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Landvermessung
No. 1, Sequenz 1
Beschreibung Tirols entlang der Linie Piz Starlex–Tartsch–Matsch–Rappenspitze–Tascheljöchl–Schnalstal

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: Stefanie Holzer und Walter Klier folgen südlich des Alpenhauptkammes einer pfeilgeraden Linie, die vom äußersten Winkel des Südtiroler Vinschgaus zur Wallfahrtskirche von Obermauern im Osttiroler Virgental führt. Das erste Teilstück der nicht weniger als 11 Täler durchquerenden Reise birgt erstaunliche Erkenntnisse: Nicht nur Äpfel, auch Engel sind Modetrends unterworfen. Auf Höhenangaben in Landkarten ist wenig Verlass. Und: Ettore Tolomei hat an seinen Fingern gezuzelt.

Eingangsbemerkung

Einen Schnitt durch das Land zum Zwecke einer unkonventionellen, oder sagen wir besser, unüblichen Beschreibung legen – dazu hat der Auftraggeber der Landvermessung versucht, eine möglichst „interessante Linie“ zu finden. Diese beginnt an der Schweizer Grenze nahe dem Gipfel mit dem schönen Namen Piz Starlex und berührt in seinem Verlauf so bemerkenswerte Punkte wie die Andreas-Hofer-Kapelle bei St. Leonhard in Passeier und Maria Schnee in Obermauern im Osttiroler Virgental. Die Linie verlässt Osttirol knapp südlich des Großglocknergipfels, nachdem sie vorher noch die Stüdlhütte gestreift hat.

Wir stimmen mit dem Auftraggeber darin überein, dass die Vorgabe eines quasi abstrakten Formprinzips, hier der gedachten Linie, zu Ergebnissen führen kann, die sonst, über den Zugang, den man den konventionellen nennt, gar nicht erreichbar wären. Man denkt dabei an die Montagetechnik der klassischen Moderne, als man sich gern vorstellte, durch die Kombination von Nichtzusammengehörigem ungewöhnliche Zusammenhänge sichtbar machen zu können. Wir wollen allerdings nicht so weit gehen, die Begegnung der Nähmaschine und des Regenschirms auf dem Seziertisch – oder wie das einst mit verzücktem Augenaufschlag zitiert wurde – als Grundbedingung für das Zustandekommen von Schönheit aus der wohlverdienten Versenkung nochmals hervorzuholen …

Beschreibung der Linie

Verlauf in Sequenz 1: Piz Starlex–Tartsch–Matsch–Rappenspitze–Tascheljöchl–Vernagt; von 46°39’ n.B/10°24’ ö.L. bis 46°44’ n.B/10° und ein paar Zerquetschte „östlich von Greenwich“. Den Breitengrad als x-Achse betrachtend, verläuft die Linie in einem Winkel von ca. 16° nach Osten ansteigend. Tiefster Punkt Laatsch, 967 m, höchster Punkt Rappenspitze, 3.184 m. Vollständig erfasst auf dem Blatt WKS 2 Vinschgau–Ötztaler Alpen–Val Vernosta–Alpi Venoste der Freytag&Berndt-Wanderkarte 1:50.000.

Aus Gründen größerer Anschaulichkeit wird bei der
Beschreibung die Linie bis auf Weiteres als Korridor von einigen Kilometern Breite aufgefasst.

Grundsätzlich ist noch Folgendes zu bemerken: „Von der Größe eines Landes kann sich nur der einen richtigen Begriff machen, der den Maßstab versteht. Die Karten werden bekanntlich in einem bestimmten Verhältnisse zur Größe des Landes gezeichnet. Man sagt zum Beispiel, eine Karte ist im Maßstabe von 1 zu 200.000 gezeichnet, das will sagen, eine gerade Linie, vom Nordende zum Südende oder vom Ostende zum Westende des auf der Karte dargestellten Landes gezogen, ist 200.000mal kleiner, als eine solche Linie in der Wirklichkeit wäre. Deshalb sind zwei Orte, die bei genanntem Maßstabe auf der Karte nur 5 mm von einander abstehen, in Wirklichkeit 1 km voneinander entfernt. Auch die wirkliche Größe von Flächen kann man auf der Karte bestimmen. Ein quadratisches Blättchen von 5 mm Seitenlänge verdeckt auf der vorbeschriebenen Karte genau 1 km2 der wirklichen Größe; ein quadratisches Blättchen von 1 cm Seitenlänge deckt somit 4 km2 der Wirklichkeit.“1

Orte. Bericht von einer Reise aus dem Münstertal in den Vinschgau (Juni 2001): Müstair–Taufers im Münstertal–Laatsch–Mals–Tartsch–Glurns

Santa Maria ist der Hauptort des Münstertals, das topographisch besser zum Vinschgau passen würde. Direkt an der Grenze zu Italien steht das Kloster St. Johann, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit gezählt wird. Während Karl der Große 772 dabei war, im Verlauf von zwei Jahren das Langobardenreich zu erobern, gründete sein Vertreter, der Bischof von Chur, am Ausgang des Ofenpasses ein Herbergskloster. Damals waren die Menschen anscheinend noch ausschließlich mit wichtigen Dingen beschäftigt, also Kriegführen, Klostergründen, Kriegführen und so fort. Der Ortsname Müstair leitet sich von Monasterium, i.e. Kloster, her. Nach einer wechselvollen Geschichte zogen Benediktinerinnen in das Kloster ein, die bis heute in der karolingischen Kirche St. Johann Gott loben und, wenn dann noch Zeit bleibt, Trachten herstellen. Äbtissinnen haben der Klosterkirche St. Johann in Müstair immer wieder Anbauten hinzufügen lassen, die kompakt wirkende Klosteranlage ist also ohne vorausgehende Gesamtplanung über einen langen Zeitraum hin langsam gewachsen.

Besonders hinzuweisen ist neben den romanischen Fresken auf die in einem warmen Rotbraun gehaltenene Fresko-Malerei aus der Entstehungszeit der imposanten Hallenkirche mit den drei Apsiden; nicht alle Bilder sind deutlich zu erkennen. Die Fachwelt diskutiert bis heute, welche künstlerischen Vorbilder die Maler in Müstair für ihre zahlreichen Bilder vor Augen hatten: Der Kirchenführer nennt „byzantinische und apokryphe, spätrömische und frühmittelalterliche Vorbilder, indes keine irischen und merowingischen“, was wohl deshalb bemerkenswert ist, da doch Missionare aus dem Nordwesten Europas das Christentum in diese Gegend gebracht haben sollen. Alfred Tamerl, bekannt für sein Buch über Hrotsvith von Gandersheim, die nach seinen Erkenntnissen eine Fiktion der hochgebildeten Äbtissin der Klarissinnen, Caritas Pirckheimer, war (einer Schwester des Humanisten Willibald Pirckheimer), hat die Giotto-Fresken aus der Scrovegni-Kapelle in Padua als wahrscheinlichstes Vorbild identifiziert. Das Jesus-Kind auf der „Flucht nach Ägypten“ zappelt ähnlich lebhaft wie bei Giotto in den Armen seiner Mutter Maria. Damit würde die Entstehungszeit der Müstairer Fresken ins 12./13. Jahrhundert rücken.

Schon im Engadin und im Münstertal hatten wir Wasserzapfstellen am Straßenrand gesehen, die wir nun auch im Vinschgau wiederfanden. Bei näherer Betrachtung fanden sich diese merkwürdigen Dinger auch mitten in der Wiese – da fiel der Groschen: In dieser regenarmen Gegend im Inneren der Alpen werden auch die Wiesen bewässert.

In diesem Winkel Südtirols findet sich außerhalb von Burgeis das imposante Kloster Marienberg. Majestätisch über dem Tal aufragend verbirgt das im 12. Jahrhundert gegründete Kloster seine Schätze in der Krypta: Wir kamen eine gute halbe Stunde vor der ersten nachmittäglichen Führung an. Eine resolute Dame geleitete uns abwechselnd Deutsch und Italienisch parlierend in die Tiefen des Klosters hinab, wo die wunderbar farbintensiven romanischen Fresken zu bewundern sind. Die Wandmalereien haben sich deshalb so gut erhalten, weil im Barock, als man auch die Marienberger Kirche der landesweit und ziemlich flächendeckend durchgeführten ästhetischen Überarbeitung unterzog, die Krypta Begräbnisstätte für die Mönche war. Die Fresken wurden zum Teil gekalkt, zu einem anderen Teil wurden die Bilder durch Grabmauern verdeckt. Die Wiederentdeckung ging in Stufen vor sich: Als erstes hat Kaiser Joseph II., der sich bekanntlich um alles kümmerte, die Bestattung in Kirchen generell verboten, 1887 wurde der Kalkanstrich entfernt, die damals ans Tageslicht gekommenen Bilder wurden 1927 restauriert. 1980 wurde die Mönchsgruft entfernt, und dahinter fand man die unversehrten Fresken aus romanischer Zeit.

Dargestellt ist unter anderem Christus in der Mandorla alias Pantokrator alias Weltenherrscher, eine Darstellungsform, die aus Byzanz stammt. Neben den Aposteln Petrus und Paulus und den vier Evangelisten sind verschiedene Typen von Engeln dargestellt. Wer sich seit Kindheitstagen nicht mehr mit Fragen des Aussehens von Engeln beschäftigt hat, ist in Marienberg richtig: Seraphim sind in erster Linie mit der Anbetung Gottes beschäftigt. Der Prophet Jesaja beschreibt sie folgendermaßen: „Jeder [Seraph] hatte sechs Flügel: Mit zwei Flügeln bedeckten sie ihr Gesicht, mit zwei bedeckten sie ihre Füße, und mit zwei flogen sie. Sie riefen einander zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere.“ In den Erläuterungen weist die „Jerusalemer Bibel“ darauf hin, dass „Füße“ als „euphemistische Bezeichnung für Geschlechtsteile“ zu nehmen sei – und das verwundert uns sehr, denn die Engel in unserer Kindheit waren ganz bestimmt geschlechtslose Wesen. In der Offenbarung des Johannes ist zwar auch die Rede von Wesen mit sechs Flügeln, die außen und innen mit Augen bedeckt sind, allerdings drückte sich Johannes auch in diesem Zusammenhang nicht mit letzter Klarheit aus.

Die ebenfalls sechsflügeligen Cherubinen (oder: Cherubim) sind Mittler zwischen dem alttestamentarischen Gott und den Menschen. Bekannt sind sie als Wächter des verschlossenen Paradieses. Ihre Flügel sind mit Augen bedeckt, was darauf hindeuten soll, dass ihnen nichts verborgen bleibt. Der Laie macht sich keine Vorstellung, was für ein weites Feld die Engel sind. Das Schutzengelfest wird übrigens am 2. Oktober begangen.

Die Marienberger Engel haben als Zeichen ihres Gehorsams gegen Gott gebundene Flügel und sie tragen Haarbänder und florale Hoheitszeichen, die sie den Menschen überordnen. Was die Haarbänder genau besagen, darüber besteht in der Fachwelt keine Einigkeit. Die Deutungen gehen von „einfach nur Haarband“ bis hin zu einer erst zu erforschenden noch komplexeren hierarchischen Bedeutung. Insgesamt sind es 13 Engel, alle blicken auf Christus, nur einer schaut grimmig weg. Luzifer? Wer weiß. Und einer ist ganz klein wiedergegeben, so als ob er ein Reservist wäre, der an des Lichtbringers Stelle treten wollte, wenn jener erst Höllenfürst geworden wäre.

Wer in Kirchen herauszufinden versucht, was was bedeutet, der merkt schnell, dass die Grundlagen unserer Kultur vielschichtig, rätselhaft und widersprüchlich sind. Engel, um zu unserem Beispiel zurückzukehren, sind keine genuin christliche Idee. Weil unter anderem schon die Assyrer schon engelartige Wesen kannten, stellte das frühe Christentum Engel stets ohne Flügel dar, damit die himmlischen Heerscharen nicht mit den ubiquitären antiken Genien, Eroten oder Siegesgöttinnen verwechselt wurden. Erst im 4. Jahrhundert bekamen Engel Flügel, die in der bildenden Kunst bald unverzichtbar waren. Der Vater der Barockmalerin Artemisia Gentileschi besaß in seiner Malerwerkstatt ein Paar Engelsflügel, die sich Caravaggio immer dann ausgeliehen hat, wenn himmlische Wesen seine Bilder bevölkern sollten.

Mals oder auf Italienisch Malles Venosta war unser nächster Halt: Fünf Kirchtürme ragen im Ort auf, die gesuchte romanische Kirche zum Hl. Benedikt war wegen Restaurierungsarbeiten geschlossen; weil wir schon einmal da waren, machten wir einen Abstecher in die Malser Pfarrkirche; in dieser weiten Hallenkirche fanden wir zu unserer Überraschung ein ziemlich pompöses Werk des Tiroler Jugendstilmeisters Emanuel Raffeiner aus dem Jahr 1914: Besonders bemerkenswert ist die Krönung der langmähnigen rotblonden Maria. Raffeiners Meisterwerk ist die außen klassizistische und innen von ihm in reinem Jugendstil gestaltete Pfarrkirche in Roppen im Tiroler Oberland.

Glurns liegt auf rund 900 Metern Seehöhe am Fuß des Sonnenberges, der sich bis Meran hinüberzieht: Glurns ist ein höchst attraktives Örtchen, das seine Blüte weit zurück in der Vergangenheit erlebt und seither recht verschlafen darauf gewartet hat, dass die Touristen Leben in den Geburtsort des bekannten Zeichners Paul Flora (geb. 1922) bringen. Jeden Tag kommen die Gäste zahlreich, doch gegen Abend kehrt wieder ländlich beschauliche Ruhe ein.

Wir schlugen an diesem Abend unser Lager in einer
Pension in Schluderns auf; der Ortsname wird übrigens kurioserweise auf der zweiten Silbe betont. Schluderns hat angeblich nichts mit „vergeuden“ im Sinne von verschludern zu tun, sondern leitet sich vom lateinischen Lutum für Kot und Schmutz ab, was mit dem Sumpf der Etschmöser zu tun haben könnte. In Schluderns wurde 1874 die Haflingerzucht begonnen, die nach einem steilen Aufstieg im Zweiten Weltkrieg verlotterte, weil die sonst so sehr auf Rassisches spezialisierte Diktatur bei diesen Pferden mehr auf Menge und weniger auf die Erreichung bestimmter Zuchtziele aus war.

Am Morgen des nächsten Tages spazierten wir um die Churburg herum, deren Inneres uns unzugänglich blieb, weil die Burg erst spät am Vormittag für Besucher offen ist. Wir setzten unsere Südtirol-Durchquerung in Richtung Meran und Bozen an Obst- und Weinkulturen vorbei fort. Nach nur zwei Schönwettertagen werden Äpfel und Wein schon bewässert. Wenn, wie im Sommer 2001, insgesamt wenig Regen fällt und dann auch noch der Schnee im Winter spärlich bleibt, dann sinkt der Grundwasserspiegel so dramatisch ab, dass nicht nur die Bauern jammern, die bekanntlich wie Wirte stets Grund zur Klage finden. Der Südtiroler Obstbau ist ein Ärgernis, denn mit den Genüssen unserer Kindheit haben die dort gezogenen Früchte nicht viel gemeinsam: Mit dem intensiven Obstbau verschwindet der Geschmack aus den Früchten. Wir hoffen immer noch, dass das Schicksal der Südtiroler Äpfel wenigstens die Steirer warnt. Den „Kronprinzen Rudolf“ sollte man vor dem Schicksal des Südtiroler Golden Delicious bewahren. Kronprinz Rudolf heißt die gegenwärtig einzige im Handel erhältliche Apfelsorte, die saftig und fest ist und zum Anbeißen ausschaut.

Auf den Tartscher Bühel nahe Mals – das Wahrzeichen des oberen Vinschgaus, gekrönt von der uralten Kirche St. Veit, das „geheimnisvolle Zentrum dieser Landschaft“2 – näher einzugehen, würde den Rahmen dieser Veranstaltung leider sprengen, sodass wir gezwungen sind, es bei einer allgemeinen Bemerkung über historische Tiefe, mythologische Bedeutung, ästhetische Vollkommenheit und dergleichen zu belassen.

Das Matscher Tal

„Es gibt kaum ein Seitenthal in Tirol, was so früh und so oft genannt wird, was durch kirchliche Weihe und Ritterthum so bedeutsam ist, als dieser enge rauhe Winkel, wo isländisch Moos sich um Zirbelbäume schlingt. Hier wurde nach der Legende im siebenten Jahrhundert St. Florinus geboren. Seine Eltern waren aus England und hatten im Matscher Thale sich von einer Pilgerfahrt nach Rom zurückkehrend niedergelassen. Sie übergaben den Knaben dem Pfarrer zu Ramüs im Engadein, wo er noch in jugendlichem Alter Wunder zu wirken begann. In dem Kasten, aus dem er den Armen Brod vertheilte, wuchs Getreide, und wenn er den Tischwein des Pfarrers genommen hatte, Kranke zu erquicken, so wurde aus dem frischen Quellwasser, das er dafür auf die Tafel setzte, der beste Traubensaft [allerdings kein Wein! Anm. d. Landverm.]. Als sein Lehrer, der Pfarrer, verschieden war, wurde Florin der Seelenhirt der Gemeinde und starb jung, aber im Leben schon als Heiliger verehrt. Die Einwohner von Matsch, zu denen er nicht mehr zurückkehrte, errichteten wenigstens ein Kirchlein auf der Stelle seiner Geburt.“3

Wie auch andernorts scheint nach dem 7. Jahrhundert in Matsch nicht viel losgewesen zu sein, erst um 1200 rührt sich wieder etwas, wir haben Zeugnisse, dass Vergangenheit stattgefunden hat: Um 1200 treten die Herren von Matsch als Gebieter des Tales und „weit hinab im Vinschgau und drüben im Engadein“ auf den Plan. „Später kamen dazu noch Güter am Oberrhein und in Schwaben.“ Vermutlich waren die Schwaben verspätet aus dem Urlaub zurückgekommen. „Die Nonnen zu Münster mußten ihre Hunde füttern, und wenn die Gewaltigen mit Jägern und Knechten, Rüden und Rossen auf ihren Jagdzügen in Marienberg übernachteten, so hatte der Abt Futter und Nahrung umsonst zu schaffen.“4 Durch Heirat mit der Tochter des letzten Matschers, Ulrich, kamen die Güter 1504 an die steirischen Grafen von Trapp, die aber die Burgen im Matscher Tal leider verkommen ließen, sodass von ihnen heute nicht mehr viel übrig ist. Der sonst seltene Vorname Gaudenz ist von den Matschern auf die Trapp übergegangen.

Berge/Namen: Ramudel, Upi, Taschel und die
Toponomastik

Die Berge zwischen Matscher und Schnalstal haben schöne Namen: Remsspitze, Litznerspitze, Hochalt, Upiakopf, Rappenspitze, Ramudelspitze, Saldurspitze, dazu das Tascheljöchl …
Hans Kiene beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Südlich der Weißkugel“ auch mit den Namen. Er schreibt darin: „Opi und Upia bedeuten dasselbe, aber man weiß nicht was. Zum Tale wie zum Kopfe, dem das Tal seinen Namen gab, weil es von ihm beherrscht wird, sagen die Einheimischen ausschließlich Upi.“5 Upi hat immerhin den Vorteil, dass es so unheimlich undeutsch klingt, dass nicht einmal Ettore Tolomei sich etwas Italienisches dazu aus den Fingern zu saugen vermochte, die an diesem Tag wahrscheinlich von der Übersetzungsarbeit – Hochalt in Monte Alto und Ramudelkopf in Cima Ramudla (früher auch Punta Ramudla) – ganz ausgezuzelt waren, und es bei „Upikopf“ beließ, zumindest ist die hervorragende Karte 1:25.000 von Tabacco dieser Ansicht. Dass Tolomei tatsächlich auch bei größter Müdigkeit, Abspannung, Kopfweh und Ohrensausen und was eben die Berufskrankheiten des Toponomastikers sind, einen „Kopf“ hätte durchgehen lassen, wird von den Landvermessern allerdings als unwahrscheinlich eingestuft.

In Südtirol sich über Namen zu äußern, bedeutet Toponomastik, also: Streit. Toponomastik ist ein Wort, das es nur in Südtirol gibt, und das den Umstand umschreibt, dass jeder Quadratmeter in Südtirol zwei Namen hat, einen deutschen und einen italienischen, und dass in diesem ansonst gesegneten Land alle ständig damit beschäftigt sind, darüber zu streiten.

Nicht dass das nicht anderswo auch der Fall wäre, aber man hat doch den Eindruck, dass es hier mit einer besonderen Inbrunst geschieht. Und – die Toponomastik hat einen Namen, einen Erfinder: Ettore Tolomei (1865–1952), in Fachkreisen auch „der Totengräber Südtirols“ genannt, Theoretiker der „natürlichen Grenzen Italiens“ (d.h. am Alpenhauptkamm), besteigt 1904 den Klockerkarkopf im hinteren Ahrntal, erklärt ihn zum nördlichsten Punkt Italiens, bezeichnet sich als Erstbesteiger und tauft ihn „Vetta d’Italia“ (der Gipfel Italiens; dieser Berg war allerdings 1895 von Fritz Koegel mit Führer F. Hofer bereits bestiegen worden), begründet ab den 1890er Jahren die Toponomastik als Wissenschaft von der Umwandlung deutscher in italienische Ortsnamen, zieht 1906 nach Glen bei Neumarkt im Bozner Unterland, gründet das „Archivio per l’Alto Adige“ und betreibt von da an sozusagen an vorderster Front die systematische Italianisierung Südtirols. Die Ausgabe 1935 seines „Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“ (Handbuch der Ortsnamen …) enthielt bereits ca. 30.000 Ortsnamen in ihrer „italianisierten“ Form, häufig eine wörtliche Übersetzung oder Erfindung. Bei unseren Ramudeln ist es besonders bemerkenswert, wie hier ursprünglich rätoromanische Namen, die niemals „eingedeutscht“ wurden, danach italianisiert werden mussten.

Lange Zeit war sich Tolomei übrigens nicht klar, wie er Südtirol taufen sollte. Er nannte es einmal Trentino Superiore, dann Valdadige Superiore und dann 1916, im ersten „Prontuario“, bezeichnete er in Anlehnung an die französische Departements-Nomenklatur aus der Zeit der napoleonischen Besatzung („Haut-Adige“), Südtirol mit Alto Adige. 1943 fand Tolomei, von den Faschisten inzwischen ziemlich kaltgestellt, sich plötzlich unter deutscher Verwaltung wieder, wurde verhaftet und in Thüringen interniert, sein Archiv wurde von den Deutschen abtransportiert und ist seither verschollen, „ein Rätsel der Tiroler Zeitgeschichte“6.

Die Berge haben nicht nur die verschiedensten Namen, sondern auch je nach Karte verschiedene Höhenknoten:


Straßenkarte 1:200.000 – F&B 1:50.000 – Tabacco 1:25.000, Kiene 1941

Ramudelspitze 3292 – 3340 – 3330 – 3340
Rappenspitze 3181 – 3184 – 3184 – 3187
Remsspitze 3204 – 3212 – 3212 – 3205
Hochalt 3267 – 3285 – 3285 – 3294

„(…) gelangen wir zum zierlichen Firnknauf des Hauptgipfels [des Hochalt], den die deutschen Karten mit 3294 m angeben, während die italienische Messung hier ausnahmsweise 10 m billiger ist.“7

Täler/Jöcher: Schnals, Vernagt

In der „Erschließung der Ostalpen“, im Abschnitt über die „Oetzthaler Gruppe“ (1894) schreibt Heinrich Hess über die „Pässe aus dem inneren Oetzthale nach dem Süden“ unter anderem: „Dass das Hochjoch und das Niederjoch schon seit Jahrhunderten überschritten werden, ja wahrscheinlich seit so langer Zeit, als überhaupt Menschen das obere Oetzthal bewohnen, wurde schon in der Einleitung erwähnt.“8 So gesehen hätte die Begeisterung über die wundersame Auffindung des Ötzi im Bereich Niederjoch nicht dermaßen über die Stränge schlagen müssen, wie sie es tatsächlich tat und tut. Aber wie Alois Schöpf Anfang 1980 vor Erscheinen von Heft 1 der Satirezeitschrift „Luftballon“ sagte: „Bevor i’s nit siech, glab i’s nit.“

Und so glauben es nicht nur die Leute, sondern vor allem die Wissenschaftler auch erst, seit sie IHN gefunden haben, dass nämlich schon vor längerem Menschen im Gebirg zugange waren, und seit sie es glauben, finden sie auch jede Menge Belege dafür, die ihnen vorher nicht aufgefallen waren, weil sie gar nicht danach suchen wollten. Das im Anschluss an den „Ötzi- Fund“ gegründete „Forschungsinstitut für Alpine Vorzeit“ hat nicht nur im Fotscher Tal einen steinzeitlichen Rastplatz ausgegraben; vielmehr wird aufgrund von weit im Land verstreuten Funden im Jahresbericht 1995 festgestellt, „daß auch in Nordtirol grundsätzlich mit einer urgeschichtlichen Besiedlungsdichte zu rechnen ist, die – abgesehen von klimatisch begründbaren Unterschieden – vergleichbar mit derjenigen Südtirols ist.“9

Der Führerlohn für den Übergang über das Niederjoch betrug um 1850 „an Tagen drängender Heuarbeit fl. 3.–, sonst fl. 2.30, wobei die Führer auf ein Glas Wein in Unser Frau noch rechnen. Über das Hochjoch wurden fl. 3.– bezahlt, bis Kurzras etwas mehr.“ Seine Beschreibung der Übergänge zum Nutzen der immer zahlreicher werdenden Touristen, der diese Tarife entstammen, schließt Pfarrer Arnold von Vent mit der Bemerkung: „Wenn schliesslich ein oder der andere Reisende mit meinen Bemerkungen nicht ganz einverstanden sein sollte, so bitte ich, zu bedenken, wie viel darauf ankommt, ob man bereits durch frühere Anstrengungen geschwächt ist, oder ob der corpus und besonders Lunge und Füsse für Fernerpartien taugen. Kurz, ich bitte zu bedenken, dass solche Touren nicht für Frauenzimmer sich eignen, besonders bei ungünstigem Wege und Wetter.“10

Fortsetzung folgt.

 

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