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Ein verstecktes Drama

Das Padastertal, ein bei Steinach am Brenner abzweigendes Almtal, wird zur Aushubdeponie des Brenner Basistunnels. Ein Lokalaugenschein von Robert Prosser

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Als ich im März dieses Jahres erstmals ins Padastertal komme, ahne ich nicht, dass diese einzige unbewohnte Abzweigung des Wipptales Projektionsfläche für vielzählige Erwartungen und Hoffnungen ist, die die Region seit geraumer Zeit umtreiben, zu verlassen wirkt der von Steinach zwischen den Tälern von Navis und Schmirn nach Osten verlaufende Bergeinschnitt. Ein für die Gegend nicht untypischer kalter Wind friert eine dünne Schneeschicht auf Hausmauern und Wiesen fest; bis auf das Rauschen des über die gegenüberliegende Brennerautobahn donnernden Schwerverkehrs ist nichts zu hören. An einem Straßenschranken kündigt ein Warnschild eine Baustelle an, rechterhand, den Graben hinab, verliert sich ein schmaler Bach in großzügig angelegten Verbauungen und Auffangbecken. Später erzählt man mir, als eine von vielen in den Wirtschaften wie dem Schi-Café oder dem Bahnhofslokal kursierenden Anekdoten, dass der ehemalige Tiroler Landeshauptmann Wendelin Weingartner das Padastertal als Rückzugsgebiet schätzte und es während seiner Amtszeit regelmäßig aufsuchte. Er war vermutlich nicht der einzige, der in dieser dicht bewaldeten Einsamkeit seinen Kopf wieder freibekam, denke ich und scheitere doch daran, es mir vorzustellen, weil wie Weingartner auch der Wald von der Bildfläche bzw. aus dem Tal verschwunden ist. In mehr als zehn Jahren wird sich hier die größte Deponie des Brenner Basistunnelbaus befinden, um auf einer Länge von 1400 Metern und bis zu 80 Meter hoch an die 7,7 Millionen Kubikmeter Aushub zu lagern. Die Oberfläche der Deponie wird daraufhin neu gestaltet und bepflanzt, um aus dem ehemaligen „Sauloch“, wie es manche Steinacher nennen, eine landwirtschaftlich nutzbare Ebene zu formen. Noch gelangt man zu einer Holzbrücke, von welcher sowohl die in den 1970-ern mit Schubraupen in den Wald gepflügte Forststraße als auch ein „Kuhtod“ genannter, den Bach entlang verlaufender Steig zur Seaper Alm führen, der einzigen, teilweise bewirtschafteten Wohnstätte des Gebietes. Am Talbeginn ragt ein verlassener Hof auf, der in seinem durch zerschlagene Fensterscheiben erspähten Inneren ein aufgegebenes Bauernleben bezeugt. In dunklen, staubigen Räumen liegt blechernes Kochgeschirr auf verstaubten Anrichten, einzig der vordere Teil des Hauses wurde renoviert und dient der Bauleitung als provisorische Unterkunft. Dahinter stehen zwei Holzschuppen, sowie ein weiteres verlassenes Gebäude, welches ein Schild mit der Aufschrift „Zielhaus Naturfreunde Steinach“ trägt. Auf der anderen Seite des Baches zeigt sich im mit Spritzbeton befestigten Hang der Eingang des neu gebauten Padastertunnels. Am Straßenrand liegen schneebedeckte, bereits entastete Baustämme. Neben abgestellten Lastwägen und Baucontainern mit italienischsprachigen Infoblättern findet sich ein Trinkwasserkraftwerk. An der nördlichen Talseite erhebt sich eine Halde, die, wie ich erfahren werde, aus dem Aushub der ersten Phase geschaffen wurde. Bei dem im letzten Jahr erfolgten Bau des ins Padastertal führenden Tunnels fielen 250.000 m³ Gesteinsmaterial an, das sich nun unscheinbar unter gelbem Gras und Schnee bis zur Brücke zieht. Knapp vorm Wasserwerk liegt die St.-Wendelin-Kapelle, an deren Innenwänden gerahmte Partezettel und einige vergilbte Fotografien Verstorbener angebracht sind. Hinter einer schmiedeeisernen Abtrennung hält auf dem Altarbild Mutter Maria das Jesuskind im Arm, so farbverloren unkenntlich, geschwärzt von der Zeit, als wollte das Bildnis einen Vorgeschmack geben auf die Dunkelheit, die über diesen Teil des Tales in nicht allzu ferner Zukunft kommen wird und sich bereits anhand der abgeholzten Hänge erraten lässt: Etwa so hoch, wie die gerodete Fläche reicht, wird die Deponie letztlich sein, um über niedergerissene Gebäude und den Resten von Kapelle und Wasserwerk bis zur Holzbrücke das vordere Padastertal zu bedecken.

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Will man tiefer in die Abläufe dieses Bauprojektes blicken, steht man erst einer unüberschaubaren Datenmasse gegenüber, hundertseitige Sachberichte und Bescheide formen sich im WWW zur virtuellen Deponie. Drei Herren der BBT-SE (der Errichtungsgesellschaft des Brenner Basistunnels) – der Leiter der Kommunikationsabteilung, der Chef der hiesigen Bauleitung und der Umweltsachverständige – laden zu einer Führung ein. Die Reduzierung des LKW-Verkehrs ist die Basis der Argumentation für die Deponie. Damit kein mit Aushub beladenes Schwerkraftfahrzeug Steinach durchquert, kommt der Tunnel ins Spiel, der am Beginn des Padastertales auf der südlichen Seite liegt. Innerhalb von 7 Monaten gebohrt und 700 Meter lang reicht dieser zur Baustelle im Ortsteil Wolf. Der Boden des Tunnels ist von Lastwagenrädern durchfurcht, unzählige Fahrten liegen darin festgefroren, an den Seitenwänden bilden die Reste des Winters unwirkliche, in der Dunkelheit dumpf schimmernde Eisformen. Bevor der Tunnel in Wolf endet, erkennt man im Berginneren den Ortsbrust genannten, derzeitigen Schlusspunkt, von wo im nächsten Schritt weitergebohrt werden wird. Derzeit läuft die Ausschreibung für dieses zweite Baulos, um den der Heiligen Barbara gewidmeten Stollen mit dem eigentlichen Brenner Basistunnel zu verbinden. Rund 4 Kilometer Entfernung sowie ein Abstieg von 400 Metern sind dabei zu bewerkstelligen, pro Vortrieb und Tag ist mit insgesamt 100 LKW-Fahrten zu rechnen. Nach einer etwa 6-monatigen Vergabeprozedur wird feststehen, welches Unternehmen den Auftrag erhält, der mit rund ca. 140 Millionen Euro veranschlagt ist. (Es ähnelt einer Lotterie: Die größten der von der BBT-SE ausgeschriebenen Lose bringen 700 bis 800 Millionen Euro). Ab 2017 sollen die Gesteinsmassen aus Haupttunnel und Erkundungsstollen mittels 20 Kilometer langen Förderbändern bis zu 800 Tonnen pro Stunde ins Padastertal bringen. Die Deponie wird während der gesamten, bis 2025 geplanten Bauzeit vorwiegend Quarzphyllit, Bündner Schiefer und Zentralgneis aufnehmen, die aus den Vortrieben zwischen Pfons, Brenner und Ahrental stammen. Der seit der Flussverbauung fischlose Padasterbach wird im nächsten Arbeitsschritt untertunnelt und soll nach der Rekultivierung in einer Betonrinne über die neu entstandene Ebene verlaufen, der unterirdische Verlauf bleibt für den Fall eines Hochwassers bestehen. Ein solches stürzte während schwerer Unwetter im August 2012 aus dem Padastertal, der Ortsteil Siegreith konnte dank bereits angelegter Auffangbecken vor einem Unglück bewahrt werden.

Etwa zwanzig Meter den Stollen hinein liegt linkerhand eine Abzweigung, die zur vormals als Sprengstofflager benützten Kaverne führt. Jetzt ist das Gewölbe mit Sesseln, Bierbänken und einer Theaterbühne ausgestattet, die sich im Licht der Taschenlampe als Inneneinrichtung einer kleinen Hütte zeigt. Am 5. April 2013 luden die Volksschauspiele Steinach zur Premiere des Stückes „Die Wilde Frau“ von Felix Mitterer in den Stollen. Die Regisseurin möchte damit keinen künstlerischen Kommentar zum Eingriff ins Padastertal abgeben, erklärt sie auf Nachfrage, und freut sich über die gute Zusammenarbeit mit der BBT-SE. Felix Mitterer persönlich, erzählt man sich in Steinachs Lokalen, habe sich für eine der folgenden Vorstellungen als Zuseher angekündigt.

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Ähnlich, wie Mineure Frauen einerseits Stollen widmen und sie andererseits aus dem Tunnel verbannen, weil sie dem Aberglauben zufolge Unglück ins Bergwerk bringen, so sieht sich der Umweltsachverständige des BBT-SE in einer Hassliebe zu den Sachverständigen des Landes Tirols gefangen, die ihn mit ihren Anforderungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen auf Trab halten. An die 350 Naturschutzauflagen sind zu erfüllen, für die neun im vorderen Padastertal vorkommenden Fledermausarten (darunter unverhofft eine bisher in Tirol unbekannte) müssen beispielsweise neue Schlafplätze bereitgestellt werden. Fledermäuse gelten als anpassungsfähig, schwieriger gestalten sich die Verpflanzungen der gleichsam aufgefundenen Orchideen; das Gelingen ihrer Umsiedelung vermag niemand zu bestätigen. Ein eigener Sachverständiger wacht darüber, dass keine Neophyten – eingeschleppte, nicht ortsübliche Pflanzen – angesetzt werden, Samenfallen sieben die versteckten Passagiere des Pollenfluges aus. Letztes Jahr wurde mithilfe von Futterkrippen begonnen, das in großer Zahl ansässige Rotwild nach Norden zu locken; jedoch es kommt, vom neu ausgesäten Gras angezogen, zurück; oft sind am oberen Rand der Deponie Gämsen und Rehe zu beobachten. Jede Schicht von Aushub wird gewalzt, verdichtet, möglichst kompakt gehalten. Entlang des Berghanges wurde eine Druckleitung gelegt, die zum neuen Wasserwerk führt. Talbeginn, nahe dem Fahrradweg von München nach Verona, wird die St.-Wendelin-Kapelle aus Bündner Schiefer neu errichtet, die feierliche Eröffnung ist für diesen Sommer angesetzt. Luft, Wasser, Bodenerschütterungen werden aufgezeichnet und untersucht, die Daten und Proben gehen an Hygieneinstitute und an die Universität Innsbruck. Natürlich dient die genaue Datenerfassung von Seiten der BBT-SE auch dazu, bei Bedarf die eigene Unschuld zu beweisen, falls, was vorkommt, ein Bauer Jauche in den Fluss leitet und die überschrittenen Grenzwerte den Verdacht zuerst auf die Tunnelbaugesellschaft lenken. Gerne zieht man als Beispiel den in Bau befindlichen St. Gotthard Basistunnel heran, dortige Fehlschläge wollen analysiert, Erfolge genützt werden. Mit dem Aushub wurden in der Schweiz etwa Inseln im Zürcher See aufgeschüttet oder Forststraßen erneuert, was einen starken LKW-Verkehr erfordert, Deponien sind eine vergleichsweise geringere Umweltbeeinträchtigung. Der Vorwurf, das gesamte Projekt gehe zu zaghaft vor sich, wird von der Bauleitung durch Unsicherheiten erklärt, die im Detail stecken, beispielsweise kann ein Bergmassiv unvorhergesehene Gesteinsschichten bereithalten. Auch die verschiedenen Grundrechte in Italien und Österreich sorgen für Aufschub: Wird hier unter einem privaten Grundstück gegraben, so zieht das ein Entschädigungsverfahren nach sich, da in Österreich der Grundbesitz, überspitzt ausgedrückt, bis zum Erdmittelpunkt reicht; in Italien dagegen endet dieser nach etwa 30 Metern. Tunnelbohrungen haben jenseits des Brenners nur beschränkt juristische Auswirkungen, führen in Tirol aber zu tausenden Verträgen, die, da es sich um ein Projekt zweier Staaten handelt, zweisprachig abgefasst werden müssen. Die schiere Menge an Verfahren, Dolmetschern und Übersetzungen muss überwältigend sein, vermuten die drei Herren der BBT-SE.

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Laut Dorfchronik war das hintere Padastertal bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts bewohnt. Sechs Höfe wurden damals von einer Lawine zerstört, als die ansässigen Bauernfamilien sich in Steinachs Kirche zur Christmette eingefunden hatten. Bis in die 1980er lief durchs mit Sonnenschein nicht gerade gesegnete Padastertal eine offizielle Rodelrennstrecke, auf welcher auch Staatsmeisterschaften ausgetragen wurden. 1995 stürzten die zwei Brüder, die zum maroden Hof am Talbeginn gehörten, mit einem selbstgebauten Traktorengefährt auf der Rückfahrt von der Seaper Alm ziemlich genau vom Startpunkt der Rennrodelstrecke und verunglückten tödlich. Die Witwe eines der beiden bewohnte den vorderen Teil des Hofes und wurde letztes Jahr von der BBT-SE ausgelöst. Erwähnenswert ist, dass sich 17 Einheimische in diesem Revier die Gemeinschaftsjagd teilen, um zu verhindern, dass ein reicher Italiener das Jagdrecht aufkauft und die Wälder leerschießt, wie offenbar an manchen Orten des Oberlandes bereits geschehen. In Steinach werden Unannehmlichkeiten meist aus dem Süden erwartet bzw. befürchtet, diesen Eindruck erwecken die geführten und mitgehörten Gespräche. Wer nach dem Padastertal fragt, dem wird mit Ansichten zum gesamten Brenner Basistunnel geantwortet. Wenige meinen, dass es schade um das Tal wäre. „Alles was die Gesellschaft macht, hat Hand und Fuß“, höre ich; auf die Frage, welche Meinung man zum Tunnelbau einnimmt, kommt die Antwort, man sei zu 100 % dafür. Der BBT-SE eilt der Ruf voraus, schnell und gut zu entschädigen, die Gesellschaft gilt als ausgezeichneter Geschäftspartner. (Es scheint, als würde die BBT-SE ein Füllhorn übers Wipptal ausschütten, an dessen Geldregen sich viele bedienen.) Hubert Rauch, ÖVP-Politiker und seit 1986 Steinachs Bürgermeister, erklärt mir, dass die Deponie vom Gemeinderat einstimmig beschlossen worden sei, wobei die Fraktion Rauchs mit 10 von 15 Sitzen die Mehrheit hält. Der existierende Schienenverkehr durchs Dorf ist sein erklärtes Feindbild, wichtig ist ihm, der Jugend ein lebenswertes Steinach zu bieten. (Diese Forderung wiederholen einige andere Gesprächspartner, der Verdacht der Floskel sei daher geäußert.) Der Bürgermeister erhofft sich bis zu 25.000 mehr Besucher pro Jahr, die, vom neu errichteten Infocenter angezogen, mit Baustellentourismus à la Gotthardtunnel Steinach und das Wipptal beleben. Ihm zufolge wird der Bau des Infocenters heuer im Mai begonnen und bis Weihnachten vollendet. Recherchen ergeben, dass das Projekt laut Vertrag zwar dieses Jahr aufgenommen werden muss, aber frühestens im nächsten Jahr mit der Fertigstellung zu rechnen ist. Es handelt sich dabei um einen Anbau an die Talstation des Schigebietes Bergeralm mit ca. 500 m² Fläche – samt Fachausstellung, Tunnelführung, Baustellenbesichtigung und Fachvorträgen. Laut dem Geschäftsführer des Tourismusverbandes Wipptal eine Initialzündung für die Region, stark besuchte Ortschaften wie Seefeld sollen das Infocenter ihren Gästen als Schlechtwetterprogramm anpreisen. Der Bürgermeister bestätigt, dass Deponie und Basistunnel ein gutes Geschäft für die Gemeinde sind. Abgesehen von den Ablösezahlungen der BBT-SE existiert ein Vertrag zwischen der Landesregierung und den Ortschaften, die an der Bahnlinie liegen. Errechnet nach der Länge des Tunnelbaus im Gemeindegebiet und der Beeinträchtigung durch die Baustelle bekommt Steinach demnach 25 % der Kommunalsteuer je nach Baufortschritt ausbezahlt.

Im Taleingang gehört die Seite rechterhand den Österreichischen Bundesforsten, weiter hinein besitzt die Agrargemeinschaft Matrei einige Hektar. Die nördliche Seite der Deponie sowie der Großteil des Waldbesitzes im Padastertal fällt der Agrargemeinschaft Steinach zu. Die ca. 150 Mitglieder zählende Gemeindegutsagrargemeinschaft Steinach rodet ihre Deponiegründe und verkauft die geschlägerten Bäume zu 80 % als Nutzholz an Unternehmen wie Binder oder Pfeifer und zu 20% als Brennholz. Sie kassiert Entschädigung von der BBT-SE, weil die Bäume zwar qualitativ hochwertig, mit 50 bis 60 Jahren aber noch zu jung zum Fällen sind und es sich daher um einen Ertragsentgang handelt. Dieser Verdienst wird in den Ankauf neuer Waldgründe und in die Sanierung von Forstwegen gesteckt. Da die eigentliche Deponiepacht aber nicht der Agrar zukommt, sondern an die Gemeinde fließt, schätzt der Agrarier, mit dem ich mich unterhalte, dass bisher an die 500.000 Euro in die Ortskassa gelangt seien. Ohne die BBT-SE, stellt der Agrarier fest, wäre auch das veraltete Trinkwasserwerk im Padastertal nicht zu ersetzen gewesen.

Im September 2009 kam es zu einer Protestwanderung vom Bahnhof in Steinach bis zur Seaper Alm, als Gemeinschaftsaktion der Bürgerinitiative Lebenswertes Wipptal, des Architekten Michael Prachensky und des Autors Winfried Linde. Dies blieb die einzige nennenswerte Tätigkeit, um auf die Bewahrung des Tales aufmerksam zu machen. Auffallend ist, dass den politischen Parteien und Akteuren bis auf Fritz Gurgiser von sämtlichen Beteiligten wenig bis gar keine Bedeutung zugemessen wird. Die Politik wirft in Gestalt der kommenden Landtagswahl einzig anhand von Plakaten, Witzeleien über Stronach und der Angst der Agrarier vor Rückgabeforderungen schmächtige Schatten über Steinach. Das Errichten einer Deponie im Padastertal war bereits 2002 im Gespräch, mindestens ebenso lang kursieren Gerüchte über die Rolle eines großen Tiroler Bauunternehmens bzw. dessen Zirler Tochterfirma. Das Unternehmen dürfte bereits frühzeitig einen Tipp über geplante Deponien erhalten haben und begann – risikoreich, aber wirtschaftlich einleuchtend – sich im Wipptal Rechte an möglichen Ablagerungsplätzen zu sichern. Der das Padastertal betreffende Deal mit den Österreichischen Bundesforsten, der unter anderem in einem Artikel der Tiroler Tageszeitung vom 30.11.2011 nachzulesen ist, hätte bedeutet, dass die BBT-SE einen Deponiepreis von 2,75 Euro/m³ zahlen müsste. Laut BBT-SE wurde diese Problematik mittlerweile geklärt, die Entschädigung beträgt bei allen Deponien einheitlich 1,30 Euro/m³.

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Gemeinsam mit seiner Ehefrau bewirtschaftet Otto Pils seit 1999 die im hinteren Padastertal auf 1619 Metern gelegene, rund 300 Jahre alte Seaper Alm. Wanderern, die sich über die Deponie beschweren, zeigt er Fotomontagen der BBT-SE, die einen Eindruck vermitteln sollen, wie das neubepflanzte Areal einmal aussehen wird; er steht dem Projekt positiv gegenüber und kann aufgrund der Vielzahl an Orchideen und Wildtieren, die sich im Talschluss findet, die Aufregung um bedrohte Lebensräume im vorderen Teil nicht nachvollziehen. Die Seaper Alm ist von Mitte Juni bis Mitte September geöffnet und dient als Stützpunkt für Jäger und die auf den umliegenden Weidegründen arbeitenden Bauern. Es ist keine Gastwirtschaft im eigentlichen Sinn, die Alm verfügt weder über Strom, Kanalanschluss oder Sonnenschirme. Die Baustelle hilft dem Bewirtschafter, das Ideal eines alpinen Rückzugsortes, der nur Eingeweihten zur Verfügung steht, zu bewahren, da nun noch weniger Besucher als zuvor kommen. Im Blickfeld der Stubaier und Zillertaler Alpen, den Olperer zum Greifen nah, passiert, wie man es sich von einer abgeschiedenen Alm erwartet, nie wirklich viel. Letztes Jahr sind fünf Kühe abgestürzt oder in einen Murmeltierbau getreten und mussten daraufhin verendet oder verletzt nach Steinach gebracht werden. (In der Schweiz, um ein dortiges Beispiel auch in Bezug auf die Almwirtschaft zu nennen, sprengt man tote  Kühe an Ort und Stelle in die Luft). Der Name der Alm leitet sich von einem Grundbucheintrag in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Die Vorfahren des jetzigen Besitzers Paul Spörr, zwei Brüder namens Hans und Josef vulgo Sepper besaßen Gründe im Talkessel. Beim Niederschreiben der Rechte wurde aus Sepp Seap – ein der Unachtsamkeit eines Chronisten geschuldeter Fehler.
Als Ausweichroute ins hintere Padastertal soll bei Deponiebetrieb eine Forststraße benützt werden, die über den südlichen Bergkamm führt. Diese ist vier Kilometer länger als die bisherige und bedingt bei Heufuhren und Viehtransport eine nicht unwesentliche Erhöhung der Fahrzeit von ca. 2 Stunden. Es gäbe oberhalb der Deponie zwar einen entlang der Wasserleitung errichteten Weg; dieser muss nach aktuellem Stand aber rückgebaut werden – manche meinen, auf Beschluss des Landes Tirol, andere, auf Entscheidung der BBT-SE. Paul Spörr, Besitzer der Seaper Alm und Obmann der Weggemeinschaft der Bauern, die vor kurzem die Parteistellung für zukünftige Verfahren erhalten hat, bezeichnet es als eine Tragödie, dass die Bewirtschafter des hinteren Padastertales auf diese Forststraße ausweichen sollen. Wie so vieles liegt auch diese Angelegenheit in der Schwebe, vielleicht wird der Höhenweg freigegeben, vielleicht ist der Bauer, der die letzten 230  Meter der neuen Forststraße besitzt und sich bisher geweigert hatte, an die BBT-SE zu verkaufen, stur geblieben. Die Chancen, dass auch er sich abfinden lässt, stehen, wie Spörr meint, allerdings gut. (Zwei Tage nach unserem Gespräch erfahre ich, dass er mit seiner Befürchtung Recht hatte). 17 Bauern teilen sich im Gesamten rund 500 Hektar umfassende Weidegründe; zwei von ihnen führen Hof und Vieh im Vollerwerb, der Großteil betreibt die Landwirtschaft als Zweitberuf. Von Gemeinde und Agrariern sei nie Unterstützung gekommen, sagt Spörr. Erst seit er den ORF kontaktiert habe, wäre Gesprächsbereitschaft von Seiten der BBT-SE zu erkennen, was der vorherigen Aussage der Gesellschaft, es gäbe keine andere Möglichkeit als diese Ausweichroute, widerspreche. Spörr zufolge kommt es derzeit täglich zu 48 Fahrten von Bewirtschaftern Richtung Talkessel und zurück – so verlassen, wie man annehmen möchte, ist das Padastertal nicht. Aufgrund des längeren Weges und der damit bedingten verkomplizierten landwirtschaftlichen Tätigkeit, die nicht mit einer Lohnarbeit zu vereinbaren ist, werden die meisten Bauern die Entschädigungszahlungen annehmen und die Weidegründe aufgeben. Wie sich die befürchtete Verwaldung und der Verlust eines alpinen Kleinodes mit dem von der BBT-SE und dem Land Tirol forcierten Umweltschutz vereinbaren lassen, ist eine Frage, die Spörr nun mithilfe eines Anwaltes stellt. Fest steht, dass neue Deponiearbeiten erst im nächsten Jahr begonnen werden, bis dahin bleibt der Talkessel wie gewohnt erreichbar. Was dann geschieht, weiß niemand.

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Das Padastertal ist in all seiner abgeholzten Baustellenhässlichkeit eine Manifestation der Wünsche und Befürchtungen, die die Wipptaler Bevölkerung aufgrund des Transitverkehres seit Jahrzehnten beschäftigen. In Steinach hofft man auf weniger Verkehr und auf Mineure, die in hiesigen Privatunterkünften wohnen, in Lokalen und Gasthäusern konsumieren und so die lokalen Wirtschaft ankurbeln. Man hofft auf einen funktionierten Basistunnel, eine bewahrte Natur und auf eine Belebung des Ortes. Beim Autobahnbau 1971 fanden einige steirische Arbeiter in Steinach die Liebe und blieben hier, erzählt man. Von diesen Ausnahmen abgesehen werden die damals ins Wipptal gekommenen Männer bestenfalls als „wilde Hunde“ bezeichnet; viele erinnern sich einiger Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Bevölkerung. Wie das Gemälde an der Außenmauer des Hotels Rose verrät, hat Steinach eine eigenwillige Beziehung zu Zugereisten: Als 1631, nach sechsjähriger Abwesenheit von 200 in den 30-jährigen Krieg gezogenen Soldaten sechs Männer aus der Schweiz zurückkehrten, brachte einer von ihnen ein Mädchen mit, weil er glaubte, seine Frau sei zwischenzeitlich verstorben. Wieder zuhause bemerkte er seinen Irrtum und ihm blieb nichts anderes übrig, als das Schweizer Mädchen zurückzuschicken. Auch in Felix Mitterers Stück „Die Wilde Frau“ kommt es zu unerwartetem weiblichen Besuch, zudem nimmt ein gekreuzigtes Reh eine symbolisch wichtige Rolle ein. Wer dem gewilderten Tier unters Fell schlüpft und von den Holzfällern verspeist wird, und wer wiederum diese Holzfäller sind, wird im Aufeinandertreffen von Naturschutz, Bauern, Agrariern, Gemeinderäten, Bürgerinitiativen, Baugesellschaften und Anrainern reihum ausgeschnapst und ist in erster Linie eine Frage des Blickwinkels. Die Volksschauspiele Steinach werden zumindest bis 2025 nicht zwingend auf fremde Stücke zurückgreifen müssen, im eigenen Dorf sollte genügend Stoff zu finden sein.

 

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