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Auf Ohrenhöhe

Das Alte im Neuen, das Neue im Alten, oder: Wie gegenwärtig ist die Musik zur Zeit? Matthias Osterwold, ab 2013 künstlerischer Leiter des Schwazer Festivals „Klangspuren“, über die Pfade zu den kostbaren Früchten der zeitgenössischen Musik.

Eigentlich ist Erfreuliches zu beobachten: Es steht gar nicht so schlecht um die immer wieder so genannte, nun schon über 100 Jahre alte „neue“ Musik zur Zeit. Scheinbar. Die von Konrad Boehmer angeführte hohe Zahl von etwa 100.000 E-Komponisten allein in Europa (in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 4/2012, S. 42) mag mit polemischen Hintergedanken reichlich übertrieben sein, dennoch ist die pure Zahl an jungen Komponisten und Komponistinnen (viele von ihnen übrigens aus dem ostasiatischen Raum) beeindruckend, vielleicht sogar beängstigend hoch. Aufs Ganze gesehen hat die Menge an Veranstaltungen und Veranstaltern neuer Musik unverkennbar und deutlich zugenommen, ebenso im Grad ihrer Vernetzung. Wenngleich von Ort zu Ort, von Land zu Land stark abweichend, finden die Veranstalter ein waches, aufgeschlossenes Publikum in wachsender Zahl. Sicherlich ist neue Musik, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor weit davon entfernt, wirklich populär zu sein. Das braucht sie auch nicht. Sie sollte nur im Spektrum der Gegenwartskünste ihren geachteten, selbstverständlichen Platz einnehmen.
Zum Stand: Ganz offensichtlich folgt neue Musik heutzutage keinem fassbaren, auch nur annähernd einheitlichen Leitbild mehr. Eine nicht-kontroverse Definition musikalischer Moderne und einer Ästhetik der Avantgarde hat sich längst aufgelöst, wenn sie denn je existierte. An die Stelle eines Kanons an Kriterien und Kategorien ist ein breiter, tiefgreifender Pluralismus individueller künstlerischer Sprachen und Positionen getreten, eine kaum übersehbare Vielfalt an unterschiedlichen Szenen, Strömungen und Netzwerken. Um hier das viel zitierte Aperçu eines derzeit omnipräsenten deutschen TV-Philosophen zu paraphrasieren: „Neue Musik“, was ist das, und wenn ja, wie viele?
Erinnern wir uns: In der Nachkriegszeit formierte sich die so genannte Darmstädter Schule des Serialismus und Post-Serialismus um die Kranichsteiner Ferienkurse als Kreis der „Gralshüter“ der ästhetischen Avantgarde in der Musik. Unter intellektueller Führung von Theodor W. Adorno bemühte man sich um einen kohärenten theoretischen Diskurs und reklamierte eine politisch-kritische Funktion der Neuen Musik mit großem „N“. Die strukturelle Komplexität in der Organisation des musikalischen Materials, eine rationale, nicht-affirmative, radikal der Innovation verpflichtete Ästhetik der Verweigerung (musica ex negativo) sichere, so die Behauptung, die gesellschaftliche Relevanz und das kritische Potenzial des Komponierens. Aber der so angeleitete theoretische Diskurs und die ihm folgende musikalische Praxis erwies sich zunehmend als hermetisch und ideologisch autoritär. Der Preis für diese Art von Gegenwartsbezug per definitionem war hoch. Denn diese Musik für Eingeweihte in splendid isolation führte zu einer elitistischen Abschottung gegenüber dem Publikum. Gesellschaftskritisches Selbstverständnis bei gleichzeitiger Abkapselung machte den paradoxen Zustand aus, der für lange Zeit verhinderte, dass Neue Musik ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangen und dort Akzeptanz und Zustimmung, mithin also gesellschaftliche Präsenz und Relevanz entfalten konnte. Moderne Bildende und Darstellende Künste wurden weithin beachtet, während Neue Musik ein Nischendasein führte, obwohl die öffentlichen Rundfunkanstalten und auch die Feuilletons ihr durchaus breiten Raum gaben. Vor dem Hintergrund des sich in den späten 1960er Jahren abzeichnenden Endes der westlichen Nachkriegsordnung, mit der Verwicklung und späteren Niederlage der USA in Vietnam und dem Auflodern der radikalen Studentenbewegungen, zerfiel das von der Darmstädter Schule geprägte Leitbild musikalischer Ästhetik, das innermusikalisch bereits Ende der 1950er Jahre durch die Auftritte von John Cage und den „New Yorkern“ in Donaueschingen und Darmstadt, und dann durch Fluxus und Minimal Music in den 1960er Jahren schockartig in Frage gestellt worden war. Nach einer kurzen Periode ideologisch aufgeladener Debatten während der 1970er Jahre über eine direkte Indienstnahme der Musik für linke politische Ziele mündete die Entwicklung in eine Phase, die in den 1980er und 1990er Jahren als „Postmoderne“ tituliert wurde und die noch heute als „Post-Postmoderne“, als „x-te Postmoderne“ oder wie immer wir sie nennen wollen, anhält.
Gemeint ist eine überaus bunte, diverse und verwirrende Szenerie, die sich in der Musik der Gegenwart und in den anderen Künsten herausgebildet hat und sicher nicht mehr einzufangen sein wird. Dennoch verharren weiterhin einige Apologeten in ihrem Elfenbeinturm wahrer Neuer Musik, dessen kritisches Fundament, unbemerkt von seinen Bewohnern, längst zerbröselt ist. Nach dem Zerfall eines in sich schlüssigen und kohärenten Diskurses stellt sich die Frage nach Gegenwartsbezug und Diskurszusammenhang der seitdem entstandenen zeitgenössischen Musik neu, und sie stellt sich wesentlich vielschichtiger. Überspitzt gefragt: Gibt es seit den 1970er Jahren überhaupt noch Neue Musik? Und was wäre an ihre Stelle getreten? Zumindest können wir die Großschreibung des Neuen in der neuen Musik getrost fallen lassen und das „neu“ in Kleinschreibung zunächst einmal nüchtern reklamieren für das, was jeweils chronologisch an neuer Musikproduktion entsteht, nicht ohne allerdings nachzuhaken, was außer der faktischen Neuigkeit sich künstlerisch an diesen Werken an Neuem festmachen ließe. Wenn etwas groß zu schreiben wäre, dann charakterisiert die von Jürgen Habermans diagnostizierte Neue Unübersichtlichkeit auch die Musik sehr treffend.
Wer sich der Mühe unterzieht, die künstlerisch ambitionierte Musik der letzten Jahre ordnen und systematisieren zu wollen, wird sich leicht verirren. An die Stelle einer wie immer noch einem linearen Fortschrittsbegriff verhafteten Beschreibung von Entwicklung tritt das Bild eines Patchworks nicht nur unterschiedlichster individueller Ästhetiken, sondern eines Knäuels von ungleichzeitigen, unverbundenen und in hohem Grade unverbindlichen Strömungen. Wir haben es mittlerweile mit dem Nebeneinander unterschiedlicher Musikbegriffe zu tun. Gattungs- und Genregrenzen lösen sich auf, während sie sich gleichzeitig reproduzieren. Neue interdisziplinäre und intermediale Formen breiten sich aus, Übergänge zu anderen künstlerischen Gattungen wie Bildende Kunst, Tanz, Literatur und Medienkunst werden fließend, während parallel dazu in Gegenrichtung eine deutlich konservative Rückbesinnung auf konventionelle Formate der Konzertsaalmusik – Orchester- wie Kammermusik – oder konventioneller Typen des Musiktheaters bzw. der Oper zu verzeichnen ist. Konstruktion und Dekonstruktion, Konvention und Verweigerung prallen munter aufeinander.
Baudelaire forderte den unbedingt modernen, auf der Höhe der Zeit agierenden Künstler, der Werke schafft, die zu keinem früheren Zeitpunkt hätten entstehen können. Sollen wir an dem normativen Postulat der Moderne festhalten, dass es die Aufgabe der Künstler sei, als Zeitgenossen und Zeitzeugen Gegenstände, Verhältnisse und Zustände ihrer Gegenwart Differenz bildend zum Vorschein zu bringen und zu spiegeln, allerdings ohne dabei in irgendeiner Weise rein beschreibend oder illustrativ vorzugehen? Für mich liegt hier der Kern künstlerischer Relevanz verborgen, die zugleich eine politische ist. Für die zeitgenössische Musik von heute hieße dies, dass wegen des Fehlens eines zusammenhängenden Diskurses diese Forderung differenzierend an jedes einzelne musikalische Kunstwerk, an jede individuelle künstlerische Position heranzutragen und anhand der Prämissen und künstlerischen Setzungen, auf denen jedes Werk immanent fußt, zu überprüfen wäre. Aus dem Inneren der Werke heraus wäre zu untersuchen, welches Spannungsverhältnis das jeweilige Stück zu seiner Zeit aufbaut, wie es sie in Erscheinung treten lässt oder sich von ihr absetzt. Äußere Kriterienkataloge an den Werken abzuarbeiten, reicht für die Analyse und kritische Einschätzung nicht aus. Es genügt für sich genommen nicht, das Vorhandensein bestimmter äußerer Merkmale zu konstatieren, die Gegenwärtigkeit bzw. Modernität signalisieren, etwa den Einsatz neuartiger digitaler Technologien bei der Erzeugung, Bearbeitung und Organisation von Klängen oder etwa Zitate oder Anverwandlungen zeitgemäßer musikalischer Idiome aus der Massen- und Popkultur und dergleichen. Wohl stellen diese Formen von Musik einen expliziten Gegenwartsbezug her, indem sie gewissermaßen „Gegenwart“ unmittelbar zum Klingen bringen. Aber sie sind auch erhöhter Gefahr schnellen Alterns ausgesetzt.
Andere Formen von Musik verweigern bewusst diesen unmittelbaren Gegenwartsbezug. Sie sind „nur“ pure Musik. Wie lässt sich die Forderung nach Gegenwartsbezug in der zeitgenössischen Musik überhaupt sinnvoll aufrechterhalten, wenn doch die Abstraktion absoluter Musik, ihre Selbstreferenzialität und das Fehlen von Abbild- und Verweischarakter in der Musik nach wie vor eines ihrer tiefsten Wesensmerkmale ist? Vielleicht wird in einer Musik, die radikal ihre Eigenzeit organisiert (wie bei Morton Feldman, oder auch bei den Musiken des Auslassens von Antoine Beuger, bei denen überaus selten überhaupt noch Klänge zu hören sind, so dass Wahrnehmung sich schärft und mit Ungeduld auf einzelne separate Ereignisse fokussiert, oder bei Klaus Lang in der alogischen Ereignislosigkeit langer Klangbänder), ein so hohes Maß an Präsenz erreicht, dass – in der Negation – Gegenwart, auch gesellschaftliche Gegenwart, besonders deutlich zum Vorschein kommt. Beharrend auf dem Konzept des Erhabenen, den Riss im Verhältnis zum Kontinuum äußerer Zeit pointierend, könnte das am gesellschaftlichen Zeitfluss gemessen unzeitgemäße Stück besondere Brisanz entfalten.
Mir scheint, dass sich diesseits aller ideologischen Debatten über musikalische Ästhetik mittlerweile eine gewisse Gelassenheit des Hörens eingestellt hat, das sich auf das sinnliche Moment in der Wahrnehmung konzentriert und gegenüber der intellektuellen Beanspruchung durch die Autoren erstaunlich unaufgeregt bleibt. Ob damit ein Verlust oder ein Gewinn an Gegenwart des musikalischen Kunstwerks einhergeht, bliebe zu fragen. Büßt beispielsweise die Musik von Helmut Lachenmann gesellschaftliche Schärfe ein, nur weil wir heute mehr geneigt sind, die Schönheit ihrer vielfältigen klanglichen Nuancen hörend, ja genießend anzunehmen und weniger auf die philosophisch-kritischen Implikationen ihrer Verweigerungsästhetik zu achten?
Die Lage ist herrlich unübersichtlich. Aus meiner Sicht kommt es für den musikalischen Vermittler darauf an, in dem wuchernden, fruchtbaren Dickicht ungleichzeitiger, unverbindlicher, disparater und inkommensurabler Positionen die Spuren sorgfältig zu lesen und Pfade zu bahnen, die zu den kostbaren, frischen und seltenen Früchten der Kunst führen; Raum zu schaffen für Experimente des Denkens und der Rezeption, für Geheimnisse und das Risiko künstlerischen Scheiterns, für die Magie des Hier und Jetzt der Aufführung, für die Gegenwart der Performance. Die Zeitgenossenschaft des „Musikkurators“ besteht darin, neben dem musikalischen auch das künstlerische, kulturelle und gesellschaftliche Geschehen insgesamt aktiv zu verfolgen und vor diesem Hintergrund Felder der Befragung abzustecken, wo unvoreingenommen, lustvoll und nicht-hierarchisch, gewissermaßen auf „Ohrenhöhe“ die Begegnungen, Dialoge und Kontroversen der musikalischen Imagination stattfinden können, wo durch Ort und Format der Veranstaltung, durch überraschende Programmauswahl und das Auslegen thematischer Fäden eine Rekontextualisierung der Werke und ihrer Rezeption möglich wird.
Die Frage nach dem Gegenwartsbezug und nach der Aktualität musikalischen Schaffens aufzuwerfen heißt, ihre dialektische Verneinung zugleich mitzureflektieren. Dass sich das Aktuelle oft als das am schnellsten Vergängliche erweist, das ewig Neue oft als Strategie der Illusionierung, gehört ureigen dazu. Dennoch muss das Aktuelle zum Vorschein kommen, um erkannt und vergänglich zu werden. Umgekehrt kann höchste Aktualität gewinnen das schon Existente, der Bestand an Traditionen, der als lebendige Gegenwart aus neuen Blick- und Hörachsen erfahrbar wird und durch Künstler neu anverwandelt werden kann.
Das Aktuelle ist immer auch das noch Unbekannte und das noch nicht Dagewesene, das Fremde, das noch zu Entdeckende, die experimentelle künstlerische Praxis, die Erweiterung und Überschreitung überkommener oder selbstgesteckter kultureller Horizonte in interkultureller Perspektive, vertikal durch die Schichtung der ungleichen Gesellschaft gelegt, horizontal in der Begegnung geographisch beschreibbarer kultureller Sphären, als Chance auf Zukunft.
Als Kunst organisierter Zeit bewahrt Musik ihre Gegenwart in sich selbst als Rätsel.

 

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