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Satzspiegel *
von Konrad Paul Liessmann

ÜBER DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER GEDANKEN BEIM SCHREIBEN. Ein merkwürdiger Text Heinrich von Kleists aus dem Jahre 1805 trägt den Titel „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Anhand eines historischen Beispiels – der Rede des Grafen Mirabeau im Jahre 1789 vor den Generalständen, die in der Proklamation der Nationalversammlung endete – versucht Kleist zu zeigen, was es im äußersten Fall bedeuten kann, wenn vielleicht erst während einer Rede ein Einfall formuliert wird, der entgegen allen Absichten und entgegen allen Erwartungen alles ganz anders werden lässt. Aus einer höflichen Antwort auf eine königliche Anfrage wird dann plötzlich der Aufruf zur Revolution – durch einen Gedanken, der dem Redner erst während des Redens kam, ein Gedanke, der in keinem Manuskript stand, den kein Ghostwriter vorgab, den niemand auswendig gelernt und dann aufgesagt hatte. Kleist macht klar, was rhetorische Spontaneität in einer politischen Situation bedeuten kann.
Was aber bedeutet dieses Konzept, wenn man keine Rede hält, sondern eine solche, oder etwas anderes, schreiben will? Gibt es auch so etwas wie eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben? Lässt der Schreibprozess dieses Ausmaß an Spontaneität, den unmittelbaren Einfall, die situative Lust an dem, was einem zufällt, überhaupt zu? Schreiben, zumal professionelles journalistisches oder wissenschaftliches, aber auch literarisches Schreiben erscheint in unserer nüchternen Zeit eher als kontrollierbarer Produktionsprozess, denn als Mischung von Intuition und Spontaneität. Da werden Ideen, Informationen und Materialien gesammelt, Konzepte und Gliederungen erstellt, Recherchen vorgenommen, Argumente und Belege gesucht, Abschnitte strukturiert, Thesen formuliert und Schlussfolgerungen gezogen. Von Schreiben in einem emphatischen Sinn kann da eigentlich nicht mehr die Rede sein, und soll das Ergebnis solcher Bemühungen eine „Präsentation“ sein, reduziert sich dieser Prozess überhaupt auf das Kommentieren mehr oder weniger sinnig zusammengestellter Bilder, Graphiken, Zitate und Verweise. Dieses Verfahren ist dann oft auch assoziativ und plakativ, Gedanken werden keine mehr verfertigt. Allerdings: Es gibt – nach wie vor – ein Schreiben, durch das sich die Gedanken überhaupt erst im Prozess des Schreibens entwickeln. Dann steht keine Idee, keine Anregung, keine vorgegebene Frage, keine strukturierte Projektbeschreibung am Anfang, sondern eine große Leere. Und diese will gefüllt werden: mit einem ersten Satz. Und dieser erste Satz zeitigt den zweiten Satz. Ein Wort gibt das andere, vielleicht hat man sogar Ideen gehabt, auch was man schreiben wollte, schien klar, nun aber steht etwas ganz anderes da. Denn die Formulierung, die man gewählt hat, erträgt eine vorher anvisierte Fortsetzung einfach nicht mehr, der Begriff, den man verwendet, erfordert eine andere Argumentation als die, die man schon für stichhaltig hielt, auf Grund der Lesbarkeit, der Eleganz, und des Klangs liegt es vielleicht nahe, einen Konjunktiv statt eines Indikativs zu verwenden, und schon steht etwas da, was man weder gemeint noch beabsichtigt hatte.
Wenn der Prozess des Schreibens selbst kreativ ist, dann weiß man in dem Moment, in dem man den ersten Satz formuliert, nicht, wie der letzte Satz lauten könnte. Schreiben in diesem avancierten Sinn heißt nicht, Gedanken, Argumente, Überlegungen oder Theorien in eine angemessen sprachliche Form zu bringen, sondern im Vertrauen auf die mögliche Eigendynamik des Schreibens darauf zu bauen, dass aus dem Fortschreiben der Wörter die Gedanken und Ideen überhaupt erst entstehen. Die Voraussetzung dieses Vertrauens aber ist eine Freiheit, die den Schreibenden an keinerlei Vorgaben bindet – ein Thema mag vielleicht vage im Raum stehen, mehr muss es nicht sein. Schreiben in diesem Sinne heißt, ohne schon eine plausible Kette von Gedanken, die zu Papier gebracht werden sollte, im Kopf zu haben, dennoch die Leere einer Seite füllen zu wollen. Nicht Ideenreichtum ist deshalb der eigentliche Ansporn für eine Verfertigung von Gedanken beim Schreiben, sondern Ideenarmut. Die Hand, die Worte niederschreibt, wird zum eigentlichen Organ des Denkens. Wer sich diesem Verfahren überlässt, wird mitunter erstaunt sein, was am Ende dann tatsächlich dasteht. Ohne solch eine Offenheit ist das Denken aber das Papier nicht wert, auf das es gebannt wird.

— * Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert.
— Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln
und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

 

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