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Zwei Leben. Dem Sándor-Márai-Übersetzer Ernö Zeltner in Rettenschöss nahe Kufstein seine Aufwartung machen

Vielleicht sind das die Momente, um die es geht; vielleicht sind das die Augenblicke, die zählen; vielleicht tickt auch nur ganz einfach die Uhr zu laut. Von Georg Diez

Klonk, macht das Pendel, und wieder klonk. Es schwingt hin und her, hier unten in der Wirtsstube und zur gleichen Zeit auch oben in dem Haus am Rande von Rettenschöss. Das ist unser Wirtshaus, hatte Ernö Zeltner gesagt, als wir aus Rettenschöss hier herunter gefahren waren und vor dem Gasthof geparkt hatten, hier saßen wir damals, hatte er gesagt, und haben uns entschieden, dass wir hier leben wollen. Es sind gerade Wildwochen, wir essen also Hirschbraten mit Kartoffelkroketten und Knödel und Blaukraut und einem weichen Bratapfel an der Seite. Der Wirt setzt sich zu uns an den Tisch, ein dicker, mächtiger Mann, wir reden ein wenig über Politik und bleiben guter Laune, obwohl wir nicht einer Meinung sind. Dann steckt die Frau des Wirts ihren blonden Kopf zur Tür herein, fragt, wie der Mohnkuchen geschmeckt habe, den wir auch noch gegessen haben, und erzählt, dass jemand gestorben sei, den wir aber nicht kennen. Später ist noch Gemeinderatssitzung, sagt der Wirt und Bürgermeister, aber für uns gibt es einen Schnaps. Eine dickliche, braune Flüssigkeit, die nach Kräutern schmeckt und sich gut anfühlt nach dem schweren Essen. Kaiser Franz Joseph habe diesen Schnaps immer besonders gerne getrunken, sagt Ernö Zeltner. Seitdem heißt der Schnaps Unicum.

Klonk. Das Pendel teilt die Stille, es gliedert die Zeit. Der Rhythmus ist der gleiche, hier unten im Tal und oben im Dorf; die Zeit ist es nicht. Wir trinken noch einen Schluck Schnaps. Der Schnaps ist der gleiche, damals im Kaiserreich und heute in der Wirtsstube; die Zeit ist es nicht. Auf Ihr Wohl, Herr und Frau Zeltner. Die Stube ist verziert mit alten Holzschnitzereien, an der Wand hinter dem Kachelofen ist eine Berglandschaft aufgebaut mit kleinen Kühen, die im Frühjahr auf die Alm laufen, wo sich die Blicke weiten und auch die Stunden und Minuten, und nach dem Sommer wieder herunter. Heute zuckeln sie ins Tal.

Der Herbst hat seine Feuchtigkeit geschickt, die Nässe sucht sich ihren Weg. Hinter den Bergen glänzt das Sonnenlicht fahl, oben ist der erste Schnee gefallen, die Bäume stehen kahl an den Wiesen. Der dunkle Inn, Scheunen, Kirchtürme, Hügel. Aus dem Tal windet sich die Straße hinauf, graue Häuser, Nebel hängt über den Wiesen. Eine Kapelle, eng gedrängt an die Volksschule und das Gemeindeamt. Schneereste am Straßenrand; die Wiesen sind noch grün. Ein paar Zeilen von Sándor Márai auf dem Weg: „Morgen muß wieder geheizt werden. Dann muß man sterben. Komm, setzen wir uns in die Sonne hinaus – hörst du die Wespen summen? –, laß uns schweigen, Most trinken, lächle doch, schnell, laß uns leben.“

Wir haben tatsächlich Most getrunken, Ernö Zeltner, seine Frau Renate und ich, der Besucher, der etwas über sein Leben wissen wollte, ja, über Sie, Herr Zeltner. Und wie wir unten im Gasthof saßen, da näherten sich die beiden Figuren zum ersten Mal wirklich einander an, Sándor Márai und Ernö Zeltner, der Schriftsteller und sein Übersetzer; zwei in Ungarn Geborene, die ihr Land verließen; zwei, die sich im Leben wohl immer fremd geblieben wären; zwei, die sich in der Literatur getroffen haben. Am Vormittag, oben in Rettenschöss, hatte Ernö Zeltner von Márai gesprochen wie von einem großen Bruder, den er genau kennt, ohne ihm je begegnet zu sein, und es hatte den Anschein, dass Übersetzen eben bedeutet, an der Hand eines anderen, älteren durch den Nebel zu laufen, der das Leben ist; hier unten schien es nun so, als würden sie sich gegenseitig stützen, der längst verstorbene Literat und sein Geburtshelfer, als würden sie Schulter an Schulter durch die Landschaft der Imagination stapfen, schwankende Gestalten und dabei doch ihrer Richtung sicher.

„Wer bin ich? Was habe ich vor? Gegen wen, für wen will ich sein im Leben? Warum? Mit welchen Fähigkeiten, Instrumentarien, Mitteln, mit welchem geistigen Rüstzeug? Und was das Wichtigste ist: mit welchem Ziel?“ Das notiert Sándor Márai in seinen reflexiven Aufzeichnungen, die später mit dem Titel „Himmel und Erde“ veröffentlicht wurden. Die Wiederentdeckung des Werks des großen ungarischen Schriftstellers Márai ist sicher eine der literarischen Überraschungen der letzten Jahre; und Ernö Zeltner hat daran einen besonderen Anteil. „Das ist der Augenblick im Leben“, so geht der Eintrag von Márai weiter, „da man zu antworten hat. In dem eine Antwort erwartet wird, die Stille ist groß, dramatisch. Doch dann erfährst du, wirst du gewahr, daß man auf solche Fragen nicht mit Worten, sondern nur mit dem Leben antworten kann.“

Ernö Zeltner hat diese Zeilen, hat „Himmel und Erde“ übersetzt, das wie die anderen bislang auf Deutsch erschienenen Bücher Márais im Piper Verlag veröffentlicht wurde; er hat den heiter-melancholischen Roman „Ein Hund mit Charakter“ übersetzt und den autobiographisch gefärbten Roman „Die jungen Rebellen“ und außerdem eine Biographie über den bewunderten Landsmann geschrieben. Márais Durchbruch in Deutschland und sein wohl immer noch populärstes Buch hat er nicht übersetzt: „Die Glut“, der elegisch-altersweise Abgesang des damals 42-jährigen Márai auf das k.u.k.-Land seiner Jugend – 1998 in neuer Übersetzung erschienen, von Marcel Reich- Ranicki bejubelt und seither mehr als eine halbe Million mal verkauft. Eine Welt entsteht dort, die längst verweht war, zwei Leben kreuzen sich erneut, nachdem die Kraft der Lüge das Elend der Wahrheit nicht länger überstrahlen konnte. „Vier Tage blieben sie in der Stadt“, heißt es über die beiden Freunde, deren Leben die Liebe zur gleichen Frau spaltet. „Als sie abreisten, hatten sie zum ersten Mal im Leben das Gefühl, zwischen ihnen sei etwas geschehen. Als ob der eine dem anderen etwas schulde. Es war nicht in Worte zu fassen.“

Als Ernö Zeltner 1935 geboren wurde, da war Márai längst ein anerkannter Autor. Er war im Jahr 1900 in eine großbürgerliche Familie in Kaschau geboren worden, hatte erste journalistische Verwicklungen im revolutionsgebeutelten Budapest hinter sich, Studienjahre in Hörsälen und Kaffeehäusern in Leipzig, Weimar und Frankfurt, eine kurze Zeit in Berlin, erste Ehejahre mit seiner Frau Lola in Paris und seine Rückkehr nach Budapest 1928, er hatte viele Feuilletons, ein paar Romane und die autobiographischen „Bekenntnisse eines Bürgers“ veröffentlicht, hatte Hitler im Berliner Sportpalast erlebt und Thomas Mann die Hand geschüttelt. Ernö Zeltner ist in Ödenburg aufgewachsen, als Teil der deutschsprachigen Minderheit, die in der Stadt mehr als die Hälfte der Bewohner ausmachte. Seine Mutter konnte viele ungarische Gedichte auswendig, sagt er, „sie wusste etwas, ohne zu wissen, was es bedeutet“.

Als der Student Ernö Zeltner 1956 Ungarn verließ, da war der Bohemien und einst gefeierte Großschriftsteller Márai im dritten Stadium seiner Flucht; erst hatte er sich aus Protest gegen die deutsche Besatzung 1944 in sein publizistisches Schweigen zurückgezogen und war mit seiner jüdischen Frau aus Budapest hinaus aufs Land gezogen; 1948 dann bestieg das Symbol der liberal-konservativen Intellektuellen seines Landes den Arlberg-Express, um sich vor der kommunistischen Diktatur in die Emigration in die Schweiz und nach Neapel zu retten; und 1952 folgte schließlich die Schifffahrt, die das Ehepaar Márai mit ihrem Adoptivsohn nach Amerika brachte, wo sie erst in New York und später in San Diego lebten. Ernö Zeltner wurde nur deshalb nicht mit seiner Familie ausgesiedelt wie so viele andere nach dem Zweiten Weltkrieg, weil sein Vater in der staatseigenen Bergbauindustrie des benachbarten Brennberg arbeitete. Es waren nur ein paar hundert Meter von ihrem Haus zum Eisernen Vorhang, auf dessen anderer Seite, in einem Nachbardorf also und doch eine Welt entfernt, der Großvater lebte. Mit Wein haben sie damals die Grenzsoldaten bestochen, sagt Zeltner, um mit den Verwandten durch den Zaun hindurch zu reden. Der junge Zeltner schien durchaus privilegiert im Kommunismus, erst viel später erfuhr er aus Personalbögen, dass aus ihm in Ungarn wohl nichts geworden wäre. Er war kritisch gegenüber dem Regime dort, er blieb auch kritisch im Westen. Im Herbst 1956 wurde er als Dolmetscher an die Grenze nach Sopron geschickt; als die Panzer kamen, tat auch Ernö Zeltner den Schritt. „Manchmal wird das Werk von außen, von der Welt durchkreuzt“, schreibt Márai. „Verschließe dein Werk und dein Herz, sieh dich mit scharfem Blick um, befrage Herz und Vernunft. Die Welt läßt dich nicht los, mischt sich ein. Wehre dich, wenn du ein Dichter bist, bis ans Ende deiner Tage.“

Klonk. Ernö Zeltner sitzt an dem Tisch in dem großen offenen Wohnzimmer seines Hauses in Rettenschöss, vor sich einige der Bücher, die er übersetzt hat, an den Wänden hängen Bilder, deutscher Expressionismus und ein paar ungarische Maler. Ernö Zeltner ist ein freundlicher Mann mit leicht grauen Haaren. In Wien hat er nach 1956 Germanistik studiert, er war lange Jahre beim Duden-Verlag in Mannheim, dann bei Bertelsmann in Gütersloh, als der Firmen- Chef Mohn einen noch mit Handschlag begrüßte, und später in München als Chefredakteur des Mosaik- Verlages: Sachbücher, Ratgeber, „Das große Gesundheitsbuch“. Ende 1988 gingen er und seine Frau nach Rettenschöss, sie arbeiteten weiter für Bertelsmann, lektorierten, übersetzten. „Als Übersetzer wird man geboren“, sagt Zeltner. Er erfüllte sich damit einen Traum, die Arbeit wurde sein Schlüssel zur Literatur, ein Gegenleben, ein Wunschbild, ein „Dienst auch an der Heimat“ und damit ein Dienst in mehr als einer Hinsicht auch an sich selbst. Das sind die vielen Verschachtelungen im Leben, wo es meistens ein Vorher und ein Nachher gibt; zwei Leben, die immer zugleich eine aberwitzige Fülle anderer Leben in sich bergen. Auf der Kommode liegt ein Manuskript, es ist möglicherweise Zeltners nächstes Projekt. Das neue Buch des Nobelpreisträgers Imre Kertész.

Dass er Sándor Márai nie getroffen hat, sagt Ernö Zeltner, bedauert er. Am 22. Februar 1989 nahm sich Márai in San Diego das Leben. „Der Tod ist kein Problem“, schrieb er ein Jahr zuvor in sein Tagebuch. „Aber das Sterben.“ Und als eine seiner letzten Eintragungen: „L. fehlt mir heute sehr. Ihr Adel und die Vornehmheit ihres Körpers. Ihr Lächeln. Ihre Stimme.“

Draußen vor dem Haus der Zeltners in Rettenschöss steht der ungarische Hirtenhund, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Es ist eine Erinnerung. Aus Stein.

 

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