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Die Landvermesserin Landvermessung
No. 4, Sequenz 2
Von Seefeld Richtung Axamer Lizum

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns nun auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen ins Trentino führt. Teresa Präauer belauscht die Dorfjugend, begutachtet Fotografien, Tafelbilder und Trachten und wird vielleicht doch noch Sennerin in der Axamer Lizum.

Oswald
Biss- und Blutspuren sind zurückgeblieben, wo Oswald gierig hineinbeißen hat wollen, aber noch vor dem Verschlingen der herrlichen Mega-Oblate ist er selbst verschlungen worden, ist im Boden versunken, und was er noch greifen wollte, um sich zu retten, ist zu Wachs geworden. So klein, möchte ich ihm nachrufen, kann ein Ort gar nicht sein, dass nicht sein Kirchlein etwas zu bieten hätte.
In Seefeld in Tirol, gelegen auf 1.200 m Seehöhe, ist das das „Hostienwunder“, dargestellt auf einem „spätgotischen Tafelbild“, das man sich auch nicht viel anders vorzustellen hat als ein Comicbild mit viel Gold. Irgendwie verdreht und verschachtelt sind die Räume in der Malerei dieser Zeit gewesen, der Maler muss zumindest vier Augen offen gehabt haben, um so eschermäßig-wendig zwischen Treppen und Fenstern und Treppen und Fenstern umhermäandern zu können.
 Und der alte Streit zwischen Körper und Fläche ist auch hier nicht entschieden, was sich bis zu den Kleidern der versammelten Kerlchen auswirkt. Schaut euch nur den Priester an: Der trägt ein weißes Untergewand voll Faltenwurf aus Licht und Schatten, gebauschten Ärmeln für die Hostienreichung – aber darüber einen goldenen Umhang, flach wie ein Brett und mit der Musterwalze ist darübergerollt worden, dass jede japanische Farbholzschnitt-Geisha darunter zu ächzen gehabt hätte. (Ja, das ist ein verdammt weiter Assoziationsraum für eine kleine „Landvermessung“.) Und Strümpfe tragen die Herren! Schwarz-weiß gezackt oder gelb-schwarz gestreift, rot. Hüte mit Federn, Turbane, Mützen, Hauben, Kappen, Umhänge, seitlich geschlitzt mit Pelzbesatz oder vierfarbig und abgesteppt, sodass mein „Mode- und Kostümlexikon“ hier an seine Grenzen der Darstellbarkeit stößt und ich demnächst in das „Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung“ investieren werde. (Nein, nein, nicht das gesamte Honorar.)

Fräulein E.
Wie die Bauernhöfe ausschauen in Axams, darauf hat mich das, meines Wissens, ledige Fräulein E. aufmerksam gemacht. Sie hat mich auf einem Streckenabschnitt meiner ehrgeizigen Monstertour durchs Tiroler Gebirg – Steigeisen, Schneeschuhe, Tee aus Thermoskannen –begleitet, die in Wahrheit eine gemütliche Kaffeefahrt von zwei Pensionistinnen Mitte 30 gewesen ist.
Im Axamer Tourismusbüro, wie es sich gehört, werden wir als „Dirndln“ begrüßt. (Wieso nicht frisch: „Ihr Rotzdirndln, ihr“?) Aber der Tourismusmensch ist natürlich sehr freundlich, und nachdem ich ihn über unsere Fähigkeit, Dialekt zu dekodieren, aufgeklärt habe, entspannt sich seine Sprachmelodie: „Was machen zwei Dirndln in Axams?“ Und, ungläubig: „War das eine gute Idee, nach Axams zu fahren?“
Der Tourismusmensch ist kein Illusionskünstler, empfiehlt dann aber doch ein gutes Wirtshaus und will, schade, das schöne Buch „Die großen Fasnachten Tirols“ nicht herschenken, in welchem ein trauriger, weißer Bär in Menschenkostüm durch die Dorfstraße trottet. Oder war es ein Mensch im Bärenkostüm?
Wie die Bauernhöfe ausschauen hier in Axams und Götzens, das ist also so, dass man sich ein Haus mit Giebeldach denken darf, das in der Vertikalen optisch zweigeteilt ist: auf der einen ist die Fassade ganz aus Holz, teilweise sehr kunstvoll geschnitzt und verziert, dahinter scheint der Stall gewesen zu sein, und auf der anderen ist sie großteils gemauert und weiß verputzt und scheint den Wohnbereich gekennzeichnet zu haben. Bei manchen der renovierten, veränderten Häuser erahnt man diese Zweiteilung auch noch, wenn der Stall schon längst kein Stall mehr ist.
Was sagt, nach der Rückkehr, das Lexikon? „Längsgeteilter Einhof“ (oder: „Eindachhof“), manchmal liegt die Tenne zwischen Wohnbereich und Stall, manchmal hinterm Haus. Eine Vielzahl von Gehöftformen existiert, man kann sich lang einlesen und schachbrettartig die Möglichkeiten durchspielen und dabei auch irgendwie an Bernd und Hilla Becher denken. (Prost!)
Und wie das Holz geschnitzt und verziert ist, das hab ich auch in Seefeld gesehen, dort sind Herzen in die Balken und Balkone geschnitten, Kreuze, vierblättrige Blüten, die sicher einen Namen haben.

Ich wünsche mir:

  einen traurigen, weißen Bären, bitte.

Fadi Merza
Wenn man den Umkreis meiner „Landvermessung“ auszirkelt, findet sich die Spitze des Zirkels so ziemlich im „Weissen Kreuz“ wieder. Wolfgang Amadeus schrieb: „JNSPRUCK. logiert beym weissen Kreutz.“
Ganz vortrefflich sogar, und gespeiset hab ich ein paar Häuser weiter. Und weil einer der Kellner, Typus Fadi Merza, mich mit Stift und Zettel dort sitzen sehen und also so freundlich gegrüßt hat, hab ich mir gedacht, wie wäre es, wenn der jetzt meinen würde, ich wäre eine Restaurantkritikerin?
Also los: Das „Gedeck Abend 3,00 EUR“ besteht aus einer Glasphiole mit Olivenöl, die, bittesehr, in einem dargebrachten Granitstein steckt, von Fadi Merza (oder Fadi Merzas Bruder) mit reichen Worten, grobem Meersalz und gröberen Kräutern auf einem kleinen Vorspeisenteller angerichtet, dazu Weißbrot.
Als Vorspeise wähle ich „Bouillon mit dreierlei österreichischer Suppeneinlage“ (4,90 EUR): Griesnockerl, Frittaten und nudelig gehäckselte Karottenstreifen, dreimal äußerst bissfest bis allzu körnig. Vor dem Hauptgang fragt Fadi, ob man eine „kleine Pause“ zwischen den Gängen einzulegen wünsche, was ich bejahe. Ich bestelle „Bachforelle mit Polentakruste“
(19,90 EUR). Dazu gibt’s „Wasabi-Erdäpfelpüree“ und Mangold. Das Wasabi-Erdäpfelpüree ist mit Lebensmittelfarbe grün gefärbtes Erdäpfelpüree. Der Fisch ist zu stark gegart, die Kruste hat eine Konsistenz wie dreierlei Gummi.
Okay, der „Sauvignon blanc“ (3,90 EUR) ist gut. Um Wasser muss man sich bemühen: es steht auf einem Schrein, zu dem nur Fadis Kickboxhand Zugang hat. Nach dem Fisch bestelle ich ein weiteres Glas Wein, es wird ins selbe Glas nachgeschenkt. Einerlei, nach dem Fisch ist vor dem Fisch. Am Ende träume ich von einem Faustschlag auf die Nase. Und seltsam: er kommt. Unaufgefordert. Den hab ich gebraucht. Und floate mit der Loungemusik dahin. Grausliche Loungemusik, aber das passt mir jetzt.
 2 von 5 Gourmetpunkten. Gute Nacht.
P.S.: Besser zum „Wetterwirt“ in Axams!

Kevin
Von Seefeld nach Innsbruck fährt man mit dem Zug hoch über der Stadt und hängt mit den Waggons in den Wolken. Die Dorfjugend gibt einen akustischen Eindruck von ihrem Leben:
„Haben wir was am Laufen gehabt, hat sie mich dann abgeschossen, interessiert mich seither gar nix mehr, hab ich mit zwei im Lokal was am Laufen gehabt, ist die dritte dazugekommen, hat mich voll angeschrien, Arschloch, hab ich mit der einen was am Laufen gehabt, hat sie einen Zettel in der Früh hinterlassen: danke für die schöne Nacht und schau dich einmal in deinem Zimmer um; hat die Bitch voll aufgeräumt gehabt in meinem Zimmer, also voll super. Bin ich sechzehn, bist du siebzehn, mir soll meine Bitch immer voll aufräumen und Essen am Tisch, hab ich geträumt, mein Schwanz sei abgeschnitten, hab ich in der Früh gleich hingegriffen, ob er noch da ist, hab ich geträumt, hab ich Aids, hab ich geträumt, dass du mit dem Auto einen Unfall gehabt hast, und die Alte sich gleich einen anderen gesucht hat, Schwuchtel, Smartphone, YouTube, Google Glass, das hol ich mir gleich, da renn ich das ganze Jahr nur noch mit der Brille herum, die Bitches wollen, dass aufgeräumt ist, ich wollte was von ihr, aber sie hat gesagt, sie sei zu schiach für mich. Immer haben die die Komplexe, die’s nicht nötig haben, die brauchen immer Bestätigung, und die anderen mit 100 Kilo in der Legging, die Panzer in den Leggings, bei uns jetzt Nike Vollausstatter, die neuen Snowboardboots, die Adidas mit so austauschbaren Teilen voll geil, die Abercrombie & Fitch-Tasche da so schwul.“
Ich stelle mir vor, wie ich als 16-jähriger Bursch am Land lebe.

Karl Schranz
In den „70ern am Gschwandtkopf“, so ist es auf dem Seefelder Tourismusinformationsplakat fotografisch verbürgt, war der Karl Schranz mit der „Enkelin von Ernest Hemingway“ im Bilde und, man mag mutmaßen: am selben Tage gar, mit der „Schwester von Robert Kennedy“. Er trägt jeweils eine weiße Mütze mit rotem Rand und eine schwarze Sonnenbrille, wohl der Marke „Carrera“.
Während die Schwester von Robert Kennedy von Karl Schranzens Charme wenig beeindruckt, doch mütterlich-wohlgesonnen, neben ihm steht, scheint die Enkelin von Ernest Hemingway von der schwarzbehandschuhten Umarmung des Karl Schranz mehr angetan und senkt lächelnd ihre Lider. Das Haar hat sie nach hinten gebunden und ein schwarzes Stirnband als Schutz gegen die Kälte am Gschwandtkopf bis zu den Augenbrauen gezogen, dessen betont wulstartige Form, nämlich des Stirnbandes, modisch bereits die 80er Jahre ankündigt.
Gehen wir einige Jahrzehnte weiter zurück an den „Beginn des alpinen Schisports in Seefeld“, sehen wir den „Erfinder des Parallelschwunges“, Toni Seelos, im Übrigen ein sehr fescher Kerl, beim Prüfen eines Schis. Wobei ihm die Slalomläuferin Regina „Poppi“ Schöpf, später als Regina Bacher (das sah ich durch mein „Google Glass“) begraben am 3.11.2008 in Seefeld, über die Schulter schaut im kurzärmeligen roten Shirt mit Startnummernhemdchen. Und man hofft, die beiden hätten damals ein paar Parallelschwünge gemeinsam in den Schnee gezogen, bevor dann der Herr Bacher in Poppis Leben getreten ist.
Auf der „Eislaufarena vor dem Hotel Wetterstein“ wiederum drehte die „Schletterer Zenzi“ ihre Runden, „Tiroler Meisterin 1951“, und wollen wir wetten?: sie konnte auch klettern. Und lassen wir sie in Gedanken noch ein bisschen auf dem Eise kreisen, bevor wir uns fragen, ob das vorhin Margaux Hemingway gewesen sein mag oder doch ihre Schwester, und dann denken wir lieber nicht daran, was aus der glücklosen Margaux geworden ist.

Vinzenz
Wäre die Tracht der Tiroler, beruhend auf meinen Beobachtungen, nicht die „North-Face“-Jacke, wäre sie, beruhend auf den Beschreibungen des Seefelder Tourismusbüros, bei den Frauen ein Rock aus schwarzem Wollstoff, ein Leibchen aus schwarzer, blauer, roter oder lila gemusterter Seide mit Blümchen besetzt und einem schwarzen Seidenband, dessen Ziernaht aus Kreuzel- und Grätenstichen bestünde. Das weiße „Schalkl“ wäre an den Ärmeln mit handgeklöppelter Spitze besetzt, und ein helles Seidentuch würde den Halsausschnitt bedecken, hinzu kämen Schürze und Feldhut. Die Männer würden festen tannengrünen Loden tragen mit kleinem Stehkragen aus schwarzem Samt und rotem Vorstoß. Dazu schwarze Halbschuhe und weiße oder graue Wollsocken und einen Hut aus Filz oder Seidenplüsch, schwarz, oval, leicht aufgebogen, mit Flaum und schwarzer Seidenschnur.
Ich würde zu ihnen sagen, ich sei mit der Bahn aus Wien gekommen und hier auf Sommerfrische, und sie würden mir das Melken zeigen, und ich sollte es einmal versuchen und würde mich ganz ungeschickt anstellen. Dann würden sie mich auslachen und sagen, so ein Wiener Mädel sei viel zu blass und mager, ich möge doch meine Sommerfrische verlängern um zwei Wochen, um wieder Speck an die Hüften zu bekommen und Farbe ins Gesicht. Ich würde bleiben, mich zuerst in den Draufgänger Vinzenz verlieben, der mein Herz brechen tät’, und am End’ würd’ die wahre Lieb’ siegen und ich würde Sennerin werden auf einer Hütte auf der Axamer Lizum.
Dann würde der „Beginn des alpinen Schisports“ die Axamer Lizum einnehmen, ich würde davon sehr stark profitieren, meine Hütte würde ich zu einem Tempel ausbauen und mit meinen 140 Jahren noch modische Dirndlschürzen tragen. Ich würde den Schönheitschirurgen anrufen, den ich bei meiner Übernachtung im „Weissen Kreuz“ im Fernsehen beglotzt habe, und er würde sehr viel Verständnis dafür aufbringen, dass es nötig ist, mein gesamtes „überschüssiges Gewebe“ direkt in meinen Balkon zu stopfen, wo die Geranien blüh’n.

Abspann
Beim „Bäcker Ruetz“ in Götzens hängt an der Wand im Hinterzimmer eine kleine Sammlung von Deckeln alter Keramikbehältnisse, geordnet und angebracht wie kleine Bildobjekte. Sehr schön ist das. Das „Krustenbrot“ ist auch gut, der „Kaffee“ aber zum Davonlaufen Richtung „Bus 4162“.
Der Supermarkt „MPREIS“ ist gut. Amen.

Die Pfarrkirche in Götzens birgt ein zirka zwei Meter langes Bühnenbild aus bemaltem Karton, das den Kreuzweg Jesu darstellt, so wunderbar, so witzig und schräg, ach, Meister des Barock, schau owa!

Das wäre auch einmal eine Hauptabendserie: „Birgitz, Natters und Götzens: die drei bösen Schwestern aus dem Inntal“. Besser: die schönen! Aber eine davon ist immer böse oder schiach, damit etwas passiert.

In Axams grenzt der Misthaufen an die Friedhofsmauer. Das „Braunvieh“ bekommt viele Preisplaketten, die aktuellste, die ich entdeckt habe, ist aus dem Jahr 2010. 1963 wiederum war der „Stalldurchschnitt über 3.500 kg Milch mit über 3,90 % Fett“, laut Plakette der „Landwirtschaftskammer für Tirol“.

Noch eine Serie: „Die Landvermesserin“. Habe ich doch auch gerade erst im Schlepptau des Geometers den Grund des Vaters – Aushub, Böschung, Schnee, Tee aus Thermoskannen – abgeschritten.

Und, ja, es gibt in Axams einen Weg, der seinem Namen nach dazu auffordert, was ich mit diesem Text nun tun werde: „Mailsweg!“

 

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