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Sprint in die Ewigkeit

„ASLSP (as slow as possible)“ – die Tempobezeichnung für ein Orgelstück von John Cage – wird im deutschen Halberstadt wortwörtlich genommen: Am 5. September 2001 um 9.36 Uhr fing es an und enden tut es in 639 Jahren. Franz Platzer ist Kellner im Zillertal und hat seit Erwerb des Führerscheins „2.000 Euro, nein mehr“ für das Übertreten von Höchstgeschwindigkeiten ausgegeben. Er fährt schnell nach Halberstadt und hört sich das an. Dokumentation einer Versuchsanordnung von Heidi Hackl und Andreas Schett

„Wenn ich mein Leben morgen noch einmal neu anfangen könnte, würde ich in die Formel 1 gehen, das wär mein Traum!“ Franz fährt wie auf Schienen durch die fränkische Schweiz. Es regnet. In den Kasseler Bergen vor ein paar Jahren war auch so ein Wetter. „Ich bin gar nicht so schnell gefahren, 120 vielleicht, und auf einmal, in einer Kurve war ich weg. Da kannst du nichts mehr machen! Ich weiß nicht, wie oft es mich überschlagen hat …“ Sehr beruhigend.

Franz ist nachdenklich. Im CD-Wechsler ist jetzt die neueste Platte der Zillertaler Schürzenjäger obenauf: „Jeder kann ein Feigling sein, doch jeder auch ein Held.“ Franz sagt: „Wenn ihr älter wärt, müsste ich jetzt Volksmusik spielen.“ Und: „Passt’s euch mit der Temperatur?“

Franz ist serviceorientiert. Franz ist Kellner. In Kaltenbach führt er ein Gästehaus, das er von der Mutter übernommen hat, und bedient im Café seiner Schwester. Der Vater war übrigens Gendarm. Es ist Nebensaison und das bedeutet: Man liest die Zeitung genauer. „Da stehen oft ganz nette Sachen drin unter Allgemeines.“ Irgendwann Ende Oktober stand da Folgendes zu lesen: „Für Studie gesucht: Leute, die glauben, am meisten Geld für zu schnelles Fahren ausgegeben zu haben.“ Franz zog sein Handy aus der Brusttasche.

Unser Ziel ist Halberstadt in Sachsen, 42.200 Einwohner, vom Zillertal aus gesehen noch weiter oben als Leipzig, fast schon Hannover, „Würstchenparadies“ seit Herr Friedrich Heine, der „Erfinder der Würstchen aus der Dose“, im Jahr 1896 sein „praktisches“ Verfahren patentieren ließ. Aber aus Halberstadt kommen nicht nur Würstchen. Im Jahr 1361 baute ein Mönch namens Faber im Halberstädter Dom St. Stephanus die technisch ausgefeilteste und größte Orgel seiner Zeit. Vom Jahr 2000 aus gesehen lag das 639 Jahre zurück. Und wie kam Cage nach Halberstadt?

Im Jahr 1998 trafen der Theologe Klaus Röhring, der Orgelprofessor Christoph Bossert, der Musiktheoretiker Heinz Klaus Metzger, die Komponisten Rainer Riehn und Jakob Ullmann und ein paar andere in Trossingen zusammen. Es war da eine Frage: Wie lange dauert „so langsam wie möglich“? As slow as possible: Diese ungewöhnliche Tempoanweisung hatte der amerikanische Komponist John Cage 1985 über ein Stück für Klavier geschrieben. Zwei Jahre später entstand Organ2/ASLSP, vier Notenblätter, achtteilig – und damit ein Problem: So langsam wie möglich, am Klavier dauert das so lange wie die Töne eben klingen. Und auf der Orgel? Schwierig. Jakob Ullmann machte Witze: „Sagt mal, was heißt das, so langsam wie möglich: Heißt das, bis der Organist von der Orgelbank kippt oder bis das Publikum eingeschlafen oder gegangen ist oder heißt das ein Tag?“ Einer sagte: Solange wie das Leben eines Organisten dauert. Da rief Hans-Ola Ericsson, ebenfalls Professor für Orgel, aus dem Publikum: „Das heißt: Solange wie eine Orgel lebt!“ Einer kannte einen aus Halberstadt: Johann-Peter Hinz, Bildhauer und Stadtrat. Die Halberstädter gaben eine Kirche her. Und die Ewigkeit hatte eine Dauer: 639 Jahre, so lange war es her, als der Mönch Faber …

„Muss ich dann schnell fahren oder wie?“ Franz ist am Telefon. Er hat auch Fragen: Wie lange spielen die das Stückl, 639 Jahre? Das gibt’s ja normalerweise nicht! Und was ist, wenn vorher der Weltuntergang ist? Und tun wir übernachten oder fahren wir am selben Tag zurück? 16 Stunden im Auto? Für mich kein Problem. Aber ich habe schon ein Einzelzimmer? Und fahren wir zu zweit? Aso, zu dritt. Und ist die dritte Person männlich oder weiblich? Weiblich? Aso, weiblich. So ein Aufwand, ha?

Unter reiseplanung.de steht: Innsbruck – Halberstadt 698 km. In der Kategorie „Fahrer und Fahrzeug“ kann man anwählen: langsamer PKW (braucht 10 Stunden, 26 Minuten), mittlerer PKW (8 Stunden und 2 Minuten), schneller PKW (6 Stunden, 43 Minuten). Franz wird es in 6 Stunden und 24 Minuten schaffen. Trotz Regen. Aber noch sind wir in Wörgl.

Wir haben erst 60 Kilometer hinter uns. Franz schnallt sich an. Das Auto hat er extra am Wochenende geputzt. Es ist Dienstag. Das Auto ist ein schwarzer Opel Vectra, Sportausstattung („Muss sein, aber alles mit Maß und Ziel!“), Auspuff Marke Sebring („Wegen dem Sound und optisch, kostet 500 Euro locker!“). Wir kennen uns erst seit 25 Minuten. Fragen stellen beruhigt: „Wie schnell fährt das Auto eigentlich?“ „220 maximal.“

„Theoretisch oder praktisch? … nämlich – man macht sich Sorgen um uns.“
„Kein Problem. Ich will ja selber auch heimkommen.“ Gegenfrage: „Warum habt ihr eigentlich mich ausgesucht? Ich meine, wenn ich den Artikel schreiben würde, würde ich selber fahren.“
„Die ganze Sache dauert 639 Jahre. Uns hat gereizt, möglichst schnell dorthin zu gelangen.“
Franz gibt Gas. Die Wirkung von Fliehkraft in der Magengegend.

Spät am Abend wird Herr Betzle dem Franz die Leviten lesen. Michael Betzle ist Unternehmer und lädt uns als Geschäftsführer der John-Cage-Stiftung Halberstadt zum Essen ins „Parkhotel“. „Ich bin so schnell gefahren in meinem Leben“, sagt er in Richtung Franz, „und irgendwann habe ich beschlossen, das nicht mehr zu tun. Wenn Sie langsamer fahren, kommen Sie viel entspannter und fast genauso schnell am Zielort an. Haben Sie das noch nie festgestellt?“ „Nein, das habe ich noch nie festgestellt.“
„Sie müssten ’ne Therapie machen. Fahren Sie doch mal einen amerikanischen Highway entlang. Da rollen sie höchstens mit 80 km/h dahin, Sie können nebenbei Ihren Kaffee trinken und der Dame neben Ihnen die Hand auf den Schenkel legen. Ist das nicht wunderbar?“
„Da weiß ich mir etwas Besseres: Ich fahr lieber zügiger und die Zeit, die ich hereinbringe, da fahr ich auf den Rastplatz und hab es auch fein – mit der Dame.“

„Haben sich eigentlich andere auch auf das Inserat gemeldet?“ Erste Raststätte in Bayern, Kaffeepause. Natürlich gab es da auch andere. Aber nicht einer, der Franz das Wasser reichen konnte. Was sind schon eine Verfolgungsjagd und zwei mal Führerscheinentzug, die Trümpfe der Konkurrenten? Franz ist jetzt nicht mehr wegzudenken. Franz hat ein Wunschkennzeichen, auf dem „SZ A 2000“ steht. Franz sagt: „Die 130 auf der Autobahn halte ich sowieso nie ein. Aber schneller wie 160 fahre ich auch nicht, weil ab 160 kostet’s mehr.“

An dieser Stelle hätte John Cage gelacht. Er würde den Mund öffnen wie beim Gähnen und mit dem Kopf wippen wie der Plastikdackel, der im Auto vor uns auf der Hutablage sitzt. Ein Stummfilmlachen. Cage, John, geboren am 5. September 1912, gestorben am 12. August 1992, der „höflichste aller Anarchisten“ (Petra Kipphoff) und einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, den sein Lehrer Arnold Schönberg keinen Komponisten, sondern einen „Erfinder“ nannte. Hier irrte der Tondichter und hatte natürlich recht: Cage erfand das präparierte Klavier, indem er Schrauben, Radiergummis und Geldstücke zwischen die Saiten klemmte. Er inthronisierte die Stille als musikalisches Moment, am stillsten in einer Komposition mit dem Titel „4’33’’“ – zugleich das Zeitmaß für ein Stück, das aus einer einzigen Pause besteht. Das ist nicht nichts. Eigentlich war Cage ja Zen-Buddhist und ein weltweit anerkannter Pilzexperte, der nach dem chinesischen Orakelbuch I Ging und mit Hilfe von Würfeln komponierte, der Sternenkarten auf Notenblätter übertrug und die Unebenheiten auf Papier zum Anlass nahm, Töne zu markieren. Große Leichtigkeit bei gleichzeitigem Ernst. „Ist das noch Musik?“, fragte ein Besucher John Cage nach einem Konzert in Mailand. „Nennen Sie es nicht Musik, wenn Sie das schmerzt“, gab Cage zur Antwort.

Bei den Monty Pythons gibt es die folgende Szene: Jemand hält eine Rede, die mit dem Appell endet: „Ihr seid doch alle Individuen!“ Die Masse schreit im Chor: „Ja! Wir sind alle Individuen!“ Nach einer kurzen Pause streckt einer zögerlich den Arm in die Höhe und sagt: „Ich nicht!“ – Cage?
Cage erschütterte auf irreparable Weise die Idee, dass große Musik ausschließlich im großen Kopf eines großen Individuums enstünde. Gleichzeitig mutete er Interpreten wie Zuhörern die größtdenkbare individuelle Freiheit zu. Cage ist der Mann, der aufzeigt: Er hebt die Hand und hebt sich ab, gerade weil er sich nicht abheben will.

Einfahrt in das Gebiet der ehemaligen DDR. Es regnet waagrecht. Die Unebenheiten des Straßenbelages gemahnen an ein bis jetzt ignoriertes, individuelles Bedürfnis. Die drei Flaschen Wasser seit Bayern! Jedes am Horizont auftauchende Hinweisschild wird zur Hoffnung („Nächste Raststätte in soundsoviel km“), dessen Entschlüsselung („Privatgewässer“) führt zur Verzweiflung. Zerstreuung mit Cage: Streichquartett in vier Teilen, 1949/50 komponiert, 3. Satz: Winter, Tempoanweisung „nearly stationary“. Lang liegende Töne, im oberen Frequenzbereich und dreifachen piano, verlaufen sich in Boxen, die auf Bässe trainiert sind. Franz überholt einen LKW. „Da weißt du nie: Kommt’s vom LKW oder kommt’s von der CD“, sagt er. Das ist exakt die Idee von Cage: Die Vorstellung, dass alle akustischen Ereignisse unseres Umfeldes als Musik wahrzunehmen sind. Noch immer keine Raststätte. Franz sagt: „Ja, das ist so! Wenn man auf etwas wartet, åftor … –“ Es folgt eine ausgedehnte Pause und nichts weiter. „Åftor“ ist das beliebteste Füllwort des Zillertalers, bedeutet „nachher, dann“ oder auch ganz etwas anderes, kurz: Es ist wie das italienische „allora“ und heißt etwas und nichts.
„Gefällt dir die Musik?“
„Geht schon. Aber Goldene hat der keine, ha?“
Vielleicht in 639 Jahren –

Nach 6 Stunden und 24 Minuten reiner Fahrzeit Ankunft in Halberstadt. Der Bordcomputer meldet: 128 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. „Trotz Regen“, sagt Franz. Die Burchardikirche liegt etwas außerhalb und ist zu Beginn des 13. Jahrhunderts erbaut worden. 1808 kam hier Jerome, der Bruder Napoleons, ans Ruder: Geldmangel behob er stets durch Verkauf von Kirchen und Klöstern zu Schleuderpreisen, weshalb hier in den vergangenen 200 Jahren ein Schweinestall war. Im Kirchenbauch ist heute wenig Licht, Kies knirscht unter den Sohlen, nervöses Aufflattern im Dachgebälk. Jemand schnauft.

Herr Betzle weiß, woher das kommt, führt uns ins Querschiff, zeigt auf das einzige Requisit im Raum, einen Kasten aus Eiche. „So, dieser Blasebalg, den wir hier sehen, der rauscht seit dem 5. September letzten Jahres Tag und Nacht. Nun kann man sagen, das ist Blödsinn, aber das ist schon Musik“, sagt er.
„Ja, Franz, jetzt müssen wir Farbe bekennen. Das Orgelstück von Cage beginnt mit einer Viertelpause. Auf 639 Jahre aufgerechnet, heißt das: Die ersten 17 Monate hört man hier keinen Ton. Wir kommen zur Pause.“ –
Franz lacht. „Aso, Orgel gibt es jetzt gar keine?“, fragt er.
„Nein, wozu? Wir haben ja Pause!“, entgegnet Herr Betzle. „Die Orgel wird im Moment gebaut. Sie sind der kräftigste von uns! Kommen Sie!“ Franz muss auf den Blasebalg. So wie er in die Pedale tritt, hat man es auch vor 639 Jahren getan. Heute läuft ein Elektromotor. „Zur Sicherheit gibt es einen Reservemotor. Bei Stromausfall springt das Notstromaggregat an, so dass sicher gestellt ist, dass die ganze Sache wirklich läuft. Dann wird eine Solaranlage gebaut und für alle Fälle kommt auch noch ein Windrad dazu.“

Seit der Mönch Faber 1361 seine Orgel baute, wurde in der europäischen Musikgeschichte nichts mehr dem Zufall überlassen. Zum ersten mal war die Oktav in zwölf Halbtöne unterteilt und damit entstand auch die bis heute gültige Klaviertastatur. Der amerikanische Komponist, Instrumentenbauer und Musiktheoretiker Harry Partch bezeichnete 1949 in seinem Buch „The Genesis of a Music“ den Tag der Orgeleinweihung als „fatalen Tag von Halberstadt“. Seiner Meinung nach geriet man mit der Zwölfteilung der Oktave und allen darauffolgenden Entwicklungsstufen (bis hin zur Wohltemperierten Stimmung, der Johann Sebastian Bach zum Durchbruch verhalf) auf einen Irrweg. In der abendländischen Musik wurde alles Denken einer ganz bestimmten Ordnung unterworfen – ein Korsett, das erst Leute wie Cage aufzusprengen vermochten. Die Halberstädter Aufführung von Organ2/ASLSP ist demnach wie ein Schwungrad, gegenläufig zur traditionellen Musikentwicklung, Katapult mit Zielort Zukunft.

Die Zukunft ist übrigens zu haben. Für 1000 Euro kann man die Patenschaft für ein Aufführungsjahr übernehmen, die John-Cage-Stiftung unterstützen und sich eine Ahnung von Unsterblichkeit erkaufen. „Bitte schreiben Sie das unbedingt“, sagt Herr Betzle zwischen Suppe und Hauptgang. Franz hätte Interesse. „Am besten wäre eigentlich, wenn man das letzte Jahr buchen könnte, 2640, ist das schon weg?“
„Die letzten fünf Jahre sind bereits verkauft.“
„Haben die mehr gekostet?“
„Nein.“
„Hätte man sie teurer machen müssen.“

Die ersten Töne kommen im Februar 2003: gis/h/gis. Nach ein paar Monaten kommt das e. Die Buchardikirche ist in den nächsten 639 Jahren grundsätzlich rund um die Uhr zugänglich. Außer montags.
„Weil – die Dame, die den Schlüssel hat, braucht ja auch mal ’ne Pause.“

Proportionsskizze Orgel / Burchardikirche Halberstadt

 

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