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In der Heimatfalle

Von Jan Peter Tripp

„Das Gefühl, dass morgen alles so sein wird wie gestern,

kann man Heimat nennen.“

Franz Josef Wagner



Dochdoch, es gibt sie noch, diese wilden Gesellen, die ernsthaft glauben, in unseren heutigen Zeiten auch ohne Internet & Computer & SMS & ständiger Erreichbarkeit leben zu können. Sie wissen allerdings, dass die Luft langsam dünn geworden ist und dass sie selbst längst den Ruf eines verschrobenen & rückwärtsgewandten Sonderlings haben. Auch kostet es zunehmend Kraft, diese Haltung im banalen Alltag zu vertreten und auch durchzustehen.
In gewisser Weise fühlt man sich vom aktuellen Leben abgenabelt, die bisherigen Informationsquellen versiegen und selbst die guten Tageszeitungen sind schon bei Drucklegung hoffnungslos veraltet. Ein Buch zur Hand zu nehmen hat schon die Attitüde des Elfenbeinturms und eines zu schreiben, womöglich mit Füller oder Bleistift, ruft rührende Anteilnahme hervor, wie die berühmten Zettelkästen Arno Schmidts.

Warum also insistieren diese Schwerfälligsten unter den Schwerfälligen auf ihrer antiquierten Methode, diese himmelschreienden Ignoranten?

Sicher ist, dass man mit dem Mäuschen blitzschnell einige tausend weiterführende Klicks angeboten bekommt, die Tür nach Tür in den Begriff Heimat führen. Sicher ist, dass man bei deren Verfolgung mit zwei Wochen Bearbeitung rechnen muss, ohne den geringsten eigenen Gedanken zu Papier (!) gebracht zu haben. Doch vielleicht ist es gerade das, diese von und zu Guttenberg’sche Methode –, seliger Gutenberg verzeih’ – die dann diese halblebige Brillanz ohne eigenständige Winkelzüge gebiert. Keine selbstverschuldeten Sackgassen mehr, keine gedanklichen Irrtümer – stattdessen eine windschnittige Analyse auf Basis allgemein zugänglicher Wissensspeicherung ohne die notwendige Reibungsfläche versprengter eigener Gedankenspielerei.
Keine Philosophenbibliothek mehr, die Landesbibliotheken schließen reihum und die letzten Bücherleser werden von Staats wegen verfolgt wie in Truffauts frühem Meisterwerk Fahrenheit 451.
Hier aber schwören wir dem Satan ab: Wir verschlanken den kosmischen Begriff Heimat zugunsten radikal subjektiver Sehweise und werden dadurch regional und in gewisser Weise pover. Wir verlassen das große Allgemeine und begeben uns in die kleineren Sümpfe, die individuellen Erfahrungen mit Heimat. So wie die Empfindung von Wirklichkeit stets durch den Filter eigener Kriterien läuft und es nicht nur eine Wahrheit gibt, ist auch der Begriff Heimat oszillierend und wird von jedem Individuum anders gedeutet.

Auf der Höhe seines Ruhms wollte sich der große Chaplin einen Spaß machen. Seinerzeit existierten schon, wie später Wettbewerbe für die besten Elvis- oder Michael Jackson-Kopien, Veranstaltungen für die besten Charly Chaplin-Imitatoren. Er selbst war verblüfft von der Qualität der Kandidaten und als es schließlich um die Demonstration seines berühmten Watschelgangs ging, machte er es kurzerhand so wie hundertmal zuvor am Filmset geprobt. Niemand beherrschte das natürlich besser als er, das Original.
Doch er fiel durch.
Die Mitbewerber nämlich watschelten allesamt in doppelter Geschwindigkeit. So entsprach die Wiedererkennbarkeit exakt dem Film, der ja ebenfalls doppelt so schnell lief.
Soviel zur Wirklichkeit, soviel zum subjektiven Empfinden.
Nun ist aber Heimat kein Watschelgang und auch nicht das Stück Wiese hinterm Haus oder das Matterhorn im letzten Sonnenglanz. Viel eher schon liegt unser Gespür von Heimat im Gefühlsbereich, also im Immateriellen, im Reich unserer fünf Sinne: Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen. Die Proust’sche Madeleine ist so zur Ikone einer präzisen und individuellen Heimat-Konnotation geworden wie die Joyce’sche Schilderung Dubliner Pubs mit rauchgeschwängerter Luft, dem Geruch verschütteten Bieres und dem Boden voller Sägespäne. Möglicherweise kann man sagen, dass die Poeten aller Länder uns den Begriff näher bringen als alle Maler und Musiker zusammen. Natürlich zeigen uns die Maler der Romantik und des Biedermeier, Waldmüllerspitzweg & Konsorten, Heimat, natürlich vermögen uns die Schumanns & Debussys tönend in weite Gefilde zu versetzen, doch die Faszination der Tschechows, Gogols & Puschkins reißt noch weitere Himmel auf, sie schildern uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Innenleben und gleichzeitig auch das hinter den Bergen und hinter den Meeren, wo sich selbst die kleine, überschaubare Heimat im Kosmischen verliert.

Riechen: der absolut unverwechselbare Geruch einer soeben aus dem Wildbach gezogenen Forelle im Moment des Trocknens ihrer Haut
Fühlen: das ledrige und prall gefüllte Euter der Kühe vor dem Melken
Schmecken: der Geschmack gekauten Sauerampfers auf der kindlichen Zunge
Hören: das archaische Geröhre brünstiger Hirsche im Spätherbst bei Dunkelheit
Sehen: der Wind, der in unvergleichlich sanften Wellen über die Hügel noch ungemähter Spätfrühlingswiesen gleitet
Anhand dieser wenigen sinnlichen Aussagen können wir wohl ausschließen, dass der Autor seine Kindheit im Ruhrpott oder in der Sahara verbracht hat. Man kann sich fragen, ob diese Empfindung, die wie die Proust’schen Madeleines der Kindheit entspringt, fundamental für Heimat steht oder ob sich lebenslang Material ähnlicher Dichte ansammelt, ob also Heimat in der ersten kindlichen Wahrnehmung verdichtet wird und dann nie wieder so. Oder erneuert sich dieses Reservoir ständig je nach verschiedenen Gegebenheiten und Umständen?
Gibt es also in einem Leben mehrere Heimaten? Existiert er überhaupt in der Sprache, der Plural von Heimat? Die armen Franzosen zum Beispiel kennen weder Singular noch Plural, sie sind gänzlich heimatlos. Von Napoleon hatte man nicht erwarten können, dass er sich auch noch um solche Lappalien kümmert, aber die Rousseaus, Voltaires & Montaignes hätten doch genügend Zeit gehabt, um diese Lücke zu schließen. Oder vielleicht Gott selbst, der ja, glauben wir den Franzosen, dort zu Hause ist und sich’s gut gehen lässt.
Wenn wir Heimat geographisch festmachen und den Ort meinen, in den wir hineingeboren wurden, in den vielleicht, in Zeiten weniger beschleunigten & extensiven Lebens, sogar schon unsere Eltern und auch deren Eltern gesetzt wurden, so wird dies dem allgemeinen Verständnis entsprechen.
Man wuchs in einer Gegend und einer Gesellschaft auf und diese hinterließen ihre Spuren. Dauerte dies schon Generationen an, so haben wir bereits einen Phänotypus vor uns: den Isländer oder den Allgäuer.

In der Literatur waren meine Hochgeschätzten immer jene gewesen, die mir unverwechselbare Geschichten von Menschen in unaustauschbaren Regionen erzählten. Sie sprechen von den Verhältnissen, die sie wie Muttermilch aufgesogen hatten und über die sie alles wussten. Das Dublin von Joyce ist uns näher als Dinkelsbühl (außer wir stammten zufällig eben aus dieser Stadt), Musils Wien zu Ende der Donaumonarchie ist bis zum Menschenbild seiner Bewohner so intensiv beschrieben, weil hier Dichter tätig sind, die mit Bauch & Empfindung ihr Eigentlichstes hervortreten lassen – ihre Heimat.
Der Bauch von Paris ist Zolas Heimat, Italo Svevo und Alfred Döblin wissen mehr über Triest und Berlin wie wir alle, Charles Ferdinand Ramuz kennt die Dörfer & Leute um den Genfer See und in den Bergen drumherum besser, Faulkners Mississippi und Upton Sinclairs Louisiana haben erst in ihren Erzählungen für uns eine sinnlich erfahrbare Existenz angenommen.
Und auch ganz nah bei uns – einen Steinwurf nur – was haben uns die Gottfried Kellers, Robert Walsers, die Johann Peter Hebels und Eduard Mörikes an Verdichtung von Land, Zeit und Mensch zum Geschenk gemacht.

Heute jedoch, wo jedem von uns die Unrast und Unersättlichkeit schon aus den Augen springt, wo wir die Orte wechseln wie der Heiratsschwindler seine Anzüge & Opfer – heute haben wir leichtes Wurzelwerk und gedeihen an jedem neuen Ort. Heimweh ist nur noch ein Relikt aus den Ganghofer-Filmen der 50er Jahre und dass uns Gegend prägt ist undenkbar geworden.
Meine wechselnden mehrjährigen Aufenthalte könnte ich aber mit ganz unterschiedlichen emotionalen Zuordnungen versehen. Und natürlich kommen neben Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen noch Hintergrundkulissen dazu, wie uralte Dialekte, Kulturlandschaften und all die Dinge, die man dem kollektiven Gedächtnis zuschreibt.

Nehmen wir nur zwei Beispiele: Wien und Straßburg. Beide ganz unterschiedlichen Städte prägten mich auf ihre Art.
– Das sogenannte goldne Wienerherz, Schmäh & Kapuzinergruft, die große Zeit der k.u.k.-Glorie, Kaiser & Sandler, Sacher & Semmering, Heuriger & Burgtheater, Zein & Zilk …
– Die Straßburger Kathedrale ist nicht überall zu finden und der Elsässer Dialekt erzählt mehr als jede Geschichtsstunde. Rote Gesichter und der Geruch von Sauerkraut & Schlachtplatte in den Weinstuben des wuseligen Gerberviertels, eine futuristische Trambahn verbindet die Vororte mit Gutenbergs Denkmal und den Bateaux-mouches der Kanalarterien.

Allzu touristische Impressionen, könnte man meinen, doch hinter der Fassade sind sie beide zur Heimat geworden, Wien wie Straßburg.

Am stärksten habe ich Heimat immer gespürt bei Menschen, die diese verloren oder geflohen hatten. Ostpreußen, Sudetenland etc. In diesem Falle setzt sich ein Verklärungsprozess in Gang, der unmittelbar in Rührseligkeit & feuchte Augen mündet. Dann glänzt das Vergangene in allen Farben des Regenbogens wie der Devotionalienmarkt am Rande eines Papstbesuches.
Heimat, deine Sterne!

Mir persönlich schwebt da eher eine matte Sache vor. Also, nicht im Sinne von schlapp, sondern von nicht glänzend. In einer ausgewogenen Grauskala und jenseits von Klischeebegriffen. Etwas irgendwie Unspektakuläres wie der Duft geschnittener & getrockneter Frühlingswiese, der feuchte Maischegeruch ausgepresster Trauben, der anhaltenden Wärme auf den Steinen nach Sonnenuntergang, der wachsigen Glätte polierten Holzes, der Geschmack frisch gefallenen Schnees auf der Zunge, der allererste Kukucksruf des Jahres, das behutsame Aufglühen der Farben an einem Sommermorgen zur blauen Stunde.

Na ja, Sie wissen schon.

Bildlich gesprochen sehe ich eine Nische vor mir, die, in weiches Licht getaucht, mit allerlei seltsamem Mobiliar bevölkert ist, einem Stillleben ähnlich. Ich sehe einen Aufbau verschiedenartigster Gerätschaften, die vor meinem inneren Auge wie bei einer Kettenreaktion ständig neue Bilder evozieren. Wie eine Wunderbox könnte das sein, die beim Nähertreten eine Vielzahl von unterschiedlichsten Geruchsnuancen offenbart, die eingefärbten Nebelbänken gleich auch sichtbar wären. Aus den Wänden sickerte wie ein Stimmengemisch Unerhörtes, nie vernommene Kompositionen zwischen Nono und Stockhausen. Alle Teile des gesamten Stilllebens gäben Töne von sich, wie sie nie zuvor unser Ohr erreichten. Über die Zeit veränderte sich das Licht, es gäbe helle Mondnächte und sonnendurchflutete Nachmittage. Trockene Hitze strahlte aus von der Nische und irgendwann rieselte, wie in den gläsernen Iglus mit dem Eiffelturm drin, feiner pudriger Schnee über die Szenerie, bis alles seltsam erstarrte und in eisiger Monochromie dem Innern unserer Kühlboxen gliche.
Erst dann wären die unterschiedlichen Heimaten zu einem Bild verschmolzen, weiß in weiß und gleichgewichtig und nun auch absolut lautlos.

In diesem Moment kommt dann ein Maler vorbei mit seiner Klappstaffelei und seiner Leinwand und seinen Farben & Tinkturen.
„Na, wen oder was haben wir denn da?“, sagt er. Und da er noch einer der fast schon ausgestorbenen Raucher ist, steckt er sich erst mal eine Gauloise ins Gesicht und denkt nach. Da dies nicht gerade oft vorkommt, wirkt die Szene ein wenig angestrengt.
„Könnte man genauso übernehmen“, meint er und macht sich ans Werk.
Viele Einzelheiten enthält das Bild, bei aller Monochromie, doch ist das nicht neu für ihn. Erst die groben Strukturen, die großen Komplexe und dann immer feiner & feiner & feiner gemalt.

Sei es nun, dass er zu lange am Stück und ohne Pause sich ins Gesehene schraubte oder war es Übermüdung: zunehmend schwand die Klarsicht, die Einzelheiten verschwammen, wie ein Eiskubus rauchte die Wunderbox.
Und der Maler malte immer schneller und schneller im Dienst an möglichst getreuer Wiedergabe, bis die Details verschwanden und nur noch der polare Eisnebel übrig blieb und sein Bild nach 45 Schichten übereinander in frappanter Weise dem glich, was man eine gut grundierte Leinwand nennt.

 

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