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Der letzte Tag vor der Flucht?
„Nichts Besonderes.“

Zu Besuch bei Peter Gewitsch in Haifa: Christoph W. Bauer porträtiert Jüdinnen und Juden mit Tiroler Wurzeln, die aus Österreich vertrieben wurden. – Vorabdruck des neuen Buches, das im Frühjahr 2013 erscheint.

Wenn er spricht, hat man das Gefühl, er würde aus einem Buch lesen, das er über Jahrzehnte in sich hineingeschrieben hat und dessen erstes Kapitel nach Wien führt, ins Rudolfinerhaus. Dort wird Peter Michael Gewitsch geboren, im Jahr 1928. Zehn Jahre später muss er mit seinen Eltern in Triest an Bord der Galilea, Fahrtrichtung Haifa. Hier hatte sein Großvater Isidor Gewitsch ein Haus gebaut, er war 1934 ausgewandert.
Bereits einen Tag nach Schuschniggs Vorführung auf dem Berghof am 12. Februar 1938 setzt sich Gewitschs Vater mit Isidor Gewitsch in Verbindung, um die Ausreise der Familie voranzutreiben. „Wir müssen weg, hier blüht uns nichts Gutes, hat mein Vater gesagt“, erinnert sich Peter Gewitsch. „Mein Vater war ein alter Zionist und mein Großvater einer der ersten Zionisten Wiens und ein persönlicher Freund Herzls.“ Gewitsch sinkt ins Sofa zurück, neben ihm sitzt seine Frau Eva geb. Mayr, auch sie eine Heimatvertriebene. Die beiden bewohnen ein Appartement in einem Altenheim in Haifa.
Mit der Eisenbahn nach Triest. Die Familie muss einige Tage warten, ehe das Schiff ablegt. Wie viele Zwischenhalte es auf der Fahrt gegeben hat, weiß Gewitsch nicht mehr genau zu sagen. Vielleicht auf Zypern, bestimmt aber in Jaffa. Von dort dann nordwärts. „Am Nachmittag des 4. Juli, gegen vier, halb fünf sind wir im Hafen von Haifa angekommen.“ Der Großvater hat Vorsorge getragen, die zur Einreise benötigten Zertifikate besorgt. Erst mit der Ankunft vollzieht sich der Bruch zum bisherigen Leben zur Gänze.

Peter Gewitschs Mutter Helene wurde in Innsbruck geboren. Ihr Vater, Michael Brüll, war in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts aus Mähren nach Tirol gekommen, wo er als gelernter Tischler behände einen Betrieb aufbaute. Binnen weniger Jahre gehörte das Möbelhaus Brüll mit angeschlossener Tischlerei zu den wirtschaftskräftigsten Unternehmen der Stadt. Und war mehr als ein ökonomischer Faktor: Im Möbelhaus Brüll wurde Synagoge gehalten, bald galt der Firmensitz als erste Anlaufstelle jüdischer Zuwanderer. Helene Gewitschs Mutter Nina Brüll geb. Bauer war Tochter einer Kaufmannsfamilie, die das bis 1938 größte Warenhaus Westösterreichs miteignete. Bis zu ihrer Hochzeit mit Robert Gewitsch lebte Helene in Innsbruck, nach der Heirat zog sie nach Wien.
Allein aufgrund seines Namens wusste Peter Gewitschs Vater bei seiner Zukünftigen von Anfang für Sympathie zu sorgen. Stammte doch deren Vater aus Jevícˇko, heute eine tschechische Stadt in Mähren, zu Zeiten der Habsburgermonarchie war sie zum größten Teil deutschsprachig geprägt und hieß Gewitsch.
Robert Gewitsch, gebürtiger Wiener, war gelernter Jurist. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst in einer Bank, wurde später Rechts- und Finanzdisponent bei einem Großunternehmen und bekleidete dort eine verantwortungsvolle Position. Diese ermöglichte einen Umzug von der Wiener Josefstadt nach Döbling, in die Döblinger Hauptstraße 57. „Hinter diesem Haus war ein Garten, in dem der Nachbarsohn – der Sohn vom Hausmeister – und ich sehr viel zusammen gespielt haben.“ Nur ein paar Schritte entfernt, in der Osterleitengasse, lebte Fritz Molden. Auch an die elterliche Wohnung kann sich Peter Gewitsch erinnern: „Es gab ein Kinderzimmer, ein Speisezimmer, ein Schlafzimmer, eine Veranda und das Dienstmädchenzimmer – also ein kleines Kabinett.“ Hier wohnte man zur Miete, keineswegs in einer Villa, wie Gewitsch betont, aber die Kindheit sei eine sorgenfreie gewesen.
Daran änderte auch die Einschulung nichts. Gewitsch hatte keinerlei Probleme im Unterricht, war ein sehr guter Schüler. Früh zeigte sich seine Vorliebe fürs geschriebene Wort, er las viel, am liebsten die Zeitungen der Erwachsenen. Nur hinsichtlich der Musikalität haperte es bei ihm, im Gesangsunterricht wurde er wiederholt vom Lehrer aufgefordert: „Ah, Gewitsch. Gewitsch, sing nicht mit“. Und das ganz zum Verdruss der musikalischen Mutter, die gerne auf dem Klavier in der Döblinger Wohnung musizierte. Sie war strenger als der Vater, was Gewitsch mit einem Augenzwinkern auf ihre Tiroler Herkunft zurückführt. „Kinder haben zu gehorchen und nicht zu fragen, sondern zu machen, was man ihnen sagt. Das war die Einstellung meiner Mutter. Der Vater war liberaler.“
Liberalität auch in religiösen Belangen. Gefeiert wurden lediglich die Hauptfeste, die jüdischen Speisegesetze seien schon dann und wann mal umgangen worden, sagt Gewitsch. „Dabei habe ich, mit Ausnahme des Sohns vom Hausmeister, nur jüdische Freunde gehabt.“ Wie sie teilte er die Faszination für die laufenden Bilder. Jedes Mal wenn ein Shirley Temple Film vorgeführt wurde, bat er seine Mutter, ihn ins Kino mitzunehmen. Das befand sich in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung, eines der wenigen, die es damals in Döbling gab. Nach dem Krieg, bei einem Besuch in seiner Geburtsstadt, traf Gewitsch einmal Fritz Molden wieder. „An der Ecke war ja das Ideal Kino“, sagte Molden zu ihm und er darauf: „Herr Molden, vergessen Sie nicht, es ist über dem Eingang gestanden: Ideal Tonkino.“ Und Molden antwortete: „Ja, ja, ganz richtig, Sie erinnern sich genau.“
In die Volksschule in der Pyrkergasse hatte Gewitsch es ebenfalls nicht weit. Wie seine Mitschüler trug er das Abzeichen mit der Aufschrift Seid einig. Ein Lehrplan ganz auf Vaterlandsliebe abgestimmt, die Kinder wurden auf Dollfuß eingeschworen, nach dessen Ermordung auf Schuschnigg, „und wir haben uns alle als große österreichische Patrioten gefühlt.“ Bis zu jenen Tagen im März 1938. „Da war plötzlich keine Rede mehr von Österreich. Bereits in der ersten Zeichenstunde nach dem ,Anschluss‘ wurde gelehrt, wie man eine Hakenkreuzfahne zeichnet. Und im Gesangsunterricht wurde das Horst-Wessel-Lied eingepaukt.“ An der Einstellung der Klassenkameraden brauchte sich wenig zu ändern, sie waren schon zuvor nicht philosemitisch. „Aber interessanterweise hat sich ihre Reaktion nicht augenblicklich in Gewalt gegen uns gerichtet.“ Wenige Monate später musste Gewitsch die Schule wechseln, kam in die Pantzergasse. „Dort waren wir nur jüdische Kinder. Wir saßen da, brav und still, aber es gab keinen Unterricht mehr. Der blieb den sogenannten arischen Schülern vorbehalten.“
Woran er sich sonst noch erinnern könne? An die Schulwanderungen durch Wien in der Zeit vor der Hitlerei, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, botmäßig dem Lehrer hinterdrein und aufmerksam bei seinen Erläuterungen über die große Geschichte Österreichs. Und dass sein Vater, der im Ersten Weltkrieg für den Kaiser an der Westfront gestanden war, gleich nach dem „Anschluss“ seine Offizierspistole in einem Gebüsch des Währinger oder Döblinger Parks hat verschwinden lassen, um keine zusätzlichen Scherereien mit den braunen Horden zu provozieren.
Der letzte Tag vor der Flucht? „Nichts Besonderes.“ Mit Kindern im Garten der Döblinger Wohnung, Gewitsch teilte ihnen mit, dass er am nächsten Tag wegfahren werde. Das aber hat er in bester Erinnerung: „Wir haben uns über den Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht unterhalten, Schmeling gegen Joe Lewis. Und die anderen haben natürlich alle gesagt, der Schmeling wird siegen, der Schmeling wird siegen.“
Schmeling hat den Kampf bekanntlich schon in der ersten Runde verloren.

In Sicherheit. Was nun? Man ist auf finanzielle Unterstützung durch Isidor Gewitsch angewiesen, doch dessen Mietshaus wirft wenig ab. Der Vater arbeitslos, er versucht Hebräisch zu lernen und Fuß zu fassen, was die Mutter nicht schafft, sie kann sich in Haifa nicht einleben. Auch Peter Gewitsch wird die Sprache zum Problem. In Wien war er ein guter Schüler, nun muss er eine Klasse wiederholen, „das war für mich eine Art Trauma“, sagt er noch heute. Er hat einen kleinen Kreis von drei, vier Freunden, Kinder deutschsprachiger Eltern. Dadurch fallen sie auf, was er als sehr unangenehm empfindet. Hänseleien bestimmen diese ersten Schulwochen, er trägt sommers eine Lederhose aus den Tagen vor der Flucht, „und dafür wurde ich ganz gut verspottet.“ Er bittet seine Eltern, ihm neue Hosen zu kaufen, doch sie lehnen mit Hinweis auf die momentane Geldnot ab.
Im Alter von siebzehn Jahren erklärt er dem Vater, dass er die Schule verlassen möchte. Er setzt seinen Willen durch, tritt mit der sechsten Mittelschulklasse aus und beginnt in einer Bank zu arbeiten. Sein umfangreiches Wissen, das Gesprächspartnern oft die eigenen Grenzen aufweist, ist autodidaktischen Ursprungs. Seine Kenntnisse packt er in eine Sprache, die sich druckreif nennen lässt. Er spricht in einem Duktus, wie man ihn aus der Presse der frühen 1930er-Jahre kennt, verwendet ab und zu aus der Mode gekommene Begriffe. So sagt er: Seine Mutter habe herum tibuliert, als er zum Militär eingezogen wurde, doch er habe in keinster Weise mit ihren Bemühungen kooperiert.
Anfang 1948, zwei Monate, nach dem UNO-Beschluss über die Teilung Palästinas, tritt er seinen Militärdienst an. Der Israelische Unabhängigkeitskrieg beginnt, Gewitsch nimmt an zahlreichen Kampfhandlungen teil. „Ich hatte das Gefühl, nicht nur für das Recht des jüdischen Volkes auf ein eigenes Land einzutreten, für mich war es auch ein Zeichen an alle Minderheiten, sich nicht von Mehrheiten unterdrücken zu lassen.“
Zwei Jahre dauert der reguläre Militärdienst, dann dient Gewitsch weitere 33 Jahre in der Reserve. Er arbeitet wieder in der Bank, auch sein Vater hat eine Anstellung gefunden, als Buchhalter in einer Getreidefirma. Doch die Eltern hält es nicht in Israel, sie kehren 1956 nach Österreich zurück, nach Innsbruck. Gewitsch besuchte bereits zwei Jahre zuvor seine Geburtsstadt. „In Wien, 1954, habe ich doch eine sehr starke innere Bindung an die Stadt empfunden. Und so leistete ich damals den Eid – ich habe ihn bis heute gehalten – es dürfen niemals wieder 16 Jahre vergehen, bis ich Wien wiedersehe.“ Mitte der 1950er-Jahre hat er sogar Pläne, Israel zu verlassen, kündigt bei der Bank. Doch dann lernt er seine Frau Eva kennen. Die gebürtige Preßburgerin kam erst nach dem Krieg nach Palästina, überlebte die nationalsozialistischen Schreckensjahre als Flüchtling in Belgien, in Lagern. Sie will Israel nicht mehr verlassen. „Und so sind wir geblieben. Es war unser gemeinsamer Entschluss“, betont Gewitsch. Wie ernst ihm aber mit einer Rückkehr gewesen sein muss, zeigt sein Antrag auf Ausstellung eines österreichischen Passes im Jahr 1957. Das Procedere sei mühsam gewesen, so wie vieles in der Nachkriegsgeschichte seines Geburtslands kein Ruhmesblatt, aber letztlich haben er und seine Frau die Dokumente erhalten.
Mit den Eltern steht er zunächst nur in schriftlichem Kontakt. „Kostspielige Auslandsreisen konnten wir uns nicht leisten.“ Mit seiner Frau kauft er eine Wohnung in Haifa, benötigt dazu ein Darlehen. Sobald es die finanziellen Möglichkeiten jedoch erlauben, sind beide oft in Europa, in Preßburg, in Wien oder in Innsbruck. Sich wie seine Eltern in Tirol ansässig zu machen, das hatte Peter Gewitsch nie vor. „Ich wollte nach Wien. Oder nach London.“
Er fühle sich als Europäer, gerate dabei aber immer in einen Zwiespalt, sei er doch auch überzeugter Israeli. Wobei man ihm den Israeli äußerlich nicht ansehe. „Wenn ich zum Flughafen komme und die Sicherheitsbeamten beginnen ihre Routinefragen, werde ich immer zuerst auf Englisch angesprochen. Man hält mich stets für einen Touristen, der jetzt auf dem Rückflug ist. Und erst wenn ich auf Hebräisch sage: Mit mir können sie Hebräisch sprechen, ich bin aus Haifa, dann“ –

In Israel versuchte Gewitsch eine Annäherung an die Religion. Er ging oft in die Synagoge, feierte den „Sederabend“ zu Pessach, hielt sich dabei an die vorgegebenen Speisegesetze. Doch die liberale Erziehung der Eltern hatte Spuren hinterlassen. Eine gänzliche Ablehnung der Religion löste aber deren wiederholter Missbrauch durch machtpolitische Interessen aus, von denen Gewitsch sich früh distanzierte. Ungebrochen blieb seine Neugier am kulturellen Leben, zahlreiche Theater- und Konzertbesuche standen in den 1960er- und 1970er-Jahren auf dem Programm. Auch das Kino kam nicht zu kurz.
Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er für das traditionsreichste israelische Kreditinstitut, die Bank Leumi. Sie war aus der 1902 von Theodor Herzl mit anderen Mitgliedern der zionistischen Bewegung in London gegründeten Anglo Palestine Company hervorgegangen. Gewitsch bekleidete zuletzt das Amt eines stellvertretenden Direktors in der Zentrale in Haifa, er ging in Frühpension, im Alter von 56 Jahren. Danach engagierte er sich ehrenamtlich in verschiedenen Organisationen, unter anderem in der Gesellschaft Israel-Österreich. Ihr Ziel: die Aufrechterhaltung der Verbindung zu Österreich mittels Vorträgen, Lesungen und Diskussionsrunden. Auch im Verband der Einwanderer aus Mitteleuropa war Gewitsch jahrelang aktiv, der Verband ließ auch das Heim errichten, in dem Eva und Peter Gewitsch heute leben.
„Ich habe verschiedene Sachen aus Österreich, hier in der Wohnung.“ Peter Gewitsch erhebt sich vom Sofa, er wirkt jetzt noch größer als zuvor an der Rezeption des Heims, wo er auf den Besuch aus Österreich wartete, der ihm mit vielen Fragen in den Ohren liegen würde. Er schiebt die Brille zurück, streicht sich über den Kopf und führt lächelnd in einen anderen Bereich des Appartements. „Das ist unsere sogenannte österreichische Wand.“ Zu sehen sind die Kriegserinnerungsmedaille des Vaters und andere Verdienstzeichen, Lithographien, Fotos – „und das ist das Wappen der Monarchie.“
Jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte, wird zum Kapitel eines Buches, aus dem Gewitsch geduldig vorliest, befragt man ihn zu seinem Leben. Sich selbst spart er dabei aus, was ihm genommen wurde, verschweigt er. Dass er gerne Jus studierte hätte, ist ihm gerade mal einen Nebensatz wert.
Was er an sich selbst für typisch österreichisch halte? „Ziemlich viel“, antwortet er prompt. Und spricht dann über den aus einer jüdischen Prager Familie stammenden Hans Kelsen, der zu den bedeutendsten Rechtswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts zählt. Kelsen ist einer der drei Professoren, die auf dem Doktordiplom seines Vaters zu finden sind. „Und diese drei Professoren haben doch eine gewisse Einstellung eingeprägt, was Recht und Gerechtigkeit ist, und sich dafür eingesetzt, die Rechte der Minderheit zu wahren. Das halte ich für meinen Erbteil aus Österreich. Zum Beispiel.“ Und nach einer längeren Pause fügt er schmunzelnd an: „Und die Vorliebe für die österreichische Küche. Aber leider bin ich Diabetiker und die wunderbaren Rezepte – Aber nein, ich hab viel aus Österreich, sehr viel mitbekommen an der Gestaltung meines Charakters.“
An den politischen Verhältnissen in Österreich zeigt er sich nach wie vor interessiert, vermöge Wahlkarten gibt er sein Votum ab. Und wann immer er es schafft, besucht er das Land, aus dem er vertrieben wurde. Mittlerweile hat er eine stärkere Bindung zu Innsbruck als zu seiner Geburtsstadt. Beide Elternteile liegen in Innsbruck begraben, die Mutter stirbt 1980, der Vater überlebt sie um vier Jahre. „Das Grab meiner Eltern ist ein Familiengrab, meine Großeltern sind hier begraben und die meisten ihrer Kinder, Söhne und Töchter.“ Bis zu ihrem Tod wohnen die Eltern im Stammhaus der Familie Brüll, in der Anichstraße, wo Michael Brüll einst sein prosperierendes Möbelgeschäft betrieben hat. Dieses Haus kennt Gewitsch seit Kindheitstagen, besonders die Holztreppen haben sich ihm eingeprägt und die Türen mit den alten Messingbeschlägen. „Meine Mutter hat mir erzählt, sie habe als Kind immer gerne Süßigkeiten beim Geschäft Daler, ein Haus weiter, gekauft, sie war sehr vernascht.“ Kürzlich sei er bei einem Innsbruck-Besuch an diesem Geschäft vorbeigegangen, „in dem immer noch Süßigkeiten verkauft werden, also gut 110 Jahre nachdem meine Mutter dort als Kind Stammkundin war.“
Auch von der Familie Brüll weiß er viel zu erzählen, von seiner Cousine Ilse Brüll, die im Alter von 17 Jahren in Auschwitz ermordet wird, von ihren Eltern, die das KZ Theresienstadt überleben und nach der Befreiung jahrelang um Rückerstattung des arisierten Besitzes kämpfen müssen. Als dies endlich gelungen ist, arbeitet Peter Gewitschs Vater im Möbelhaus mit, engagiert sich in der Kultusgemeinde und wird deren Präsident.

Es ist Abend geworden, Peter Gewitsch hat wieder am Sofa Platz genommen. Er schaut zum Fenster hinaus, der Wüstenwind trübt das Licht ein und verweigert einen Blick aufs Meer. Er sei froh, in Israel leben zu dürfen, das Land gewährleiste ihm die Sicherheit, dass Juden sich nicht als Verfolgte oder geduldete Minderheit sehen müssten. „Es ist ein Paradox, wenn ich das sage: Israel ist meine Heimat und in Österreich fühl ich mich zu Hause.“

Seine Herkunft holt ihn zuweilen unversehens ein. Einmal will er sich auf der Straße eine Notiz machen, zieht aus seiner Tasche ein Blatt Papier, hat jedoch keinen Stift. Also fragt er einen Passanten: Pardon, haben Sie eine Feder? „Das sind vier Worte auf Hebräisch. Schaut der mich an und fragt auf Hebräisch zurück: Sagen Sie, sind Sie aus Wien?“

Vorabdruck aus:
Christoph W. Bauer: Die zweite Fremde. Begegnungen in England und Israel. Das Buch erscheint im März 2013 im Haymon Verlag, ISBN 978-3-7099-7021-8 · www.haymonverlag.at

 

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