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Verdorbene Vorfreude

Über Sinn und Unsinn von Klappentexten in der Literatur. Eine Polemik von Joachim Lottmann

Natürlich kennen wir alle den Effekt der verdorbenen Vorfreude, wenn wir ein Buch, das einem gerade jemand geschenkt hat, aufklappen und den Klappentext lesen. Für mich hat das dazu geführt, dass ich seit meinen Studententagen die Schutzhüllen der Bücher – auf denen Klappentexte und Rückseiten-Werbung stehen – gleich nach Erhalt wegwerfe. Aber soviel Courage lässt sich nicht ein Leben lang durchhalten. Auch ist es nicht möglich, diese brutale Methode in fremden Bibliotheken oder bei geborgten Büchern anzuwenden. Drittens ist man auch oftmals zu faul, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Zum Beispiel, wenn einem Autor, Titel und Verlag nichts sagen. Da erhofft man sich wenigstens einen schnellen Einstieg in die vorzunehmende Einschätzung. Viertens möchte zumindest ich bei befreundeten Kollegen wissen, wie sie sich selbst und ihr Buch darstellen lassen.

Zum Beispiel Wolfgang Herrndorf. Ich kenne ihn gut. Wir haben das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts miteinander verbracht, und im Gegensatz zu mir war er der beliebteste Mensch der gesamten Literaturszene. Der Klappentext kündigt seinen Debütroman „In Plüschgewittern“ etwas anders an:
„Ein Roman aus der Mitte Berlins und dem Zentrum einer verlorenen Generation.“
„Mir persönlich ist in deutscher Sprache kein Buch bekannt, das dem ‚Fänger im Roggen‘ näher käme.“ „Überaus unterhaltsam. Ein lesenswertes Kunstwerk.“ Das sind drei Aussagen, die sich Redakteure der „Zeit“, der „SZ“ und der „Welt“ abgerungen haben. Was sagen sie mir? Was sollen sie bedeuten? Verlorene Generation? Der Fänger im Roggen? Der Mann ist 1965 geboren, geht somit auf die 50 zu. Ein Kunstwerk? Unterhaltsam? Lesenswert? Am besten, ich schaue einmal, was auf seinem neuesten Roman steht, „Sand“, letztes Jahr erschienen und inzwischen ein Bestseller: „Wie Wolfgang Herrndorf erzählt, mit einer Sprache, nach der man süchtig werden kann, das ist brillant.“ „Auch in fünfzig Jahren wird dies noch ein Roman sein, den wir lesen wollen. Aber besser, man fängt gleich damit an.“
„Wolfgang Herrndorf wurde unter anderem mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Brentanopreis (2011) und dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2012) ausgezeichnet.“
Aha, ein Mann, der Preise abräumt. Ist das gut? Nein, das ist immer ganz schlecht. Das heißt nämlich, dass er nach dem Geschmack langweiliger Juroren schreibt. Somit gäbe dieser Klappentext doch einen nützlichen Hinweis.
Brillante Sprache? Nach der man süchtig wird? Das schreit förmlich nach einer Überprüfung. Schlagen wir willkürlich eine Seite auf und lassen die Sprachdroge auf uns wirken, ganz ergebnisoffen, vielleicht stimmt ja der Klappentext:
„In den wenigen Tagen, an die er sich erinnern konnte, hatte er mehr ungereimtes Zeugs erlebt als mancher Mensch in 70 Jahren. Und nun lief er Gefahr, dieses neue Leben erneut zu verlieren. Helen verschwunden, Dr. Cockcraft verschwunden, eine Arztpraxis hatte vielleicht niemals existiert. Die Mine gestohlen, Bassirs Ultimatum abgelaufen, und möglicherweise schnitt gerade jemand seinem Sohn den Finger ab oder vergewaltigte seine Frau …“
Hm. Schwer zu sagen, ob man gern noch mehr über den potenten Dr. Cockcraft lesen würde. Verlorene Generation in Berlin Mitte? Ist da der Dritte Weltkrieg ausgebrochen? Es klingt so. Mein Urteil: unbestimmt.

Zum nächsten Buch: René Freund schreibt im österreichischen Deuticke-Verlag den Roman „Liebe unter Fischen“. Bei Deuticke bestehen die Klappentexte bequemerweise immer nur aus simpel nacherzählten Inhaltsangaben. So auch hier. Nach der Lektüre dieser Zeilen ist die Neugier auf die Handlung des Buches und ihrem Ausgang sauber abgetötet:
„Fred Firneis, Lyriker mit Sensationsauflagen, leidet nach langen alkoholdurchtränkten Jahren an einem Burnout. Seine Verlegerin, die ihn in seiner Berliner Wohnung aufspürt, schickt ihn in eine Holzhütte in die Alpen nach Österreich. In Grünbach am See gibt es weder Strom noch Handyempfang, und Firneis kommt wieder zu Kräften. Doch dann taucht Mara auf, eine junge Biologin aus der Slowakei, die ihre Doktorarbeit über die Elritze schreibt, einen spannenden kleinen Schwarmfisch. Bald interessiert sich Fred für sämtliche Details von Biologie, Verhaltensforschung – und Mara, die jedoch plötzlich verschwindet. Eine alpine Liebesgeschichte mit Humor und Showdown in Berlin.“
Ein Lyriker mit Sensationsauflagen? Den hat es seit dem antiken Rom nicht mehr gegeben. Also beginnt das Buch gleich mit einer faustdicken Lüge, von der es sich nach menschlichem Ermessen gar nicht mehr erholen kann. Aber vielleicht ist ja auch hier eine süchtigmachende brillante Sprache, wie sie noch in fünfzig Jahren die literarische Welt wird erbeben lassen, am Werk? Der Deuticke-Verlag schweigt hierzu diskret.

Aber kann man es denn besser machen? Nehmen wir als Kontrast einmal absolute Hochkultur, Musils Klassiker „Der Mann ohne Eigenschaften“. Hier steht schon auf der Titelseite, unmittelbar unter dem Titel, das professionelle Eigenlob:
„Sinnbild für eine in Auflösung und Zerfall begriffene Zeit“ (Der Spiegel).
„Ein enzyklopädisches Werk, das erfahren und erkundet sein will, ein Lebensbegleiter“ (Günter Blöcker).
Hat jemand nach diesen Platitüden noch Lust, diesen vielleicht besten Roman aller Zeiten anzufangen? Zumal, es sind nicht nur Platitüden, es ist ja sogar falsch. Der Österreicher hält ja grundsätzlich jede Zeit für eine der Auflösung und des Zerfalls. Das ist sein negatives Karma, seine Todessehnsucht. Aber objektiv war das Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, in dem der Roman spielt, das für Österreich stabilste und glücklichste. Und dann das andere Lob, das von Günter Blöcker. Wer ist der Mann? Wieso darf dieser No-Name, dieses Nichts, über einen Gott wie Musil urteilen, direkt auf der Front Page. Hatten sie keinen anderen? Und dann ist das Lob auch noch vergiftet: Es downgraded die wunderbare Geschichte zu einer staubtrockenen Enzyklopädie. Klingt nach Arbeit. Wer will denn sowas, am Feierabend, in den Ferien? So gesehen machen die Leute von Deuticke doch den besseren Job.

Nehmen wir einen Großen von heute, einen echten Shooting Star, Clemens J. Setz, 30 Jahre jung, berühmt geworden durch „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“. Schon mit Mitte 20 schrieb er den ebenso hochgelobten Schmöker „Die Frequenzen“. Das kleingedruckte 700-Seiten-Werk wird so beworben:
„Nach Söhne und Planeten, seinem Debüt, das ihm einhelliges Lob der Kritik einbrachte, legt Clemens J. Setz ein Werk vor, das alle Erwartungen sprengt: atemberaubend kraftvoll, virtuos-verspielt, sprachgewaltig und zart.“
Ja, servus! Hat der Mann einen neuen James Bond Roman geschrieben? Kraftvoll wie Daniel Craig, atemberaubend sprachgewaltig wie eine kriminelle Rapper Gang? Ausufernd und beliebig wie eine Billig-Soap? Oder feiert da jemand mitsamt seinem Verlag sein sinn- und beziehungsloses „Talent“? Die 700 oder auch gern mal 1.000 Seiten seiner Prosa sind wie ein hochtourender Motor mit gerissenem Keilriemen. Nicht ganz falsch steht dann auch noch auf der Rückseite des Kartons:
„Das Leben als Kettenreaktion, ein Roman als Weltmaschine: Ein Buch über Liebe, Wahnsinn und Ohrgeräusche – reich und raffiniert, bunt und komisch.“ Auf deutsch: Hier darf sich einer austoben. Über alles und somit nichts.

Zum Schluss soll auch ich drankommen. Viel lästern und es selbst genauso machen, das geht nicht. Also lesen Sie den legendären Klappentext des Romans „Mai, Juni, Juli“. Er war es vielleicht, der das Buch zum Bestseller gemacht hat:
„Kein Sex, keine verdammt gute Literatur, keine Monomanie, keine Exzesse, kein Tiefgang, kein lasterhaftes Auskotzen, kein Buch für Gaumenfreunde, keine Phantasie, Mystik, l’amour fou, Aberglaube, kein Geraune im Imperfekt, keine Unzucht im Mittelalter, kein Vergangenheitsbewältigungsmist, kein Avantgarde-Scheiß. Tut mir leid, Brillenfreunde.“

 

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