ist von menschlicher Energie erfüllt, der andere von mechanischer.

H.: Wir haben über die Erektion gesprochen, jetzt möchte ich über die Resurrektion, die Auferstehung reden. In Ihrem Buch „Cleaning the House“ zitieren Sie einen ethnographischen Artikel, der von der Auferweckung der Toten in Tibet handelt: Der Medizinmann muss auf der Leiche liegen, ihr Atem einhauchen und dann einige magische Formeln sprechen. Dadurch wird die Leiche wieder lebendig und beginnt herumzuspringen, weil sie fliehen will. Um sie wieder in den Tod zurückzuführen, muss ihr der Medizinmann
die Zunge abbeißen.

A.: Es gibt da auch eine Kurzgeschichte von Albert Camus. Er verirrt sich in der Wüste und kommt in eine Stadt, in der alle Häuser aus Salz sind. Allen Menschen, die dort wohnen, wurde die Zunge abgeschnitten. Dann schneiden sie auch ihm die Zunge ab. Das ist ein seltsames Bild – eine Stadt, in der niemand eine Zunge hat. Es hat mich verfolgt.

 

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