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Karwendeln, im Juli Landvermessung
No. 4, Sequenz 1 Scharnitz, Pleisenspitze, Arnspitze

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns nun auf der Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen ins Trentino führt. Lydia Mischkulnig begegnet auf ihrer Wanderung Holländern, kann sogar ihr Mobiltelefon benutzen und kommt mit einer kaputten Schuhsohle bis auf den Gipfel.

Scharnitz. Letztes Eck von Tirol. Das Gasthaus „Goldener Adler“ liegt an der Kurve neben der Kirche, praktisch auf einer Verkehrsinsel zwischen Isar und Straße, die nach Garmisch-Partenkirchen und in die Täler des Karwendels führt. Vom Balkon fällt der Blick direkt auf die Geleise der Karwendelbahn, die zwischen Innsbruck und München verkehrt. Das alte Niemandsland, das einst die europäischen Mitgliedsstaaten voneinander abgrenzte, liegt im Sattel gleich hinter Scharnitz, bildet den Einschnitt in den Bergstrang zu Deutschland. Der Durchzugsverkehr ist am Freitag und Samstag besonders stark. In aller Früh rauschen die Gäste aus ihren Quartieren ab, und am Nachmittag strömen sie aus den Niederlanden und Deutschland heran. Scharnitz hat 300 Gästebetten und geschätzte 1.300 Einwohner. Die Häuser sind renoviert, die Neubauten gepflegt. An der engsten Stelle drängen sich die Gebäude zu einem Kern, den die Straße jäh durchschneidet. Der „Goldene Adler“ an der Schnittstelle des Dorfes vermietet Zimmer mit Schallschutzfenstern. Der Internetauftritt des Gasthauses verleitet zur Phantasie, von Abgeschiedenheit und Stille umgeben zu sein, in idyllischer Bergigkeit, Einsamkeit. Im ersten Augenblick bot die Ankunft eine herbe Enttäuschung: Scharnitz war laut, befahren wie ein hochtouristischer Ort, aber völlig abseits vom Schuss. Das Gasthaus besaß dennoch seinen Charme, der sich erst auf den zweiten Blick eröffnete. Die Ambivalenz der Geschichte des Hauses umfing uns. Es roch nach Küche, Schank und Rauch. Das Holz wirkte warm und brach die Kälte der Steinmauern. Die Einrichtung war schlicht, funktional, aber echt im Unterschied zum Bauernkitsch anderer Gasthäuser. Der „Goldene Adler“ liegt in der Senke und bildet sich als Kern im Ortskern heraus, sobald man im Garten Platz nimmt. Oben läuft die Hauptstraße durch, sie verliert ihre Trostlosigkeit durch die Bäume, die der verpatzten Raumplanung österreichischer Straßenbaupolitik mit Schatten spendender Krone trotzen. Seefeld liegt nicht weit entfernt von Scharnitz, gibt sich mondän, berühmt für sein Allerwelts-Casino, strotzend vor Unpersönlichkeit und Kitsch im Spiegel der Allerwelts-Touristik. Scharnitz strahlt Eigenwilligkeit aus, mit dem „Goldenen Adler“, dem Kirchlein, der Gedrängtheit rund um die Durchzugsstraße, dem Bella Vista Cafè-Restaurant, wo der Chef des Hauses gegen die falschen Versprechungen wettert. Als er das Haus übernommen hatte, rechnete er noch mit einer Goldgrube. Viele Leute würden einkehren, hatte es geheißen, aber die meisten Gäste befinden sich auf der Durchfahrt und nicht auf der Suche nach einer Erfrischung oder Erholung auf seiner Straßenterrasse. Wer ins Bella Vista geht, der kommt wirklich nach Scharnitz. Die Einheimischen arbeiten hier im Tourismus, auf den Berghütten, den Skiliften, in den Gewerbebetrieben der Umgebung, pendeln bis nach Innsbruck, Mittenwald oder Garmisch-Partenkirchen. Die Zimmerwirtin spürt unsere Skepsis, mit der wir ins Gasthaus einziehen. Der Verkehr ist laut, mitten im Gebirge nach stundenlanger Fahrt ist die Toleranz, weiteren Autolärm zu ertragen, geschrumpft. Sollen wir überhaupt bleiben? Das Wetter für den nächsten Tag verspricht Sonne und Hitze, das heißt, früh aufzustehen und bis Mittag am Gipfel zu sein. Zum Glück beschlossen wir zu bleiben. Der Charme des Gasthauses erschloss sich uns, als wir über den Parkplatz guckten, am Nachbarhaus vorbei, und zwischen Zugbrücke und Straße den Streifen der vorbeirauschenden Isar ausnahmen. Wir befanden uns an einem Verkehrsknotenpunkt der besonderen Art. Alle Wege sämtlicher terrestischer Fortbewegungsmöglichkeiten fließen hier zusammen. Dieses Momentum der Echtheit in Echtzeit barg die Ironie der Vorstellung vom Gebirge. Es gibt keine Bergidylle und deshalb fährt man ins Karwendel. Wer weiß, dass hier Todesmärsche stattgefunden haben, dass diese Gegend als Alpenfestung der Nazis geplant war, sucht nicht Idylle, sondern Hinweise auf Erinnerung. In Seefeld gibt es ein Denkmal und einen jüdischen Friedhof, wo die Opfer bestattet wurden. Die Stuben des Gasthauses tragen keine Zeichen der erschütternden Geschichte. Die Räume sind von Kopf bis Fuß original-getäfelt und verweisen nur auf ihr Alter. Die Fenster sind klein, das Glas ist geätzt und geritzt, kunsthandwerklich gestaltet. Erstaunen darüber, dass es während des Bombardements 1945 nicht geborsten und zersplittert ist. Wir besetzen den Balkon und feiern unsere Ankunft am Ort der Wege und Weiser. Scharnitz bietet Aufstiege ohne W-Lan und Internet, nichts für Work-aholics, aber Aufbruchsstätte für Stubenhocker. Die Nacht ist kühl und in Tücher und Jacken gehüllt sitzen wir im Hohsommer auf dem Balkon und trinken Wein. Schon ab zehn Uhr abends herrscht Stille im Ort. Nur die Isar braust.

Nur wenige Kilometer entfernt entspringt der Fluß, aber trotzdem ist uns der Weg zu weit und zu monoton. Die Wirtin rät, Mountainbikes auszuborgen. Das Wasser treibt weiter und wir treten in die Pedale. Die angeschwemmten Kiesel werden einige Kilometer pro Tag von der Strömung mitgenommen. Kanten und Ecken schleifen sich ab. Jeder Stein ist einzigartig, heißt es, wenn Reiseführer auf die Naturleistung hinweisen. Trotzdem sind die Kiesel nichts extra-ordinäres, nur austauschbar und wie verworfen liegen sie aufgehäuft im Schotterwerk. Nur endliche Metalle wie Gold, Ressourcen wie Öl gelten als Wert. Die Gipfel leuchten gräulich im Hellblau des Himmels. Sie verschwinden hinter den Wipfeln, sobald wir im Wald sind. Auf dem Parkplatz des Wiesenhofes stellen wir die Räder ab. Ein paar Autos sind bereits abgestellt. Sogar in der Pampa werden dafür Gebühren eingehoben. Der Parkplatz ist privat errichtet, um Kunden zu gewinnen und die Kosten zu amortisieren, ist der Rabatt für die Gebührenpflicht an eine Konsumation im Wiesenhof gebunden. Dafür haben wir Verständnis und bestücken sogar unsere Räder mit den Bons, die wir aus dem Automaten drücken. Wir bahnen uns in Schlingen den Bergfuß hoch, bis der Forstweg zu langweilig wird. Querwaldein schlagen wir uns durch das Dickicht der Fichten, kämpfen uns durch immer dichter und höher wachsendes Gras. Walderdbeeren blitzen rot aus dem Grün und locken, den Anstieg zu bewältigen. Baumstrünke bieten Platz für eine Rast. Das Moos ist feucht, die Nässe hat die Schuhsohlen aufgeweicht und abgelöst. Ich binde sie mit dem Schürsenkel fest.

Das Mobiltelefon hat Saft, das Signal für den hergestellten Internet-Kontakt ertönt. Je höher wir kommen umso besseren Kontakt zur Welt, mit der wir verhangen. Jetzt sind wir also auch vom All aus ortbar. Unten in Scharnitz sind wir aus der Satellitensicht nicht zu erfassen, aber am Berg endlich in Reichweite. Wären wir der Natur verbunden, würden wir die Mobiltelefone abschalten? Erleben wir Kitsch als echt? Unseren Lebensweisen entspricht es, mit Mobiltelefonen ausgerüstet zu sein. Wir akzeptieren erfreut, dass sie in den Bergen fabelhaft funktionieren. Man ist auch Bergsteiger, wenn man als kommunizierender Mensch in den Bergen herumstiefelt. Die abgehende Sohle meines Wanderschuhs schlurft. Wir beschließen, nicht zu telefonieren, sondern die Berge zu genießen und mit- einander ohne den Rest der Welt im Gebirge zu sein. Die Kehren kreuzen den wild eingeschlagenen Pfad, wir queren und streifen durch Mischwald. Unter dem Geäst der Fichten haben Ameisen ihren Bau aufgeschichtet. Die Sonne scheint auf das Getümmel. Zu- und Ausgänge bilden kleine Löcher, wie Schießscharten einer Festung, die den Staat birgt. Erdbeeren wachsen gleich daneben. Wir kommen nicht mehr auf den Weg zurück. Die Karte gibt keine genauere Auskunft, das Ortungsprogramm unserer Mobiltelefone ist langsam, die Ungeduld treibt uns, selbst Auswege zu finden. Auf einer Lichtung bieten morsche Baumstrünke Platz an. Hier wird noch einmal das GPRS eingeschaltet. Jetzt bei Tag sind die Geräusche fast sichtbar. Zirpen, Summen, Wind. Rundum ragen die Spitzen als Kalkgestein und schroffem Schiefer auf. Steinbrocken liegen herum, rund, als wären sie Hinterhäupter. Totenschädel. Wanderer, die ins Gras bissen. Im Kalkgestein hausen Fossile. Große Steinbrocken peckt man mit Spitzhacke oder Messer auf. Abdrücke von versteinerten Urtierchen treten zu Tage. Und wie vergänglich leuchten die Erdbeeren. Obwohl Hochsommer ist und die Temperatur auch in 2.000 Meter Höhe über die dreißig Grad klettern kann, sind die Beeren noch unreif, denn die Süße fehlt ihnen, obwohl der Geschmack von Wald, Boden und rauer Luft sich in der Frucht schon bindet.

Der Himmel ist hell wie ein Vergiss-mein-nicht, der Bergrücken reflektiert das Licht. Das Massiv der Rotwandlspitze hebt sich wie Schultern empor, als wollten sie Atlas entlasten. Wo die Sonne nun hinbrennt, rösten die Schlangen. Karwendel schmeckt nach Lavendel, wenn die Faust voll ist und die Früchtchen alle auf einmal zerkaut werden. Auf dem Baumstrunk sitzend und verloren auf dem Wege nach oben, zur Kuppe des Pleisenberges blinzelnd, läutet das Mobiltelefon. Während nun eine kleine Konferenz stattfindet und über Rabatte verhandelt wird, entdeckt ein Pfifferling sein Haupt. Das Geäst der Nadeln, der Moosfasern, aus dem Myzel hervorstrahlend, gelb wie eine Sonne, gibt er sich zum Pflücken hin, obszön in seiner Präsentation, die jetzt dran glauben muss. Das Myzel wird kastriert, die Frucht abgeschnitten mit dem Taschenmesser. Die Sonne brennt auf die Hänge und verwandelt die Wanderlust in eine Südsee-Phantasie. Das Urmeer, aus dem hier das Gebirge entstieg, ist im Prinzip auch nur verdampft. Kalkschichtungen marmorieren die Bruchstellen der Brocken, die aus Erde ragen und mir als Stufe diene. Ich setze den Fuß auf, um die sich ablösende Sohle neu zu fixieren. Der Alpenboden federt unter den Füßen. Die Sohle verrutscht leicht, auf Zehenspitzen von Stein zu Stein trippelnd, muss ich sie alle paar hundert Meter einrichten. Latschen wuchern, hüfthohe Föhren verwachsen zum Dickicht. Die Fichten werden seltener, dafür nimmt der Bestand von Lärchen zu. Die Botanik wechselt ihren Look bei jedem Höhenmeter. Das Gebirge breitet seine zackige Formation über der Baumgrenze aus, nackter Stein, geologischer Strip. Die Alpen wachsen. Der Stein ist nicht tot. Außerdem wird er belebt. Adler, Habicht, Murmeltier, Wild und sanftstiller Bewuchs aus Moos. In den Schichten des Schiefers lagert das Steinöl. Es muss bergmännisch gewonnen, herausgeschlagen und geschmolzen, gefiltert werden, bevor es pharmazeutisch und für die Kosmetik genutzt werden kann. Der Berg, eine Brust aus Stein, nährt mit Erz und Salz, Blei und Trinkwasser.
Der Bergrücken ist im direkten Sonnenlicht ausgeleuchtet und bietet seine Glätte als Projektionsfläche an. Heimatfilme. Alpenkino.
Die Kälte eines herabschießenden Baches schütten wir uns flaschenweise in den Mund, über die Stirn und den Nacken. Die Hitze ist unerträglich für eine Bergwanderung. Wir folgen der Vernunft und bleiben in der Nähe des Baches, gehen zum Forstweg zurück, diesen hinan zur Hütte unterhalb der Pleisenspitze.
Die Aussicht zwingt zum Verbleib. Die Südkette des Hohen Gleirsch und das Halltal bis zum Großen Bettelwurf scheinen zum Greifen nah. Die i-Phones sind mit Skyline-Detektoren ausgestattet. Wir legen das Okular an und nützen die Funktion, nehmen die Gipfel ins Visier und rufen ihre Namen ab. Riegelkarspitze, Hinterödkopf, Kaskarspitze, Großer Katzenkopf. Die Höhen erreichen Spitzen bis zu drei Kilometer über dem Meeresspiegel. Diese Masse erwuchs aus Meeresboden. Riff und Lagune. Schicht auf Schicht gelagert, wächst es immer noch. Das Gestein. Die Alpen entfalten sich seit Millionen Jahren um einen messbaren Millimeter pro Jahr. Die Erde bildet sie sich seit dem Urknall aus, die Klüfte und Risse werden sich eines Tages am Ende aller Zeiten glätten? Breitet sich das All mit der Welt aus? Kommt Zeit für einen Urknall? Der Kältetod ist sicher. Auch hier in den Bergen. Eis, Schnee. Winterreste in den Rinnen des Gebirges Richtung Seefeld.

Die Hütte ist bei der Hitze tagsüber nicht gut besucht. Im Grunde bietet sie sogar für die Nacht Platz. Die Zimmer fungieren als Matratzenlager. Die Wirtin kocht, serviert, berät die Gäste und leistet erste Hilfe auf der Terrasse. Die Schirme geben nur wenig Schatten. Die Speisen sind köstlich, Sauerkraut mit Scharnitzer Wurst, Speck und Aufstrichen. Die Jause wird in Tirol Brotzeit genannt. Die Wirtin lebt sommers auf der Hütte, im Winter ist es zu rau, die ganze Woche hier heroben zu bleiben. Die Matratzenlager werden gern von Bergsteigern genützt, die erst nachmittags eintrudeln, um am nächsten Morgen in aller Frühe die Spitze zu erklimmen. Im Winter ist kaum Betrieb, interessiert der Gipfel nur wenige Gäste. Wie steil ist es bis zum Gipfelkreuz? Als trauten wir unserem eigenen Ermessen, den eigenen Augen und Ohren nicht, suchten wir Bestätigung aus dem Mund der Einheimischen. Es ist vor allem heiß, der Weg führt durch den blanken Stein in praller Sonne. Zwei Stunden dauerte die Tortur mindestens. Die Wirtin weist auf meine Schuhe hin. Es sei wenig ratsam, unter Materialermüdung aufzusteigen. Sie bringt Doppelklebeband und Tixo zum Tisch. Vielleicht gereichen die Utensilien zur Reparatur, damit ich die Wanderung nicht abbrechen muss. Ein junger Mann, verschwitzt bis auf das letzte T-Shirt, poltert über die Terrasse und Steinchen aus den Rillen der profilierten Sohle bleiben liegen. Die Sohlen meiner Turnschuhe erregen Aufmerksamkeit. Sie sind zu rutschig für das Gipfelkreuz. Das täuscht nur, behaupte ich und klebe die Sohle mit dem Doppelklebeband an den Schuh, presse die Teile mit meinem ganzen Gewicht gegeneinander. Schließlich hält die Konstruktion sogar.

Ein Bergsteiger-Pärchen bringt das Holz der Terrasse zum Schwingen. Das Geröll knirscht noch unter den schweren Tritten. Der junge Mann zieht das Hemd aus, wirft es über die Lehne, während die Begleiterin es auffängt und zum Lüften ordentlich ausbreitet. Sie bleibt wie selbstverständlich angezogen. Im Gebäudeschatten genießen wir die Aussicht, die wir den ganzen Tag schon vor Augen haben. Das Panorama bleibt immer gleich, aber die Perspektive ändert sich stetig. Von hier ist der Blick am schönsten, behauptet einer der Bergsteiger. Er ist stolz auf seine Leistung, denke ich. Alle zehn Meter mögen sich weitere Einblicke auf Gipfel,Täler, Klüfte und Halden eröffnen, das Gebirge ist vielschichtig.

Das einstige Meer ist zum Gerippe erstarrt. Die Witterung hat Hohlformen geschaffen, Talflanken gebildet. Bruchflächen sind für Geologen offene Bücher, aus denen sie Erdgeschichte erlesen, um Zeitabschnitte zu bestimmen, den Übergang von Trias zu Jura zu studieren, und die Entstehung der Erdkruste zu erforschen. Auf der Terrasse sitzen die Landschafts-Genießer. Auffällig ist, dass Bergsteigerinnen selten allein unterwegs sind. Mit Sonnenaufgang musst du den Aufstieg vollziehen, sonst stirbst du in der Hitze, hören wir vom Nebentisch. Was hat man davon, hinaufzugehen? Frag ich mich. Die Berge können süchtig machen, heißt es, lass dich verführen vom Fels.

Wir blättern in den ausgelegten Broschüren, informieren uns über die hier erfahrbare Natur. Hermann Hesse wird zitiert. Er gibt die Klänge der Isar als synästhetische Komposition wieder. Es wird mit den Augen gehört. Wir hören auch mit den Augen, ganz genau hören wir die Weite, das Himmelblau und sehen nicht den Autolärm, das Almrauschen unserer Mobiltelefone. Ameisen krabbeln stumm und es gibt kein Geräusch, obwohl tausende Nadeln berührt sind. Ein Ameisenhaufen von 250 Kubikzentimetern beherbergt eine Population von etwa 5.000 Insekten. Wer weiß, wie lange sie für die Beseitigung eines menschengroßen Körpers oder Kadavers bräuchten.

Die Pleisenspitze liegt im Mittagsdunst. Die Isar schlängelt sich als blaugrüner Strich unten durchs Tal. Sie schimmert wie eine Blindschleiche durch das Geäst. Kühl und erfrischend, während Arnika und Almrausch besummt werden. Bremsen setzen sich auf die Haut, werden von flacher Hand erschlagen. Der Tritt in die Bergflanke sitzt und die Hitze wirft sich übermächtig zurück, so dass wir zurückscheuen und auf die Spitze verzichten. Meine geflickten Schuhe dienen nun doch als Ausrede.

Zurück geht’s über den Forstweg. Der Parkplatz, wo unsere Räder stehen, liegt schon im Schatten des Tales. Eine Schweizer Familie aus dem Uri tourt mit neuem Auto durch Österreich und hält im Wiesenhof Rast. Die Autofahrer sind vernarrt in die Tiroler Berge, in die Lässigkeit des österreichischen Naturschutzes. Man darf das Auto überall parken, fast kann man bis zum Gipfel fahren. In der Schweiz gibt es striktes Fahrverbot schon in geringeren Höhen. Aber auch hier rund um Scharnitz sind die schönsten Abschnitte autofrei gehalten und nur zu Fuß zu erwandern. Die Preise für die wenigen zugelassenen Taxis sind geschmalzen.

Im „Goldenen Adler“ erfahren wir, dass die Nähe Mittenwalds nicht nur Anreiz für Deutsche darstellt, in Österreich den Urlaub zu verbringen, noch lieber kommen sie, um hier zu arbeiten; wegen des 13. und 14. Monatsgehaltes. Vor dem EU-Beitritt gab es die Grenzgängerbescheinigung, die es jedem erlaubte, im anderen Land zu arbeiten. Die Steuern sind an den Wohnsitz gebunden.

Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes nehmen wir die Arnspitze nordwestlich von Scharnitz in Angriff. Die Wirtin warnt uns. Es sind schwere Gewitter vorhergesagt. Der Aufstieg erfordert drei Stunden. Auf der Suche nach dem Grenzstein zwischen Österreich und Deutschland, den wir als auffällige Markierung imaginieren, geraten wir am Ufer der Isar zur Festungsmauer der Porta Claudia. Goethe hatte die Festung auf seiner Italienreise beschrieben. Sie verriegelte das Tal, galt als Befestigungsanlage gegen die Schweden im dreißigjährigen Krieg. In den napoleonischen Kriegen wurde sie eingenommen und geschliffen, als Tirol an Bayern fiel. Der Weg führt am Sockel des Fundamentes entlang.

Durch den Wald streifend, verlassen wir den langweiligen Forstweg. Mountainbiker sind unterwegs, beißen sich das Steilstück hoch. Wir kämpfen uns lieber durch das Gestrüpp und lauschen dem Kreischen eines Sägewerkes, das im einstigen Niemandsland zwischen Scharnitz und Deutschland liegt. Zu Mittag läuten die Glocken. Danach herrscht Samstagsruhe.

Zwischen den Bäumen durch sieht man weit in die Ebene von Mittenwald. Hin und wieder tauchen rot lackierte Pfosten auf, kniehoch, mit aufgesetzten weißen Kappen. Verläuft die Grenze über den Pfad oder ist der Pfad die Grenze? Wächter gibt es hier nicht mehr zu befragen. Irgendwo liegen die originalen Grenzsteine herum, vom Moos und Gras überwachsen. Auf Baumstämmen hängen die Schilder des deutschen Alpenvereins. Die Isar fließt aufwärts, scheint mir, Richtung München, das etwa eine Autostunde entfernt ist. Auf dem Weg zur Arnspitze schimmert das silbrige Dach eines aufgelassenen Bleibergwerks durchs Geäst. Wie weit ist Berchtesgaden entfernt? Salzburg? Zwei Autostunden.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde in dieser schönen Gegend ein Gemetzel veranstaltet. Tausende KZ-Häftlinge wurden zu Kriegsende aus den Konzentrationslagern ins Karwendel verfrachtet und zu Tode gejagt. Dazu der ständige Alliierten-Beschuss, nur wenige erlebten die Befreiung.

Auf dem Grat des überhängenden Felsens ragt ein Kranz aus Fichten wie geschwungene Wimpern in die Höhe, als blickte dort oben das Auge des Berges ins Tal. Wolken ziehen auf. Erst sind es nur weiß gehauchte Schleier, dann verdichten sie sich zur opaken Decke, immer dunkleres Grau bauscht sich auf und schiebt sich vor, bis der Himmel unheilschwanger verdunkelt ist. Wind säuselt und zischelt, Bäume ächzen im anwachsenden Sturm, die Wipfel neigen sich. Der Abstieg ist gefährlich, die Steine sind locker, nicht festgetrampelt, doch mein Schuh hält. Der Pfad wird nicht gewartet, er wird zu wenig genützt. Die Stümpfe der im Hang gefällten Bäume dienen als Haltegriffe. Das verschlungene Wurzelwerk gereicht zum Geländer. Im belaubten Teil des Waldes treffen wir wieder auf den gemauerten Sockel der Porta Claudia. Die wahren Ausmaße der Festung eröffnen sich, sobald man hinaufklettert und auf dem Sockel das terrassierte Plateau entdeckt. Bäume wachsen auf den verschütteten Resten. Buschwerk. Farn. Immer höher steigt man an, von Plateau zu Plateau. Die einstigen Stockwerke der riesigen Festung schmiegen sich an den Felsen. Der höchste Punkt wird von einem punkerartigen Bau bekrönt. Das Gras ist weich und der Boden trocken. Die Wolken kumulieren wie schwarzer Schaum, noch ist kein Tropfen zu spüren. Der Ausblick ins Bayrische unter dem mit Gewitter sich aufladenden Himmel entspricht Waldmüller’schem Idyll.

Und dann hören wir den Gruß: Gute Mittagszeit. Im Gras auf der Bel Etage der Ruine liegen zwei holländische Touristen. Einer meiner Begleiter, ebenfalls Holländer, scherzt über Scharnitz, dieses letzte Eck in Tirol, das so schön ist und eine Schlossruine bietet, die gleichsam unberührt wäre, wenn nicht zwei Holländer schon hier säßen und ihm den Tag verdürben. Schwarzer Humor soll verbindend sein.  

Die Mobiltelefone funktionieren auch auf der Porta Claudia einwandfrei, der Empfang ist gesichert und per Internet lässt sich jetzt sogar das Theaterprogramm von Telfs prüfen. Die ersten Tropfen sind spürbar. Wanderungsabbruch. Unten in Scharnitz gießt es in Strömen und das Signal für den Empfang erlischt.

Die Bäckerei direkt neben der Durchzugsstraße offeriert Kaffee und Kuchen, während es schüttet. Der Verkehr fließt, und das Bella Vista hat Gäste, deren Köpfe in der Auslage erscheinen, um das Wetter zu kontrollieren. Der Regen punktiert den Asphalt. Unter der Markise ist genug Schutz vorerst. Als die Blitze Zacken in den Himmel reißen, ist es Zeit zu flüchten. Nach zwei Stunden ist der Spuk vorbei, die Luft abgekühlt. Auf der Fahrt nach Telfs, wo Shakespeares „Die windigen Weiber von Winzor“ eher verspielt werden als tirolerisch aufgeführt, wie in der Zeitung versprochen, kommen wir an einer perfekt erhaltenen Burg vorbei. Sie thront über der Abfahrt nach Seefeld. Die Recherche wird ergeben, dass das Play-Castle das Denkmal einer Tourismuspleite darstellt.

Über den Zirler Berg rollen Lkws im Schritttempo. Steil aufschießende Ausweichstraßen dienen als Brems-
hilfen. Die Kiesbetten am Kopfende dieser Bahnen sollen die Masse der Transporter, wenn einmal in Schwung gekommen und nicht mehr zu bremsen, aufhalten.

Am Sonntag reisen wir ab. Frühstück. Wandertipps für Neuankömmlinge. Speck und Honig als Mitbringsel. Nach der Messe in der nahen Kirche schneit ein Stammgast herein. Immer weniger Einheimische gehen in die Kirche und immer weniger landen daher zum Frühschoppen an der Schank. Früher waren mindestens zwei Tische besetzt, erzählt die Wirtin. Es regnet immer noch. Wir hatten noch Hochsommer-Wetter und eine schöne Zeit, denn von jetzt an wird der Regen zunehmen und der Herbst einziehen. Die Heizperiode beginnt hier im August, erklärt der Gast. Scharnitz sei das Tor zum Karwendel, heißt es, aber das behaupten mittlerweile alle Orte der Gegend.
15 Gemeinden haben Anteil am geschützten Naturpark.

Am Ursprung der Isar glitzert das Moos. Die Kühle leckt an den Wangen, füllt den Mund. Alpen-Leinkraut, Flussuferläufer, Uferspinnen und Tamarisken. Im Gebirge, ein Festland. 

 

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