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Selbstporträt
als wilder Gebirgsbach

Anmerkungen zu den Besuchen von Joachim Ringelnatz in Tirol. Von Arne Rautenberg

Ausflug nach Tirol

Kann man das Jodeln wohl
In meinem Alter lernen?
Nie war, wie in Tirol,
Ich derart nah den Sternen.

Ich sah vom Stripsenjoch
Drüben an steiler Wand
Leute aufs Totenkirchl kraxeln,
Wahrscheinlich Sächseln
Aus Hosenträgerland.
Aber kühn und schön war es doch.

Was ich um Hochwürden dann
Später in Sankt Johann
Sang, lebte und sprach in der „Post“,
Schmeckte wie Herz am Rost
Nach ausgegangener Hochtouristenkost.

Alm und Kuhstall, fette Weiden,
Bärenwirt und Sennerin –
Wo ich durchgegangen bin,
Schien mir alles zum Beneiden.
Nur die Wandervögel, die
Einem jede Poesie
Und den Appetit verleiden,
Mocht ich meiden.

Alle Tiroler sind
Keine Amerikaner.
Wäre ich eine Mutter mit Kind,
Ich nährte mein Kind mit Terlaner.
Im Kursalon in Kitzbühel
Da ist des Nachts der Sekt so kühel.
Ich muss die Gäste loben,
Die zur Musik dort oben
So vornehm tanzen und schweigen,
Um ja nicht mehr zu zeigen
Als ihre hochmodernen Garderoben.

Ich möchte ein wilder Gebirgsbach sein,
Klar, schäumend, rauschend und blinkend,
Unhaltsam kämpfend von Stein zu Stein
Mich an mir selber betrinkend.

Dass ich mein Kragenknöpfchen verlor,
Kommt schließlich auch einmal anderwärts vor.
Du, mein einziges Tirol,
Lebe wohl! Lebe wohl!

Im Frühjahr 1911 hat der Dichter Ringelnatz das Münchner Bohème-Leben satt. Als Hausdichter der legendären Schwabinger Künstlerkneipe Simplicissimus fühlt er sich zunehmend ausgelaugt und ausgebeutet. Daran kann auch die Chefin des Hauses, die nicht minder legendäre Persönlichkeit Kathi Kobus, etwas ändern. Ringelnatz sehnt sich nach Freiheit.
Außerdem ist ihm im Laufe vieler Gespräche mit den dort verkehrenden Intellektuellen noch etwas aufgestoßen: seine schlechte Bildung nämlich. Ringelnatz war ein miserabler Schüler gewesen, der nur mit Hängen und Würgen überhaupt sein Examen an der Toller’schen Privat-Realschule in Leipzig bestanden hat. Nun plötzlich empfindet er seine geringe Schulbildung als Niederlage, die ihm zum Nachteil gereicht. Was nützt die schönste Reime-Kunst, wenn sie sich nicht auf Augenhöhe mit einem sich gleichwertig darin manifestierenden Geist befindet? Man bedenke, mit welchen Intellektuellen Ringelnatz gerade im Simpl verkehrt: Da sitzen Erich Mühsam, Max Dauthendey, Franz Blei, Albert Weisgerber, Oskar Maria Graf und Ludwig Scharf, diskutieren, deklamieren und trinken vor allem. Der Dichter gelangt also zur Einsicht, dass eine gewisse Gelehrtheit doch gar nicht so schlecht sei, und beschließt, bildungsmäßig eine Schippe draufzupacken. Als kontaktfreudiger Mann der Tat pflegt er nur zu gern neuen Plänen nachzugehen: Er schmeißt seinen Hausdichterjob im Simpl, tut sich mit Baron Thilo von Seebach zusammen, beginnt bei ihm Privatunterricht in Latein, Geschichte, Literaturgeschichte und anderen Fächern zu nehmen und vereinbart mit dem Baron eine Reise; Ringelnatz hat wegen diverser Gefälligkeiten einen gut beim Baron – worauf dieser, in Erwartung einer baldigen Geldquelle, Ringelnatz großzügig zu einer Tour nach Riga eingeladen hat.
In Kufstein wollen die beiden sich treffen, um ihre Fahrt anzutreten. Ringelnatz fährt schon mal vor. Die Abreise verzögert sich jedoch und so vertrödelt Ringelnatz im Mai 1911 mehr oder weniger einige Zeit in Kufstein, wo er im Hotel Drei Könige logiert, sowie im Zillertal und in Längenfeld. Schlecht dürfte ihm der Trip nach Kufstein nicht gefallen haben; denn auch nach der Kriegszäsur, nachweislich 1918, 1925 und 1926, ist Ringelnatz abermals Gast in der Kufsteiner Weinstube Schicketanz (Batzenhäusl), die er 1911 kennengelernt hat. Gästebucheintragungen samt einer Selbstkarrikatur zeugen davon.
In seinem Buch „Mein Leben bis zum Kriege“ berichtet Ringelnatz in seiner üblichen unterhaltsamen Art über den recht sonderbaren Erstkontakt mit Tirol. Dichten macht arm, das ist leider nicht erst seit heute so; und Ringelnatz, der vor über hundert Jahren alles auf die Dichter-Karte setzt, lebt wie ein Tagelöhner: immer knapp bei Kasse und hart an der Kante zur Armut. So auch 1911 in Tirol. Da sitzt der Dichter nun in Kufstein und wartet auf seinen Privatlehrer, der ihn in zwei, drei Tagen dort abholen und für die nächste Zeit aushalten soll. „Ich hatte noch für sechs Tage zu leben. … Ich bezog das beste Hotel und lebte gar nicht sparsam, weil mir Seebach gesagt hatte, ich solle nur anschreiben lassen. Er würde mich auslösen.“
Doch Seebach kommt nicht. Das Geld wird knapp. „Kufstein wurde mir zu teuer. Ich gab mein Hotelzimmer auf. Als ich die Rechnung bezahlen wollte, fehlten mir noch sechs Kronen. Verlegen schützte ich einen Spaziergang vor, wanderte vor die Stadt und ließ mich in einem Garten nieder. … Als ich bedruckst nach dem Hotel zurückging, las ich in einem Trafik (Originalschreibweise, Anm.), dass ich für wenig Heller im Lotto dreißig Kronen gewonnen hatte. Im Hotel erwartete mich eine zweite Überraschung. Ein Honorar, das ich allerdings erwartete, war telegraphisch eingetroffen.“ Irgendwie scheint Ringelnatz wie ein großes Kind, dem das Schicksal letztlich doch immer etwas Glück in die Schuhe zu schieben versteht (jedenfalls in diesen Jahren).
Eigentlich will Ringelnatz die freie Zeit ja zum Dichten nutzen, aber wegen der schönen Landschaft und dem Gefühl, wartend in der Luft zu hängen, stellt sich nicht die rechte Muße ein. Also geht er spazieren und nimmt an Impressionen mit, was sich ihm bietet. Während eines einsamen nächtlichen Waldspaziergangs an den Hängen des Wilden Kaisers erfasst ihn ein gewaltiges Gewitter. Klatschnass, bibbernd, orientierungs- und hoffnungslos tut sich vor ihm schließlich doch noch irgendwo eine Hütte auf. Ringelnatz geht auf die Hütte zu, hofft, öffnet die Tür und sieht in einen hellen Raum hinein: fröhlich sitzen singende Touristen drinnen und als alle plötzlich den tropfnassen Wanderer ansehen, ruft jemand laut: „Der Hausdichter von der Kathi!“
Eine Anekdote, in welcher Ringelnatz sich einerseits selbst zu einer Marke im wahrsten Sinne des Wortes stilisiert – andererseits war der Hausdichter des Simpl in der Tat mit seinem markanten physiognomischen Erscheinungsbild, seiner frechen Rollenfigur Kuddel Daddeldu und seinen veröffentlichten (Ulk-)Gedichten bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Gut. Ringelnatz erfuhr also weinselige Rettung und Aufnahme als Tourist unter Touristen. Am anderen Tag ging es dann weiter – auf zum Stripsenjoch!
Da Ringelnatz rasch unter mangelnder Gesellschaft litt, erkor er sich in Kufstein einen einfachen Hilfsarbeiter namens Alex zum Freund. Mit ihm unternahm er einige Ausflüge. Als die beiden durch den dunklen Wald streifen und auf Mord und Totschlag zu sprechen kommen, offenbart sich ihm Alex; in breitem Dialekt spricht er die denkwürdigen Worte: „Das eine kannst mir glauben, dass ich dich nie von hinterwärts erstechen werde.“
Ringelnatz wird zudem Stammgast in der Weinkneipe Schicketanz, lernt Bekannte wie etwa Herrn Busch kennen, einen Fabrikanten für künstliche Blumen, und hört sich allerlei Geschichten an.
Allerdings hat Ringelnatz in den Schilderungen seiner Tiroler Erlebnisse auch Bösartigkeiten parat. „So reiste ich mit fünfzig Mark nach Straß im Zillertal, wo ich unter unfreundlichen Menschen acht verregnete Tage verbrachte. Zwar fing ich eine kleine Liebelei mit der Postexpedientin an und sah ferner zu, wie man mit österreichischen Militärhengsten ländliche Stuten belegte. Aber das bäurische Postmädchen war blöde, und das Belegen dauerte auch nicht ewig. Ich war froh, als mich Seele (eine Freundin von Ringelnatz – A.R.) nach ihrer Sommerfrische ins Ötztal einlud. In Lengenfeld wohnte sie. Eine schöne Gegend. Aber dumm! Infolge Inzucht gab es unter den Einwohnern viele Idioten. Ich konnte mich stundenlang mit den idiotischen Kindern unterhalten.“
Was Ringelnatz auch immer zu berichten hat; sein Leben erscheint wie von einer grotesken Glasur überzogen. Und ganz ohne Amüsement geht nichts ab; die Schilderung einer zart sich anbahnenden Liebelei in ein und demselben Satz mit der Betrachtung von Deckhengsten bei der „Arbeit“. Und immer wieder geht die Abenteuerlust mit Ringelnatz während seines Tirolaufenthalts mit ihm durch, etwa bei seiner Freundin Seele: „Als ich auf einem Spaziergang ganz unnötigerweise, nur um kühn zu sein, in einer schmalen und kurzen, aber ganz steilen Felsspalte hochkletterte, von Busch zu Busch, musste ich – da ich nicht mehr umkehren konnte – durch den Kadaver einer abgestürzten Kuh kriechen. Das war entsetzlich.“
Ringelnatz, der Magnet für bizarre Situationen. Die gern und nicht ohne Wärme von ihm selbst geschildert werden. Bei aller Schnurrenhaftigkeit, die aus diesen Schilderungen spricht, darf man natürlich nicht vergessen, dass es sich bei „Mein Leben bis zum Kriege“ um ein Stück Literatur handelt. Wenn auch die Fakten belegbar sind und stimmen mögen, hinter lesenswerten Geschichten steht immer auch jemand, der das Erlebte in seiner Possenhaftigkeit zu erfassen und entsprechend im Sinne einer Geschichte niederzuschreiben in der Lage ist.
Und im Übrigen wartet Ringelnatz noch immer auf das Eintreffen oder wenigstens eine Nachricht des werten Herrn Baron Thilo von Seebach. Doch Seebach kommt und kommt nicht. Und er wird auch nicht mehr kommen.
Ringelnatz entschließt sich, zurück nach München zu fahren. Dort spürt er Seebach endlich auf, der gut angeheitert kundtut, die Geldangelegenheiten hätten ihn aufgehalten. Doch der Knoten löst sich und die beiden fahren über Berlin und Danzig endlich nach Riga.

Ringelnatz hat gleich zwei Gedichte über seine Tirolaufenthalte hinterlassen; „Ausflug nach Tirol“ erschien erst in der Zeitschrift Simplicissimus und 1928 dann in der Sammlung „Reisebriefe eines Artisten“. „Drei Tage Tirol“ hingegen ein Jahr später im Band „Flugzeuggedanken“.
Da Ringelnatz vor allem ein Bekenntnis- und Gelegenheitsdichter ist, haben viele seiner Gedichte Brief- und Grußcharakter, andere sind poetische Widmungen und Dankesbekundungen und wieder andere erscheinen wie eine Art emanzipiertes Tagebuch. Bildungsmangel hin oder her, nicht die hehren, großen Worte und Gedanken stehen im Zentrum der Ringelnatz’schen Poetik, sondern vielmehr eine nahe Bindung ans alltägliche Leben und Erleben. Was sich gut an den beiden Tirolgedichten ablesen lässt. Das Schema funktioniert wie folgt: Wo war ich? Stripsenjoch, Totenkirchl, Sankt Johann, Lokal „Zur Post“, Alm und Kuhstall, Kurhotel in Kitzbühl. Was fiel mir dort auf? Gejodel, Bergsteiger, Seilbahn, die Kurgäste, der Terlaner-Wein, ein reißender Gebirgsbach – überhaupt, die Schönheit der Bergwelt, die einen näher an die Sterne heranbringt und die den (mühsamen) Alltag daheim vergessen macht. Weiter: Was habe ich gemacht bzw. was ist mir widerfahren? Wilde, einsame Wanderungen, bin gewöhnlichen Menschen begegnet, in einem Gewitter entsetzlich nass geworden und habe meinen Kragenknopf verloren. Wie war ich drauf? Natürlich neugierig („Kann man das Jodeln wohl / In meinem Alter lernen?“ – diese Frage steht gleich zu Gedichtbeginn), die vielen Touristen gingen ihm allerdings gehörig auf die Nerven (die zitierten Wandervögel waren eine damals schon etwas in die Jahre gekommene, doch enorm erfolgreiche Bewegung, welche zur Erbauung Stadtflucht betrieb und sich romantisch-naturverbunden gab) – und dann ist da noch der Kurbetrieb: eine schweigsam-elegante, tanzende Welt, zu der sich Ringelnatz, man merkt es sofort, nicht zugehörig fühlt – ja, und das Bindemittel zwischen all den Tirol-Impressionen ist dann eben eine besondere, artifizielle Sprache; Ringelnatz ließ es drauf ankommen, denn er wusste, dass ihm die Reime nur so zufliegen – also reimte er los, ließ es laufen, nach dem Motto: Ok, diesen Vers hab ich, nächster, war da noch was?
Sprachliche Abenteuerlichkeiten unterstreichen dabei die geschilderten Abenteuerlichkeiten. Etwa wenn man in „Ausflug nach Tirol“ das Reimschema betrachtet: In der ersten Strophe gibt es mit dem Reimschema ABAB einen Kreuzreim, in der zweiten Strophe wird mit ABC-CBA ein Paarreim doppelt umfasst, in der dritten Strophe gibt es mit AABBB einen Paarreim mit einer zusätzlichen Reimzeile, in der vierten Strophe wird der Kreuzreim gleich an einen umfassender Reim angehangen und so fort - - - Ringelnatz hat anstatt auf reimschematische Beständigkeit samt der damit verbundenen sacht dahinfließenden Kontinuität eines begradigten Flusslaufs eher auf den später im Gedicht auftauchenden Wildbach gesetzt. Die wilden Versmaße sind ein typischer Ringelnatz-Trick, um der Poesiesprache eine atmende Lebendigkeit einzuverleiben. Erwähnenswert ist ein weiteres Signum Ringelnatz’schen Reimens, etwa wenn sich die guten alten deutschen Worte schlichtweg seinem Reim beugen müssen – in diesem Fall lautmalerisch, denn damit der doppelt umfasste (und damit explizit herausgehobene) Paarreim „Leute aufs Totenkirchl kraxeln, / Wahrscheinlich Sächseln“ überhaupt als Reim funktioniert, muss das Wort „kraxeln“ englisch ausgesprochen werden, als „kräckseln“ (oder am besten gleich amerikanisch als „crackseln“) – eine weitere Methode, der Gedichtsprache Dynamik einzuhauchen und en passant etwas touristische Weltläufigkeit einströmen zu lassen.
Die vorletzte Strophe lohnt einer gesonderten Betrachtung: „Ich möchte ein wilder Gebirgsbach sein, / Klar, schäumend, rauschend und blinkend, / Unhaltsam kämpfend von Stein zu Stein / Mich an mir selber betrinkend.“ In den vier Zeilen verbirgt sich ein treffendes Selbstporträt von Ringelnatz: draufgängerisch-wild und doch klar (im Kopf), voll von einem überschäumenden Lebensgefühl, in der Öffentlichkeit blinkend und funkelnd, dem alltäglichen Sisyphuskampf ums Überleben (kämpfend von Stein zu Stein) als Dichter stets aufs Neue ausgeliefert. In solchen Momenten kippt das Naiv-Unverschlüsselte des Gedichts plötzlich in den Tiefsinn.
Zeitlebens wollte Ringelnatz gern auch anders sein, als er sich gab. Aber er konnte nicht. Immer wieder schien er rettungslos auf sich selbst zurückgeworfen; auf seinen impulsiven Lebenstakt, den er literarisch zu formen vermochte (eine Stärke) - - - dagegen stehen die alltäglichen Zweifel und Krisen: kaum finanzielle Planungssicherheiten, die geliebte Ehefrau Muschelkalk saß derweil sparsamst daheim. Und in den Augen manch höherer Gesellschaftskreise, die seine Vorstellungen (etwa im angesehenen Berliner Kabarett Schall und Rauch) besuchten, mochte Ringelnatz eh als eine Art Narr, eben als ein verschrobener Unterhaltungs-Hallodri gelten, auch das wird er gespürt haben.
Doch Kraft seiner Gabe, sein Schicksal literarisch transformieren zu können, konnten sich die in den Weg gelegten Brocken immer auch als überwindbar darstellen – die Schlusszeile der Strophe „Mich an mir selber betrinkend“ verweist darauf, dass Ringelnatz es selbst auch so empfunden haben könnte, dass er aus seinen Niederlagen Siege zu machen verstand; in Form von Literatur, in Form von überlebensfähigen Gedichten. Das Gefühl, beim Schreiben etwas hinzubekommen, ein Stück seines Lebensweges, seiner Erkenntnis in Kunst gewandelt zu haben, hat auch etwas Berauschendes.
In der Schlussstrophe setzt Ringelnatz, als wäre er beim Schreiben von seinem treffenden Selbstporträt als Gebirgsbach selbst überrascht worden, noch eine ironisch-charmante Abfederung ein: Die beiden Zeilen des Abschiedsbildes im Gedicht „Dass ich mein Kragenknöpfchen verlor, / Kommt schließlich auch einmal anderwärts vor“ sind dabei auf eine anrührende Art persönlich und banal zugleich; so als wolle der Dichter sich nun im Gedicht ganz klein machen und im Subtext mitteilen: Was auch immer geschieht, am Ende bleibt doch alles immer nur persönlich und das ist der menschliche Funke.
In „Drei Tage Tirol“ verhält es sich ähnlich. In der ersten Strophe kleidet Ringelnatz seine Tiroler Empfindungen in die leicht hohl klingenden Großworte „Freiheit“, „Gesellschaft“, „Landschaft“ und „Illusion“ ein – und koppelt sie mit kulinarischen Genüssen: „Ich habe viel Freiheit gefressen / Und viel Gesellschaft gespeist. / Landschaften hab ich gesoffen / Und Illusionen geraucht“ – Leben zum Verbrauch. Dann kriegen die Tiroler Bekanntschaften eins zwischen die Hörner: „Die Menschen, die ich getroffen, / Standen meist so zu den Sternen, / Daß man, um sie kennenzulernen, /Nicht erst zu verreisen braucht.“ Diagnose: gewöhnliche Menschen, nichts Besonderes. Weiter: Die technische Errungenschaft „Drahtseilbahn“ wird in den Zeilen „Das nennt man Drahtseilbahn: Es hing / Ein Zündholzschächtelchen an Zwirn“ à la Kragenknöpfchen auf etwas Klein-Banales runtergebrochen. Unten bleiben. Auf dem Boden. Auf dem Teppich.
Ringelnatz’ Tiroler Gewittererfahrung, Erinnerungen an gedankenverlorene Wanderungen schließen sich an, um im durchaus ambivalenten Schlussvers „An allen Stellen angefeuchtet / Kam ich nach Hause aus Tirol“ zu münden. Natürlich ist das nach seinen Gewittererfahrungen ganz wörtlich gemeint, doch schwingt auch eine andere Stimmung im Wort „angefeuchtet“ mit: die der Rührseligkeit – es bleibt offen, ob und wie ironisch das verstanden werden soll. Für das Reise- und Reimemonster Ringelnatz konnte eben überall Wunderland sein: Hier ist es Tirol.
Die beiden Tirolgedichte erscheinen in den Jahren 1928 und 1929, in einem Jahrzehnt, in dem es für Ringelnatz eigentlich ganz gut läuft; regelmäßige Buchungen, für die angesagtesten Kabaretts zu arbeiten, Rundfunkaufnahmen, erhöhte (Flug-)Reisetätigkeiten wegen zunehmender Engagements, ein Filmprojekt wird angedacht (zerschlägt sich aber), schöne Bekanntschaften (etwa Cocteau in Paris) bringen ihn auf frische Gedanken, erfolgreiche Ausstellungen als Maler folgen. – Ringelnatz der Hansdampf, der Haudrauf, der Hasardeur … 1929 zieht er endlich ganz von München weg und nach Berlin, verkehrt dort u. a. mit Kurt Tucholsky, den Malern Otto Dix und Karl Hofer – 1930 schreibt Ringelnatz in einem Brief: „Der Hitler-Rummel lässt mich kalt.“ 1933 verbieten die Nazis Ringelnatz das Auftreten, in Dresden wird der Dichter von der Bühne geholt. Seine Bücher werden verbrannt. Da Auftritte Ringelnatz’ Haupteinnahmequelle sind, verarmen er und seine Muschelkalk rapide; es folgen letzte Auftritte in der Schweiz und eine mühsam mit Hilfe von Freunden (vor allem Asta Nielsen) gestemmte 50. Geburtstagsfeier. 1934 stirbt Ringelnatz in Berlin. Sein Künstlerfreund Renée Sintenis gestaltet die Grabplatte: aus Muschelkalk. Neun Personen begleiten den Sarg, man spielt sein Lieblingslied La Paloma.
Ringelnatz’ Tirolbesuche fallen in seine glücklichen Lebensphasen. So wird der Dichter das auch für sich selbst verortet haben dürfen.

Drei Tage Tirol

Ich bin nach Tirol gereist
Und hab das Zuhause vergessen.
Ich habe viel Freiheit gefressen
Und viel Gesellschaft gespeist.
Landschaften hab ich gesoffen
Und Illusionen geraucht.

Die Menschen, die ich getroffen,
Standen meist so zu den Sternen,
Daß man, um sie kennenzulernen,
Nicht erst zu verreisen braucht.

Das nennt man Drahtseilbahn: Es hing
Ein Zündholzschächtelchen an Zwirn.

Und ein Gewitter kam. – Das ging
Mir superior durch Herz und Hirn.
 
Wie tut ein wildes Wandern wohl,
Wenn man sein Einsamgehn durchleuchtet!
 
An allen Stellen angefeuchtet
Kam ich nach Hause aus Tirol.

 

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