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Brenner-
Gespräch (8):
„Was machst eigentlich du da?“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 7: der Autor Karl-Markus Gauß im Gespräch mit Robert Renk über das Scheitern von Reisen, zimbrische Sprachkurse, Nomaden mit Rückflugversicherung, Briefeschreiben als Belastung und über seinen Freund Paul Flora.

Robert Renk: Gibt es für Sie bestimmte Rituale, die Sie vor Ihren Reisen beachten?

Karl-Markus Gauß: Ich habe etliche „Rituale“ zu beachten, bevor ich mich auf Reisen begebe. Das wichtigste, das man schon gar nicht mehr als Ritual bezeichnen kann, ist, dass ich mich – egal wohin ich fahre – sehr gut vorbereite. Ich lese Bücher, ich mache mich kundig und habe schon ein bestimmtes Bild vor mir, bevor ich die Reise überhaupt antrete. Ein Bild, das ich während meiner Reise aber wieder vergessen muss und das sich in mir jedenfalls verändert. Zu den Ritualen des Abschiednehmens von Zuhause gehört für mich, der ich ja immer mit dem Tod rechne, der mich auf der Reise ereilt, dass ich den Schreibtisch so aufräume, dass sich aus dem Nachlass ohne größere Schwierigkeiten zwei, drei Bücher zusammenstellen lassen. So kann ich guten Gewissens während der Reise dahinscheiden.

R.: Gibt es auch ein Wieder-zu-Hause-Ritual?

G.: Ja natürlich. Zuerst einmal gehört es sich, dass ich meine Frau, meine Kinder, sofern sie zufällig zu Besuch sind, und dann auch meine Freunde herzlich begrüße und mir dafür einige Tage Zeit nehme. Denn so wie man merken soll, dass ich weg war, darf man ruhig merken, dass ich wieder da bin. Es dauert ohnedies sechs bis acht Wochen, bis sich das, was ich reisend gesehen und erlebt habe, in mir gesetzt hat, sodass ich mich an die Arbeit machen kann. Ich bin ja kein Protokollant meiner Routen, sondern ein Gestalter meiner Erlebnisse.

R.: Stimmt es, dass Sie keinen Führerschein besitzen? Wie reist man dann?

G.: Das stimmt. Nicht nur deswegen verreise ich gerne mit dem Fotografen Kurt Kaindl, dem ich einmal – zu seinem großen Gelächter – gesagt habe: Er ist mir unverzichtbar als Fahrer, Fotograf und vielleicht sogar als Freund. Ich bin kein Pilger, der in Wanderschuhen munter übers Land schreitet und davon überzeugt ist, dass sich ihm das Wesen der Dinge schon durch den gewissermaßen religiösen Blick auf sie enthüllt. Ich kann zwar Landschaften, glaube ich, ziemlich gut beschreiben. Aber nur so über einen Weinberg zu spazieren oder durch den Wald zu wandeln, das gibt mir, leider, nicht besonders viele intelligente Gedanken ein. An sich sind mir städtische oder substädtische Ausformungen von Ansiedelungen näher. Es müssen nicht die Metropolen sein.

R.: Wann beginnt die Reise?

G.: Die Reise beginnt, wenn ein bestimmtes Reisegefühl sich einstellt, eine innere Unruhe, die aus Vorfreude, aber auch einer gewissen Ablehnung gemischt ist, denn kurz bevor ich losfahre, packt mich immer eine rätselhafte, namenlose Traurigkeit, weil ich jedes Losfahren offenbar immer auch als kleinen Tod empfinde. Ich plane zwar lange und gerne, aber diese letzten Tage vor dem Losfahren sind jedes Mal wieder schrecklich. Eine quälende Unlust, ein Gefühl der Zerschlagenheit, das sich in dem Moment löst, in dem ich durch die Haustüre nach draußen trete.

R.: Zu Ihren Vorbereitungen gehört es auch, dass Sie die Sprache der Länder, die Sie bereisen, der Völker, die Sie dort aufsuchen, lernen.

G.: Mehr oder weniger. Ich bin, was Fremdsprachen betrifft, nicht sonderlich begabt, aber ich habe eine Begabung dafür, mir innerhalb kürzester Zeit einen bestimmten Grundwortschatz von vielleicht hundert wichtigen Wörtern und etlichen im Alltag wichtigen Formeln anzueignen. Diese Grundausstattung habe ich, sobald ich mein Projekt beendet habe, innerhalb kürzester Zeit wieder völlig vergessen. Es ist also gewissermaßen ein scheußlich instrumentelles Verhältnis, das ich zu diesen Sprachen bzw. zu meiner Fähigkeit, sie rudimentär rasch zu erlernen, habe.

R.: Diese Formeln und Phrasen stehen ja nicht in populären Büchern: Sorbisch, Aromunisch, Zimbrisch … Wie erlernt man diese Sprachen?

G.: Dort, wohin ich reise, sind die Leute immer sehr begeistert, wenn sie bemerken, dass ich mir Mühe gebe, ihre Sprache zu verstehen. Sie danken es mir, indem sie mir auch sprachlich ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Und meine Erfahrung hat mich zu folgender Theorie gebracht: Wenn der Wunsch, mit jemandem zu kommunizieren, groß genug ist, dann gelingt einem das gewissermaßen über den objektiven Stand des eigenen Sprachvermögens hinaus! Aber auf der anderen Seite: Denken Sie nur, mit wie vielen Leuten, deren Muttersprache auch die deutsche ist, Sie sich beim besten Willen so gut wie gar nicht mehr unterhalten können, weil wir in der gleichen Sprache und doch auf verschiedenen Planeten leben.

R.: Das Zimbrische ist von Bayern über Tirol und Südtirol nach Oberitalien gewandert, wo es heute nur noch – laut Wikipedia – von ca. 1.000 Leuten gesprochen wird. Wie kann man sich Zimbrisch aneignen, wenn man in Salzburg lebt?

G.: Es gibt seit vielen Jahren im Internet einen sehr witzigen zimbrischen Sprachkurs, den ein gewisser Remigius Geiser abhält, und zwar dergestalt, dass er jeden Tag einen Satz aus der Weltpresse oder aus der Weltliteratur ins Netz stellt und dann ins Zimbrische übersetzt und erklärt, wieso das so und so lautet. Sätze von Mao Zedong, Goethe, Dante, dem Papst. Diesen Sprachkurs habe ich einige Zeit besucht, dann habe ich dem wunderlichen Lehrer geschrieben und festgestellt, dass er in Salzburg wohnt, keinen Kilometer von mir entfernt. Übrigens stimmt die Zahl nicht, die Wikipedia angibt: Wenn es hoch kommt, sind es vielleicht noch fünfzig Leute, die Zimbrisch aktiv und passiv beherrschen. Allerdings ist es eine schöne Mode junger Italiener geworden, in italienischen Gedichten die herrliche zimbrische Sprache der Oma zu preisen.

R.: Woher kommt diese Sprache?

G.: Diese Sprache ist die einzig verbliebene, das heißt: heute noch gesprochene Form des Althochdeutschen. Und daher ist sie bei Altgermanisten so populär. Ich schätze, dass es heute wohl zehn Mal so viele Zimbernforscher als Zimbern selber gibt. Diese Zimbernforscher sind über alle Welt verstreut und befinden sich unausgesetzt in wissenschaftlichen Fehden darüber, welche Form des Zimbrischen denn als das eigentlich verbindliche Hochzimbrisch angesehen werden darf. Herrliche Typen, die sich ein herrliches Objekt des Forschens und Streitens gefunden haben.

R.: Sehen Sie allgemein diese Tendenz bei „kleinen Sprachen“, dass es dort übermäßig große Gefechte um die richtige und einzig wahre Variante gibt?

G.: Ja, es gehört zum Luxus, den sich die kleinsten Minderheiten leisten, dass sie sich nicht und nicht auf eine verbindliche Form ihrer Sprache einigen können. Das ist einerseits borniert; andererseits auch schon wieder großmütig, sich das auch noch zu leisten: der Welt nicht nur mit der eigenen, kleinen Sprache entgegenzutreten, sondern gleich auch noch mit drei oder vier verschiedenen Varianten davon.

R.: Im Ihrem Buch „Der Mann, der ins Gefrierfach wollte“ erzählen Sie von Kaayo, dem letzten des Volkes der El-Molo in Kenia, der die Sprache seines Volkes bewusst mit ins Grab nimmt.

G.: Ja, dieser Mann hat eines Tages den sprachlichen Austausch mit der Welt abgebrochen, er hat sich entschieden, auch nichts mehr dafür zu tun, dass seine eigenen Enkelkinder El-Molo verstehen und sprechen mögen. Ich denke mir, er muss genau gewusst und gespürt haben, dass mit ihm eine ganze Welt stirbt, und ein unsäglich trauriger und weiser Mann gewesen sein. Ich hege große Sympathie für die kleinen Welten, aber es ist nicht so, dass ich sie verklären will und behaupten würde, die Welt wäre besser, wenn wir in Europa z.B. noch 600 verschiedene Sprachen hätten.

R.: Heutzutage könnte man solche Sprachen ja leicht dokumentieren!

G.: Genau das wird ja auch gemacht. In den nächsten Jahren wird zum Beispiel die Insel Tuvalu im Pazifik versinken. Die Leute aus Tuvalu haben zwar nicht das Geringste zum Klimawandel beigetragen, aber ihre Insel wird diesem dennoch als erste zum Opfer fallen. Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahren in verschiedene Staaten ausgeflogen und auf sie aufgeteilt werden, es ist ihr also nicht einmal der Exodus als Gesamtvolk gewährt worden. Aber bevor sie untergehen, im doppelten Sinne, sind auf einmal amerikanische Linguisten bei ihnen aufgetaucht und haben ihre Sprache exakt zu dokumentieren begonnen. Die Sprache wird aussterben und mit ihnen das Volk der Tuvalu selbst, aber immerhin: Alles geht unter wissenschaftlicher Begleitung geordnet vonstatten.

R.: Ilija Trojanow meinte einmal, dass ihm beim Reisen das Fremde nie so schnell zugänglich geworden sei als in dem Moment, als er in Mumbay all sein Gepäck verlor. Dann sei man gezwungen, auf das Fremde aktiv zuzugehen.

G.: Interessante Geschichte. Ich selbst bin beim Reisen der vielleicht etwas konservativeren Auffassung, dass man umso mehr zu sehen und zu hören, zu begreifen und mitzufühlen vermag, je mehr man sich mit einer Materie schon beschäftigt hat. Wer eine Beethovensonate zum ersten Mal hört, hört weniger in ihr und aus ihr heraus als der, der sie schon zehn Mal gehört hat. Und ein Musiker, der dieses Stück einstudiert und fünfzig Mal gespielt hat, wird es tiefer verstehen als der, der es zum ersten Mal angeht. Natürlich muss sie auch auf den wirken, der sie zum ersten Mal hört. Und so wird es beim Reisen und bei der Begegnung mit anderen Kulturen auch gehen, dass man sofort und spontan sich in irgendeine Beziehung setzen kann, wenn man bereit ist, sich der Welt zu öffnen. Trotzdem ist die Beziehung dessen, der sich länger mit etwas auseinandergesetzt hat, tiefer. Und er ist auch weniger gefährdet, die Dinge misszuverstehen.

R.: Was wären Beispiele von Missverstehen in literarischen Texten?

G.: Die deutschen Popliteraten, zum Beispiel, sind darin wahre Weltmeister: Die fahren irgendwohin, sind stolz darauf, dass sie gar nicht wissen, wohin, und kultivieren die Fremdheit, von der sie glauben, sie wäre ein echt urbanistisches Lebensgefühl. Sie gehen in fremden Städten herum, haben keine Ahnung und halten das für ein besonderes Verdienst. Ein Topos ihrer Reportagen ist die Ankunft im Hotel, wenn sie unter dem Ventilator liegen und sich fragen, ob sie Rum oder Cola trinken, eine Prostituierte aufsuchen oder onanieren sollen. Besser wäre es jedenfalls gewesen, sie wären für das eine oder andere zuhause geblieben.

R.: Gibt es richtiges und falsches Reisen?

G.: Richtig und falsch, wer soll das bestimmen? Ich bin keiner von denen, die ihren Hochmut gegen die „Ach-so-dummen Touristen“ kultivieren. Jeder Reisende, selbst der Massentourist, wird auch von etwas urtümlich Archaischem angetrieben, jedes Reisen ist ein gewisser Aufbruch und mit einer gewissen Mühe verbunden. Natürlich gibt es aber zahllose Reisende, die genau so vorurteilsbeladen heimkehren, wie sie losgefahren sind. Die also weder richtige noch falsche, sondern überflüssige Reisen machen. Ich habe natürlich auch einige schwierige Reisen unternommen, in kulturelle Erdbebenzonen, bei denen ich nach meiner Heimkehr zwar wusste, dass mein Bild der Welt wieder etwas reicher und vielfältiger geworden ist, aber nicht unbedingt schöner.

R.: Gab es gefährliche Situation während Ihrer Reisen?

G.: Nein, gar nicht, und wenig Typen gehen mir mehr auf die Nerven als jene, die sich als Abenteurer bezeichnen, diese elendigen Nomaden mit der Golden Mastercard und der Flugrettungsrückholversicherungskarte. Aber ich bin natürlich öfter in die Gefahr geraten, dass eine Reise scheitert, und zwar an meiner Unfähigkeit und meiner Ungeduld. Wenn man so reist, wie ich es tue, um über diese Reisen dann zu schreiben, muss man sich vor allem in einer Fähigkeit ausbilden, in der Geduld. Und das ist bei mir eine heikle Sache, denn ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch.

R.: Das merkt man Ihren Texten kaum an!

G.: Danke. Es war aber schon so: dass ich mich in irgendeinem Dorf in Mazedonien oder Kalabrien aufgehalten habe und sich nichts, rein gar nichts getan hat. Sodass ich mich dazu zwingen musste, trotzdem dort zu bleiben, so lange, bis das Nichtstun schon schmerzhaft wurde. Nach vier Stunden geht man zum vierten Mal dieselbe Straße hinauf, kein Mensch redet einen an, man sitzt am Ortsbrunnen, man geht ins Café und es geschieht nichts. Und dann, wenn es schon fast unerträglich geworden ist, wenn man nichts wie weiterziehen will, geht eine uralte Frau vorbei, fragt: „Was machst eigentlich du da?“ und dann nimmt sie mich mit nach Hause und nach zehn Minuten sind 25 Leute da, Freunde, Nachbarn, Verwandte. Und jeder möchte dir seine ganz persönliche Liebesgeschichte und Lebensgeschichte erzählen. Auch ich bin längst so verformt, dass dauernd irgendwas Spannendes geschehen, sich etwas ereignen muss. Gerade auch im Urlaub. Es sei denn, man sitzt am Strand und schaut philosophisch aufs Meer hinaus, was manche können, ich nicht. Geduld ist für mich eine Arbeitshaltung, zu der ich mich diszipliniert nötigen muss. Ich bin sozusagen professionell geduldig und privat ein unangenehm ungeduldiger Kerl.

R.: Dann wechseln wir lieber rasch das Thema. Seit 1991 sind Sie Herausgeber von Literatur und Kritik. Davor sind Sie schon einmal – so habe ich gelesen – ein Jahr lang mit einer anderen Zeitung „fremd gegangen“, Sie haben ein Jahr Ihr Studium und andere Arbeiten vernachlässigt und sich in die „Fackel“ gestürzt. Stimmt das?

G.: Ja, das stimmt. Ich brauchte dieses Jahr, um sehr viel zu lernen und mich am Ende von Kraus auch befreien zu können. Er ist mir am Ende nicht mehr die unantastbare moralische Autorität gewesen, die er für seine Anhänger, man müsste eher sagen: Gefolgsleute war. Angezogen hat mich seine Sprachkritik, nein, er ist kein Sprachkritiker, seine Spracherotik war es, der ich verfallen bin. Und was ich auch in meinem privaten Fackel-Jahr gelernt habe: dass in einer Polemik, die man führt, manchmal auch Ross & Reiter genannt werden müssen. Es sind zwar Haltungen, die man verwirft und um die es geht, aber Haltungen manifestieren sich in Personen.

R.: Sie haben sich dadurch wohl auch einige Feindschaften erarbeitet?

G.: Das hat sogar dazu geführt, dass ich in manchen Kreisen den Ruf bekommen habe, ich suchte Feindschaften. Was überhaupt nicht der Fall ist. Ich suche und finde immer wieder Freundschaften. So ist das.

R.: Können Sie mit dem Begriff „moralische Instanz“, als die Sie auch bezeichnet werden, etwas anfangen?

G.: Sogar in eitlen Momenten nicht allzu viel. Das Wort hat doch etwas Abtötendes. Ich bin ein Mensch, keine Instanz. Wenn mich jemand loben würde, indem er mich als seine „stilistische Instanz“ bezeichnet, täte ich mir leichter. Es ist mir nicht angenehm, wenn mir jemand einen politischen Irrtum oder einen Fehler in der politischen Argumentation nachweist; aber wenn er mir eine schlechte Formulierung oder einen stilistischen Fehler nachweist, würde mich das weit mehr beschäftigen.

R.: Karl Kraus schätzte eine Literaturzeitschrift aus Tirol ganz besonders, nämlich den „Brenner“. Deren Herausgeber, Ludwig von Ficker, hatte ein ganz anderes Konzept als Kraus, er hat sich selbst ja nicht als Autor gesehen, sondern eher als Entdecker und Förderer.

G.: Als ich vor einem Jahr zu der schönen „Gaußiade“ mit ihren vier öffentlichen Veranstaltungen nach Innsbruck eingeladen wurde, bin ich natürlich auch nach Mühlau hinaus gezogen, die Anna Rottensteiner vom Literaturhaus am Inn hat mir den Weg dorthin gewiesen. Der Friedhof ist tatsächlich sehr stimmungsvoll, aber auch eine Stätte mit symbolischer Rangordnung. Ganz oben sind die Gräber von Ficker und Trakl. Die Frau von Ficker liegt erst drei Reihen weiter unten. Man könnte meinen, Ludwig von Ficker wäre nicht mit ihr, sondern mit Trakl verheiratet gewesen.

R.: Wo sehen Sie sich als Herausgeber von Literatur und Kritik zwischen Karl Kraus, dem großen Stilisten, der Sie ja auch sind, und Ludwig von Ficker, dem großen Entdecker und Förderer, der Sie auch sind?

G.: Als Arno Kleibel vom Otto Müller-Verlag mir angeboten hat, die Redaktion von Literatur und Kritik zu übernehmen, war die Situation der österreichischen Zeitschriften noch sehr übersichtlich. Da gab es die „Manuskripte“ mit ihren experimentellen, sprachkritischen Autoren, ums „Wespennest“ scharten sich die gesellschaftskritischen Autoren, in Innsbruck erprobten sich Klier und Holzer, leider zu kurz, mit ihrer „Gegenwart“, in der ich merkwürdigerweise als so was wie der Prügelknabe vom Dienst firmieren musste, ja, und Literatur und Kritik war sozusagen für das „schöne Ganze“ zuständig oder, negativ formuliert, für den Rest. Ich habe dann Schwerpunkte gesetzt, z.B. mit Literatur aus dem Balkan. Was wir vor zehn Jahren übrigens aufgegeben haben, da es nicht mehr nötig war, einige Verlage sind, oft auf unseren Spuren, dazu übergegangen, Literatur aus den Ländern im Osten Europas zu veröffentlichen. Was ich aber von Anfang an verspürt habe, als – auch wenn es blöd klingt – Auftrag oder Verpflichtung, das war, dass ich Literatur und Kritik nicht als meine „Fackel“ betrachten darf, sondern auch Autoren publizieren muss, die weder literarisch noch politisch auf meiner Linie liegen. Es gibt in jedem einzelnen Heft der Zeitschrift immer auch Texte, gegen die ich selbst Vorbehalte habe. Man kann einfach nicht hergehen, eine subventionierte Zeitschrift übernehmen, die in Dutzenden Ländern an Bibliotheken und Institute geliefert wird – und dann aus dieser Zeitschrift seine private Liebhaberei machen und nur die eigenen Vorlieben berücksichtigen.

R.: Soll eine Literaturzeitschrift nicht immer einfach die besten Texte bringen?

G.: Nicht zwingend. Ich glaube, dass Literaturzeitschriften nicht nach dem Prinzip von Readers Digest aufgebaut sein sollen. Da hätte ich es ja sehr leicht. Ich bin über die Jahre doch mit vielen österreichischen und internationalen Autoren bekannt geworden, so dass ich jedes Heft als kleine Anthologie ausgezeichneter Texte von oftmals sehr berühmten Beiträgern füllen könnte. Ich bin aber davon überzeugt, dass Literaturzeitschriften auch Autoren bringen müssen, die es gerade schwer haben, weil sie in einer Krise stecken, oder weil ihre Zeit jetzt vorbei zu sein scheint oder weil sie ganz am Anfang stehen. Eine Literaturzeitschrift ist keine Bestenlese, sie muss Autoren begleiten und sie manchmal auch ermutigen und das Schweigen, das um sie ist, durchbrechen.

R.: Wie ist das jetzt: Hält es der Gauß eher mit Kraus oder mit Ficker?

G.: Ich glaube, dass ich als Herausgeber nicht zwischen Kraus und Ficker stehe. Karl Kraus hat sein eigenes Lebensdokument in chronologischer Fortsetzung der Zeit und den Mächten entgegengehalten, Ludwig von Ficker hat Beachtliches geleistet, und was mir am meisten imponiert: dass dieser Mann, der selbst ja nur zwei oder drei Bücher in fünfzig Jahren geschrieben hat, ein unglaubliches Briefwerk verfasst hat. Sicher wollte er mit den Empfängern in einen geistigen Austausch treten, aber – so denke ich mir – das Schreiben dieser Briefe war für ihn wohl auch eine notwendige Selbstvergewisserung seines eigenen Denkens. Und besonders bewegend ist es zu sehen, dass es ihm wirklich egal war, ob der Empfänger ein berühmter Geistesheroe oder ein völlig Namenloser war, er hat an seinen Briefen gefeilt, mehrere Fassungen erstellt und so versucht, dem, was er sagen wollte, aber was er vielleicht selbst noch gar nicht richtig zu denken vermochte, schreibend näher zu kommen.

R.: Wie halten Sie es selbst, wenn Sie als Herausgeber an Autoren schreiben? Sie werden ja auch viele ablehnende Briefe formulieren müssen …

G.: Nein, ich schreibe überhaupt keine reinen Ablehnungsbriefe. Was sind denn das für Leute, die heute noch Literatur schreiben und an Literaturzeitschriften schicken? Ich glaube, innerhalb jeder Generation sind es immer ein paar der interessantesten Menschen, die ihre Sache ganz auf die Literatur konzentrieren, und daneben gibt es viele, die sich in persönlichen Krisen befinden und für die die Literatur ein Mittel ist, diese Krise zu bewältigen; in Wirklichkeit verschärft sie sie allerdings oft. Aber jeder, der schreibt und das von ihm Verfasste an einen Verlag schickt, gleich ob er genialisch oder nur unglücklich ist, gibt etwas sehr Persönliches von sich her, und natürlich hat er daher Anspruch auf eine Antwort, die nicht aus vorgedruckten Floskeln besteht. Oft ächze ich unter dieser Last, die auch eine psychische Belastung ist. Zumal – das muss ich leider sagen – es viele Texte gibt, bei deren Lektüre man schon nach ein paar Zeilen weiß, dass das nix ist und auch nix wird.

R.: Was tut man in so einem Fall?

G.: Ja, was macht man in so einem Fall? Wenn ich jetzt schreibe, tja, das ist leider noch nicht so ausgereift, arbeiten Sie doch in diese oder jene Richtung weiter, kann ich mir sicher sein, dass ich nach sechs Monaten den nächsten Text bekomme. Kann ich aber jemandem gleich die Hoffnung rauben und sagen: Lass es bleiben? Nein, das kann ich auch nicht, das steht mir nicht zu …
Zumal das Schreiben für denjenigen wohl etwas Bedeutendes, vielleicht etwas existenziell Entscheidendes ist. Und mancher Autor sich ja auch schreibend entwickelt, wie man ihm das selbst nach Lektüre eines Textes gar nicht zugetraut hätte. Kurz: Hier muss ich immer wieder einen Weg des Kompromisses mit mir selbst finden, und ein solcher Kompromiss ist immer ein fauler.

R.: In Tirol hatten Sie eine enge Verbindung zu Paul Flora. Wie ist diese Freundschaft entstanden?

G.: Ich bin mit meiner Frau in Salzburg in einem Café gesessen, am Nebentisch saßen zwei ältere Herrn. Das war vor ca. 20 Jahren. Dann steht einer der älteren Herrn auf, kommt zu uns an den Tisch und fragt: „Sein Sie da Gauß?“ Sag ich: „Ja.“ Und er: „Dann sein Sie aber ein gscheiter Mann. Bravo.“ Das war Paul Flora. Wir haben dann vereinbart, dass wir uns bald einmal treffen. Was umso leichter war, weil einer meiner besten Freunde, der Galerist Thomas Seywald, mit Katharina, der Tochter von Paul Flora, verheiratet ist. Und Paul Flora, der ein beispiellos großzügiger Mensch war, hat uns immer, wenn er nach Salzburg kam, zum Essen ausgeführt. Er war ja ein Sir und fühlte sich ganz dem Wunsch verpflichtet, dass jemand sich in seiner Gesellschaft oder an seinem Tische nicht langweile. Er war ein geistreicher Erzähler und außerordentlich unterhaltsam. Außerdem war er ein wahrhaft nobler Mensch, ich habe kaum jemanden kennen gelernt, der so selten etwas Schlechtes über andere erzählt hätte.

R.: Flora war ja auch ein sehr literarischer Mensch …

G.: Ja, er war tatsächlich der geborene Erzähler. Und er ist ja auch als Zeichner eigentlich ein Erzähler. Er hat mich auch auf einige Autoren aufmerksam gemacht, z. B. auf Jakob Philipp Fallmerayer und natürlich auf Norbert C. Kaser. Mit seinem Sohn Thomas hat er in Innsbruck ja einmal ein Kaser-Buch veröffentlicht, ganz in Eigenregie, im Galerieverlag des Sohnes.

R.: Und was denken Sie über Paul Flora als Künstler?

G.: Er war ein großer Könner, der im Unterschied zu vielen Könnern sein eigenes Schaffen mit viel Selbstironie betrachtet hat. Auf meine Frage, woran er gerade arbeite, hat er mir einmal mit dem grandiosen Satz geantwortet: „Derzeit bin ich nicht in Hochform, da zeichne ich am Vormittag einen Raben und am Nachmittag verkauf ich ihn.“ So was kann nur einer sagen, der Größe hat und sie sich nicht durch geniale Attitüden beweisen muss.

 

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