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Kalt, nass und schwarz

Wie es in und um Tirol unter der Erde aussieht? Robbie Shone fotografiert seit etlichen Monaten die Höhlenforscher rund um Christoph Spötl bei der Arbeit (zu sehen hier). Der Musiker und Schriftsteller Bernhard Moshammer traf den Wissenschaftler zum Gespräch – und wagt sich ebenfalls in die Tiefe:

So ein Planet hat’s auch nicht leicht. Er hängt im Nichts, sein Nachbar ist mickrig, anorganisch und langweilig, die anderen leben viel zu weit weg, er muss tausend Jobs gleichzeitig erledigen (sein Hauptberuf ist Wirt), er arbeitet rund um die Uhr, unbezahlt, ohne Urlaubs- oder Pensionsanspruch, lässt sich beackern, bebauen und aussaugen und da ist kaum etwas, das er vor seinen Parasiten geheimhalten kann – eine Privatsphäre wird ihm ganz einfach verwehrt. Vom Familienschmuck, seinen Erinnerungen, bis hin zu den buchstäblichen Leichen im Keller gibt es nichts, was der Parasit nicht für sich selbst beansprucht. Ja. Aber:
Stellen Sie sich vor, Sie entdecken an Ihrem Partner eine nie zuvor gesehene Körperöffnung. Noch bevor Sie über ihre Existenz und Sinnhaftigkeit nachdenken können, wird Ihr Finger tasten, bohren, experimentieren, eindringen. Ihr Auge wird ihm sogar zuvorgekommen sein – der Finger ist nur der Sklave des Auges, sein Werkzeug. Säuglinge und Einsame brauchen nicht einmal Partner, kurz: Der Mensch ist grundsätzlich neugierig – der geborene Wissenschaftler. Er ist nicht zu bremsen – wie die Natur oder die Zeit selbst.
Das ist selbstverständlich genau so wenig neu wie die Tatsache, dass er zuweilen ein triebgesteuertes, sexbesessenes Monster sein kann, aber solange es Ausnahmen gibt (wie Sie und mich, die wir sensibel, respektvoll und wirklich nur, wenn’s sein muss oder Spaß macht, grob sind), besteht Hoffnung. Das Besondere existiert.
Jetzt stellen Sie sich vor, ihr geliebter Partner ist kein Mensch. Nein, auch kein Vierbeiner – er ist der eingangs erwähnte riesige, runde, geschlechtslose, unglaubliche Organismus, den wir Erde nennen. Wenn Sie so wollen und Sie der Vorwurf ödipaler Tendenzen kalt lässt, auch: Mutter Erde. Ja, der Mensch vergewaltigt, plündert und missbraucht sie, aber auch hier gibt es Ausnahmen, auch hier existiert das Besondere: Uns beide selbstverständlich und dann Menschen wie Christoph Spötl, Professor am Institut für Geologie und Paläontologie an der Universität Innsbruck.

Ein Mann, der die Intimzonen der Erde studiert und kennt wie nur ganz wenige – eine Elite im Sinne einer guten Definition von Elite, wie er sagt –, wenngleich es auch mehrere tausend Höhlenforscher in Österreich gibt, vor allem im Osten des Landes; zumeist engagierte Frauen und Männer, die einen Gutteil ihrer Freizeit, Energie und Leidenschaft darauf verwenden, systematisch in die Erde einzudringen. So wurden selbst bedeutende Höhlen schon von Hobbyforschern oder auch ganz zufällig von spielenden Kindern aufgespürt, und erst letzten Mittwoch hat Christoph Spötl im Zillertal zwei Höhlen entdeckt.
Die Erde wiederum, so lasse ich mich beim Anblick von Robbie Shones Fotografien in naivem Staunen gehen, belohnt den Höhlenforscher, indem sie sich entblößt, ihm ihre fragile Schönheit offenbart, ihn konfrontiert mit einer überbordenden Ästhetik absurden Ausmaßes, die jeden milliardenschweren Fantasy-Blockbuster ins Disney-Regal verweist. Nun, hakt der Professor ein, zweifelsohne ist man beim Anblick dieser fantastischen Bilder geneigt, das zu denken, man vergisst aber schnell, dass der Fotograf sich auf gut erforschtem Terrain bewegt und ein professionelles Team von Beleuchtern dabeihat.
Auch die für Bilder oder Filme dieser Art verwendete Musik ist gern bemüht, das Unterirdische überirdisch zu machen, füge ich hinzu, der Natur, wenn man so will,einen spirituellen Hut aufzusetzen. (Wir diskutieren kurz Werner Herzogs sehr sehenswerten Film Die Höhle der vergessenen Träume über die berühmte Chauvet-Höhle in Frankreich.) Wahrscheinlich ist das auch naheliegend: Egal, ob wir auf einem Berg sind, über den Wolken, unter Wasser oder eben unter der Erde, die Wucht der Natur macht uns klein, demütig, bisweilen religiös. Ihre Dimension ringt Spötl viel mehr Respekt ab als alle von Menschen geschaffenen Kunstwerke. Auch er ist ein religiöser Mensch, sagt er, und sich im Innern der Erde, in möglicherweise urzeitlichen Lebensräumen aufzuhalten, macht einen selbstredend ruhig und kontemplativ, nicht zuletzt der etwas enterischen Akustik wegen (eine Schauhöhle in den Salzburger Zentralalpen heißt gar Entrische Kirche): vereinzelte Tropfen, der eigene Herzschlag – vielleicht wäre die angemessene Musik für Höhlenfilme gar keine Musik –, aber grundsätzlich, und nur dies entspricht dem Alltag des Höhlenforschers, ist eine Höhle immer nur eines: kalt, nass und schwarz.

Vielleicht ist es meiner katholischen Prägung zuzuschreiben, dass meine erste Assoziation mit diesem Thema die Hölle war – dass jene nur einen Buchstaben von der Höhle entfernt liegt, scheint jedoch verständlich, ist sie ja keineswegs eine Erfindung des Christentums. Bereits 50.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung war es angeblich üblich, die Toten zu begraben. Im Gilgamesch-Epos lässt der Held ein Loch in die Erde graben, um den Geist seines toten Freundes Enkidu zu befragen, was er in der Hölle gesehen hat.
„Sage mir, mein Freund, die Ordnung, die du unter der Erde schautest!“
„Sag ich dir die Ordnung der Erde – du müsstest dich setzen und weinen!“
Hätten die Sumerer nur Robbie Shones Fotografien gesehen – die christliche Hölle hätte keine Chance gehabt! Die Menschen hätten sich vielmehr das Paradies in die Erde hineingedacht. Nun gut, meine Naivität geht wieder mit mir durch, aber es gab in der Vergangenheit durchaus Dichter, die dem Unterirdischen Alternativen zum Heim der Verdammten, ewigen Qualen und vergeltenden Foltern zuzusprechen versuchten. So betritt in einem kleinen um 1420 entstandenen Büchlein (Le Paradis de la reine Sibylle) ein Ritter eine Grotte, die ihn in ein wundersames Land der Wollust und Liebe führt.
Im Park von Bomarzo, Italien, den ein gelangweilter Fürst ca. 1570 erbauen ließ, wird der Besucher mit steinernen Plastiken, monströsen Kuriositäten konfrontiert, die man, wenn man will, auch in die bizarren, mit Sinter (Höhlenmineralen) überzogenen Höhlengesteinsformationen hineininterpretieren kann – was sich der Professor für jene kühnen Männer der Vergangenheit, die sich nur von Fackellicht begleitet in die Tiefe wagten, schon vorstellen kann. In diesem Park gibt es den sogenannten Höllenschlund, ein in Stein gehauenes Riesenmaul, in dessen Oberlippe folgende, aus Dantes Göttlicher Komödie abgeleitete Inschrift gemeißelt ist: Lasst jeden Gedanken fahren, ihr, die ihr eintretet.
Wer weiß also, wonach all die Höhlenforscher suchen, wenn sie suchen?
Der klassische Höhlenforscher, holt Christoph Spötl mich auf den rationalen, sicheren Boden seiner Zunft zurück, sucht nach Ritzen und Spalten im Fels, aus denen kalte Luft strömt, dies ist seine Fährte, die er buddelnd verfolgt – und wenn er Glück hat, stößt er tatsächlich auf interessante Hohlräume, möglicherweise sogar auf Knochen oder Werkzeuge. (So gut wie alle relevanten archäologischen Funde Europas wurden in Höhlen gefunden.) Ob diese dann jedoch von irgendeinem größeren, wissenschaftlichen Wert sind, erweist sich zumeist erst nach langwierigen Untersuchungen. So liegen gleich mehrere fantastische Funde aus österreichischen Höhlen, deren Daten noch zu wenig gesichert sind, in Tresoren und warten darauf, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden.
Der ihm und, wie er meint, den meisten Höhlenforschern jedoch wichtigste Aspekt beim Besteigen von Höhlen ist neben der Abenteuerlust und dem Draußensein in der Natur die Kameradschaft. Plan, Ordnung, Disziplin, Zusammenhalt – das ist, was die Höhle den
Menschen abfordert. In der Höhle lösen sich gesellschaftliche Raster auf – da hängen dann nicht der Elektriker und der Generaldirektor im Seil, sondern einfach der Sepp und der Franz. Der Mikrokosmos Höhle also als ideales Muster für menschliches Zusammenleben? Sollten Familien oder Paare in Krisenzeiten Höhlen besuchen?
Aber, um Gottes Willen, bitte nur die Schauhöhlen! (Es gibt immerhin 28 in Österreich.) Würde der Professor da anmerken, der davon überzeugt ist, dass das manuelle Arbeiten in der Natur auf jeden Fall ein guter Therapieansatz ist. Das krasseste Gegenteil der Höhle, die Megacity, ist ihm suspekt.
Wir betrachten Höhlen aber eher als Fenster in die Vergangenheit, sagt er dann über die Tätigkeit seiner Arbeitsgruppe, welche sich vor allem der Erforschung des Klimas und der Umweltbedingungen des Quartärs widmet – und zwar anhand der Analyse von Sintern und Tropfsteinen. Der Tropfstein als Speicher der Erdgeschichte also, als Klimaarchiv, welches „weiter zurückreichende Rekonstruktionen erlaubt als oberflächliche Archive wie See- und Gletscherablagerungen oder Baumringe – mittels einer verbesserten Altersbestimmungs-
methode (Uran-Thorium-Massenspektrometrie) sogar bis zu einer halben Million Jahre.“
Ein Tropfstein wird mit mineralhaltigem Wasser gefüttert und geformt – so entstehen in unvorstellbarer Langsamkeit seine Schichten. Wenn diese Wasserzufuhr ausbleibt, weil, sagen wir, gerade Eiszeit ist, entsteht eine Schichtlücke, welche möglicherweise einen Zeitraum von mehreren hundert oder tausend Jahren umschreiben kann. Das Ende einer Schicht bedeutet also immer: Irgendetwas ist passiert. In der Geologie steckt die Geschichte in den Lücken. Diese zu erkennen, zu datieren und zu deuten ist Teil des langwierigen, detektivischen Aufgabenbereichs, für welche das Team um Spötl auch internationale Anerkennung erfuhr. Pioniere sind sie aber keine, meint der Professor bescheiden.

Insider mögen das anders sehen, aber wie auch immer: Stars der Mainstream-Medien würden sie auch als Nobelpreisträger keine werden – der größte Fernsehstar ist nämlich immer noch der Wettermann. Natürlich gibt es mittlerweile auch die Wetterfrau, aber die Menschen sagen immer noch: Schen hot er angsagt. Die Leute machen ihren Alltag von ihm abhängig, scheinen ihm fast ihre Lebensplanung unterzuordnen. Dennoch liegt er auch immer wieder mal falsch, wenn er das Wetter fürs nächste Wochenende prognostiziert. Beim Thema Zukünftiges Klima ist Spötl vorsichtig sowie froh, damit als Wissenschaftler nichts zu tun haben zu müssen. Die Klimaforschung muss ihre Daten und Ergebnisse derart simplifizieren, um sie Kanzlern und Ministern in den Mund legen zu können, dass sie, sind sie erst einmal in den Medien angelangt, wahrscheinlich immer falsch oder fehlerhaft sind. So wird der viel zitierte Klimawandel stets nur auf den Treibhauseffekt reduziert, um im bestgemeinten Fall Menschen oder gar Systeme zu mobilisieren, Gutes, oder wie Politiker und Konzerne es momentan gerne ausdrücken, Nachhaltiges zu tun. Gut und schön, richtig und politisch korrekt, aber macht das auch den angekündigten und gewünschten Sinn? Können wir klimatische Entwicklungen tatsächlich aufhalten? Sind all die selbsternannten Rufer in der Wüste, die uns selbstgefällige Schlafende wecken wollen und unsere Gewissen täglich aufs Neue beschweren, nicht immer auch ein wenig zweifelhaft? Natürlich sorgt sich der Höhlenforscher um die Erde, aber, so sagt er trocken, wir sind eben verdammt viele Leute, die verdammt viele Kinder kriegen und täglich duschen wollen.

Bleibt nur noch eine Frage zu klären – die wichtigste! Jene, die meine elfjährige Tochter mir aufgetragen hat, ihm zu stellen: Haben Sie jemals an einer Stalaktite geleckt? Nein, sagt er ganz ernst, aber darauf geklopft – und das sei reinste Musik.
Also: Selbst im kalten, nassen, einsamen und unberührten Schwarz der Erde liegen Schönheit und Musik verborgen. Das Besondere existiert!

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