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Fließtext *
Von Walter Kappacher

Notizen und Fundstücke ¶ Wenn ich das Fenster öffne, reagieren Passanten auf der Straße, blicken herauf, als gelte das Geräusch ihnen. ¶ Walter Benjamin: „In einer Liebe suchen die meisten ewige Heimat. Andere, sehr wenige aber das ewige Reisen“. ¶ Das zu Schreibende nicht „erzählen“, sondern es sichtbar machen, es hervorrufen im Augenblick, das wäre es. ¶ Das mächtigste und heiligste Gebot, das einem Künstler auferlegt werden kann, ist das Gebot zu warten. ¶ Das sind gleichzeitig die vier Säulen des Ortes, sagte der Rundfunksprecher, als er die Haltestellen der Untergrundbahn von Serfaus, einem Tiroler Touristenzentrum, nannte: Parkplatz, Kirche, Raiffeisenbank, Seilbahnstation. ¶ Ein japanischer Konzern plant in Europa eine Fabrik zur Fertigung von elektronischen Taschen-Horoskop-Geräten zu errichten. Auch österreichische Gemeinden bewerben sich, bieten kostenlose Grundstücke im Grünland, Steuerbefreiung, Ausnahmegenehmigungen, beschleunigte Verfahren, Subventionen. Eine Delegation aus Windischhausen trifft auf dem Wiener Flughafen auf eine solche aus Brechting. Die beiden Bürgermeister – einer der ÖVP, der andere der SPÖ zugehörig – kommen ins Gespräch. Als sie erfahren, dass sie beide dasselbe Reiseziel Nagasaki haben, beginnen sie sich zu beschimpfen, und das Ganze endet mit einer Prügelei zwischen den beiden Delegationen. ¶ Die Frau trägt ihre Handtasche so, als befänden sich darin die Röntgenaufnahmen ihres Tumors. ¶ Die Firma Eduscho stellte acht Millionen Auto-Aufkleber her, in die gedruckt war JA ZUR NATUR. ¶ In einem neuen Werbeprospekt der Fremdenverkehrsämter werden die Berge als Sport- und Trainingsgerät bezeichnet. Mitglieder der Bergrettung äußerten Bedenken: Schon jetzt passierten tausende Bergunfälle jährlich, meist wegen mangelhafter Ausrüstung, Ausbildung und Kondition. Die Bergrettung, die aus freiwilligen Helfern bestehe, sei außerstande, zusätzlich Einsätze zu leisten, wenn die Tourismusindustrie noch mehr unerfahrene Touristen aus dem In- und Ausland in die heimischen Berge locke. Der dazu befragte Tourismus-Manager Weixelbaum erklärte: Die Werbung sei nicht dazu da, auf Gefahren hinzuweisen, denn der Urlaub solle Spaß machen. ¶ Mai 1986. Der in Berlin-Spandau inhaftierte 92-jährige Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess sorgt sich wegen der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl; er gesteht dem Pastor Gabel, dass er seit Tagen frische Milch und frischen Salat meidet. ¶ Nach einer Befahrung der Wegstrecken, die der Heilige Vater während seines Besuchs in Salzburg mit dem Papamobil zurücklegen würde, wünschte das Komitee für die Vorbereitung des Papstbesuches, dass man die Kanaldeckel auf diesen Straßenzügen zuschweiße. ¶ Verkehrsbegleitgrün nennt man in Deutschland die Pflanzung von Bäumen und Sträuchern entlang von Straßen und Autobahnen. ¶ In einer Fernsehsendung sieht man in Großaufnahme den Arm eines Politikers, und damit seine Uhr – es ist darauf 22 Uhr 05. Ich blicke auf meine Uhr: Tatsächlich, es ist 22 Uhr 05. ¶ Denn wirkliche Dauer ist nur Geschichten und ihrer Magie beschieden. ¶ Der Magen-Darm-Komplex soll zehnmal größer sein als das Gehirn. ¶ „Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.“ (Ilse Aichinger) ¶ Am Kommunalfriedhof eine Grabstätte mit einer halbrunden Mauer ums Grab, darauf eingraviert: „Hier ruht der Generaldirektor Wallner …“ ¶ Das Gehüstel meiner Mutter, in ihrem Zimmer, im hohen Alter: Sie war nicht erkältet, wollte bloß darauf aufmerksam machen, dass sie noch da sei. ¶ Wenn ich einen Wunsch offen hätte, ein Gespräch mit einem Verstorbenen, zwei Stunden mit ihm in einem Café sitzen zu dürfen, egal ob ich ihn als Lebenden gekannt habe oder ob er vor tausend Jahren gelebt hat: Kleist? Jean Paul? Henry James? Joseph Conrad oder Gesualdo Bufalino? Vielleicht doch Hofmannsthal, der wahrscheinlich auf mich heruntersehen würde, obwohl er in Zentimetern viel kleiner war als ich. ¶ Die künstlerische, insbesondere die literarische Avantgarde stand und steht vor dem unlösbaren Problem, ja dem Diktat der Selbstüberbietung, das letztendlich bei denen, die redlich sind, ins Schweigen führen müsste. Eine wirkliche Originalität in der zeitgenössischen „Avantgarde“ ist schwer auszumachen (allerdings sind meine Kenntnisse bloß oberflächlich); im Wesentlichen sind die Autoren über die Experimente aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts doch nicht hinausgelangt; alles weitere war doch mehr oder weniger bloß Wiederholung, neues Arrangement, Neuverwertung. Joyce hat die formalen Grenzgänge seines Ulysses nicht wiederholt; über sein „Finnegans Wake“ herrscht selbst bei Kennern weitgehend Ratlosigkeit. Beckett hat lieber geschwiegen, als sich wiederholt. Hans Wollschläger hat nach dem zweiten Teil seiner „Herzgewächse“ das Kapitel Roman abgeschlossen. H. C. Artmann hat es im Gespräch einmal abgelehnt, zur „Avantgarde“ gezählt zu werden. Er war vielleicht zu wandlungsfähig, zu verspielt. Was mich immer betroffen machte, war die Selbstüberschätzung mancher Autoren, auch ihre Arroganz gegenüber konventioneller arbeitenden Autoren. ¶ Carl J. Burckhardt: „Manier ist die Tarnung derjenigen, welche die große Form nicht finden.“ ¶ Viele, welche sich heutzutage künstlerisch betätigen wollen, vergessen, dass man sich die Regeln, die man brechen oder überwinden will, erst einmal erarbeiten muss. ¶ Der große Florentiner Maler Giovanni Cimabue soll einmal beim Spazierengehen einem jungen Ziegenhirten begegnet sein, der auf einem Stein hockend einige seiner Ziegen zeichnete. Der Ältere blieb stehen und fragte den Jüngeren, was ihn an den Tieren so interessiere. Die Ziegen seien ihm völlig gleichgültig, entgegnete der Hirt, aber er habe von dem Maler Cimabue in Florenz Bilder gesehen, die ihm nicht mehr aus dem Sinn gingen. Die Bilder von Cimabue trieben ihn an zum Zeichnen und nicht die Tiere. Beim Abschied soll Cimabue den Hirten nach seinem Namen gefragt haben und dieser habe gesagt: Giotto. („Se non é vero, é ben trovato“). ¶ Lange Zeit wusste ich nicht, wie viele Mignon-Gedichte Goethe verfasst, und auch nicht, wie viele davon Franz Schubert vertont hatte. Das Lied „So lasst mich scheinen, bis ich werde …“ hörte ich auf der Heimfahrt vom Grabensee und Gott sei Dank entdeckte ich am Rand der Straße eine Ausweiche, wo ich den Wagen anhielt und diese mich bewegende Melodie ungestört aufnehmen konnte. Aufmerksam gemacht auf einige Mignon-Lieder hatte mich die Wiener Sängerin Karin Wolfsbauer. Jedes Mal, wenn ich diese Lieder höre, ist mir, als könnte mir im Leben nichts mehr geschehen und auch der Gedanke ans Sterben verliert beinah seinen Schrecken. ¶ Niemand kann etwas aus einem Buch herauslesen, das nicht vorher schon, seit langer Zeit, in ihm angelegt ist, durch frühe Lektüre, Studien, Beobachtungen usw. Das, was einen weniger oder nicht anspricht, wird wahrscheinlich sofort vergessen, bleibt nicht in der Erinnerung; anderes bleibt für immer oder lange Zeit haften. ¶ Die unglaubliche Häufung von Autoren höchstens Ranges im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Wo in aller Welt hätte sich Ähnliches je ereignet? ¶ Von 1729 bis 1788: Lessing, Wieland, Lichtenberg, Heine, Goethe, Lenz, Moritz, Schiller, Hebel, Seume, Jean Paul, Hölderlin, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Kleist, Clemens Brentano, Eichendorff – und noch andere, mir weniger liebe Dichter und Schriftsteller. Und alles dies innerhalb von sechs Jahrzehnten. ¶ Die Mittelmäßigkeit geht daran vorüber, das Talent bemerkt eine Libelle, eine Steinnelke, das Genie ein Wunder. ¶ „Sieben Exemplare Dubliners wurden in den letzten Monaten verkauft …“, beklagte sich James Joyce in einem Brief an W. B. Yeats im Herbst neunzehnhundertsechzehn. ¶ „Über den Dächern von Nizza“: Diesen Hitchcock-Film sah ich zuerst im Jahr 1958. Cary Grant beeindruckte mich maßlos. Solch einen blaugestreiften Pullover wie er ihn zu Beginn trug hätte ich für mein Leben gern besessen. Abgesehen von der Villa auf den Hügeln über Nizza. – Nun, 2008, sah ich den Film wieder einmal. Nicht einmal solch einen Pullover habe ich je besessen, von einem Haus gar nicht zu reden. Ich hätte ja auch nicht einmal die Betriebskosten bezahlen können oder die Bediente. ¶ Wir finden nur, was wir mitbringen.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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