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Gefährliche Träume auf Papier

Martin Walde hat mit seinen „enactments“ den Umschlag von Heft Nr. 22 und sechs Doppelseiten gestaltet. – Harald Uhr über den Künstler als Seismographen, „der sich dem Rätsel verschrieben hat, um über die Magie der Niederschrift das Verborgene und Vergessene wie ein Orakel zum Sprechen zu bringen.“

Die Arbeiten, die Martin Walde für Quart kompiliert hat, sind zunächst, und hier trügt der Augenschein auch erst mal nicht, im vermeintlich klassischen Sinne Arbeiten auf Papier. Mit dem gleichen Recht könnte man sie aber darüber hinaus auch als Arbeiten mit oder über Papier bezeichnen, denn die Materialität sowohl der Papiere als auch der verwendeten Stoffe, mit denen die Ebenen der Bilder aufgetragen, beschichtet, überlagert oder imprägniert werden, spielen eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle. Somit sprengen diese Arbeiten die Gattungsgrenzen – hin zu skulpturalen oder plastischen Artefakten, wenn sie denn als solche wahrgenommen und benutzt werden. So signalisiert das dünne, fragile Papier so etwas wie Verletzlichkeit, es kann schnell einreißen, Knicke abbekommen oder gänzlich zerknüllt als Wurfgeschoss dienen. In diesen Arbeiten auf oder mit Papier erweist sich Walde demnach nicht zuletzt eben auch als Bildhauer, weil er den Umgang mit jedwedem Material vornehmlich durch die Handhabung und die daraus bedingte Formbarkeit heraus „begreift“. Hierzu gehört zweifellos auch der Umstand, dass sein Trachten darauf gerichtet zu sein scheint, jegliche Begriffsbestimmung oder Festlegung einer Auflösung anzunähern. Treffend hat daher Roland Nachtigäller in einem Katalogbeitrag angemerkt: „Seit vielen Jahren sind Martin Waldes künstlerische Unternehmungen geprägt von Elementen des Zufalls, der Entropie, des Geheimnisvollen. Seine Skulpturen aus Glas und Silikon erweitern den bisherigen Skulpturbegriff. Der plastische Prozess ist in die Entstehung mit eingebunden. Diese Prozesshaftigkeit zeigt sich auch in seinen Zeichnungen. Obsession und Transformation sind die Grundlagen seiner Arbeiten. Ein kommunikativer Prozess verändert die Sichtweise auf den Gegenstand, entweder durch comicartige sprechende Zeichnungen oder durch Handlungsanweisungen in seinen Installationen und Skulpturen.“

Sich dem Fremdartigen auszusetzen gehört mithin zur bestimmenden künstlerischen Strategie des 1957 geborenen Tirolers. Zu eben diesem Fremdartigen kann mitunter auch das vermeintlich Ureigenste, wie die eigene Wahrnehmung oder die Erinnerung, zählen. Was bedeutet es, wenn der Mensch uns so fremd wird wie ein anderes Tier? Mit solchen und ähnlichen Fragestellungen hat Walde wie kaum jemand sonst über die Jahre hinweg eine Neugier am anthropologisch noch Unbekannten Aufrecht erhalten und in seinen Arbeiten in immer wieder neuen Variationen thematisiert. Speziell die Erinnerung wird in Waldes Augen als eine handwerklich zu bewältigende plastische Aufgabe, als formender Prozess betrachtet. Als Mittel hierzu dienen ihm die konstant seit den 80er-Jahren entwickelten Zeichnungsserien, die ab 1997 den Titel „Loosing Control (enactments)“ tragen. Neueste aber auch ältere Beispiele aus diesem Fundus sind in die aktuelle Quart-Ausgabe hier unter dem Titel „Satelite Pictures of a man with many jobs“ eingeflochten. In loser Folge und zahlreichen Variationen bieten sie fortwährende Hinweise auf die Verzerrungen der Arbeit der Erinnerung am Erinnerten und belegen, dass der Zugriff auf das Wirkliche, das wirklich war, nicht fehlerfrei zu schaffen ist. Den Ausgangspunkt bilden zumeist Szenen im städtischen Umfeld, die jedenfalls auf den ersten, vielleicht aber auch den zweiten Blick, wenn er sich denn bietet, aus dem Raster der Normalität herauszufallen scheinen. Die Blätter beschreiben Ereignisse, die den öffentlichen Raum auf eine andere Weise sichtbar machen können – Geschehnisse, die die Schutzhülle unseres alltäglichen Normalitätsempfindens durchbrechen. Für Martin Walde ist „Enactments“ der kollektive Titel einer Serie von Zeichnungen, Scripts, Storyboards, oftmals Fotos und in Einzelfällen auch Videos, die solche Ereignisse im öffentlichen Raum registrieren und aufzeichnen. Es geht um den Versuch, Dinge zu visualisieren, die außerhalb des Dokumentierbaren liegen, zumal, oder erst recht, da Walde nicht bewusst oder gezielt nach diesen flüchtigen Momenten Ausschau hält, entsprechendes mediales Werkzeug nicht immer bei der Hand hat und somit das Medium „Erinnerung“ in Anschlag bringen muss. Etwa bei der Szene, wo Walde einen jungen Mann mit Strohhut beobachtet, der mit hochgekrempelter Hose im völlig verschmutzten Wienfluss steht und zwei Schwäne, die dort eher gleichmütig ihre Bahnen zeihen, mit Wasser bespritzt und beschimpft. Erst Jahre nach dieser Beobachtung entstanden die Fotos von dieser Lokalität und wurden von Walde mit der ursprünglich spontan angefertigten Zeichnung zusammengeführt. Ein weiteres Beispiel zeigt eine weibliche Person mit einem kleinen Damenrucksack, die über mehrere Jahre hinweg die Eisengitter, die die Bäume im öffentlichen Stadtraum umringen, vom Unkraut befreit. Walde bemerkte immer wieder diese Frau, die sichtlich ohne äußeren Auftrag ihrer Tätigkeit im öffentlichen Raum nachging. Nachdem jedoch die Eisengitter von städtischer Seite entfernt wurden, hat er sie im Straßenbild nicht wieder angetroffen. Eine dritte Sequenz sei hier noch angeführt: Eine Szene, die geläufig ist, die man aber dennoch selten sieht. Ein Auto blockiert die Fahrspur, aus der Haube quillt Rauch. Ein Mann in heller Hose beugt sich tief über die geöffnete Motorhaube. In dem ganzen Geschehen des weiterströmenden Verkehrs bekommt dieser herausgelöste Moment etwas Skulpturales.

Mit seinen Bild- und Zeichnungssequenzen bestätigt Walde das ins Ereignis eingeführte Ich. Als Erinnerungsspur wird das Gestörte sichtbarer als das Nichtgestörte. Hierzu bedient sich Walde einer Chiffrenschrift, die zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn zu vermitteln sucht – als Konzentrat einer sich selbst suchenden Idee. Aus der Fülle der Merkmale und Strukturen der Welt hebt der Künstler diejenigen hervor, die für ihn affektiv bedeutsam sind. Jenseits von Diskursivität und Regelsystemen und jenseits bloß intellektueller Intuition entwirft Walde ein Zeichen- und Begriffssystem, das aus der Innovation einer abschweifenden und spekulativen Sprache lebt. Friedrich Schlegels Diktum, dass die Worte respektive Bilder sich selbst oft besser verstehen als diejenigen, von denen sie gebraucht werden, kommt einem hierbei in den Sinn. Seine Bilderreihen tragen dazu bei, neue Gestaltungen des Sichtbaren, des Sagbaren und des Denkbaren zu entwerfen. Seine Haltung ist geprägt von der verhaltenen Sicherheit der vagabundierenden Spieler, Poeten und „Bastler“, die den Alltag gleichermaßen als Materiallieferanten wie als Baustelle benutzen, als gegeben und infiltrierbar vorstellen. Im Ergebnis entstehen dann glücklich verwandelte und neu lesbare Orte, Orte, die Relationen aufzeigen, Energien und Utopien verhandeln. Auch für Walde steht daher die Beschäftigung mit den Zwischenräumen im Fokus seiner künstlerischen Grundlagenforschung. Seine zeichnerische, fotografische oder filmische Annäherung zeugt dabei von einer Intimität der Wahrnehmung und impliziert die Aufgabe eines rein distanzierenden und registrierenden Beobachtens.

Die Dringlichkeit des Anliegens prägt dabei seine Formensuche. Hinter der Anschmiegung an Vorhandenes und Bekanntes setzt eine präzise Bildformung ein, deren Spiel mit der Wirklichkeit weder einfache Wiederholung noch eindeutiger Kommentar ist. Stattdessen gilt es, Irritationen und Störungen für das Überleben produktiv nutzbar zu machen.
Behandelt werden die blinden Flecken unserer visuellen Weltaneignung, markieren doch die Abbildungen so etwas wie die Grenzen unseres Wirklichkeitshorizonts. Bereiche werden angesprochen, wo ein wahrnehmendes und identifizierendes Sehen sich mit emotionalen Gestimmtheiten und Atmosphären vermengt und eine klare Trennlinie nicht mehr auszumachen ist. Worin bestehen nun die Herausforderungen an das Auge, denen wir bei der Betrachtung der Arbeiten von Martin Walde ausgesetzt sind? Die Kunst Waldes ist nicht ortlos, sondern hat Ortlosigkeit zum Thema. Sie behandelt die Frage: Wie kann ich einen Bezug zu etwas haben, mit dem ich mich nicht in Beziehung setzen kann? Es entspinnt sich hier ein ausgetüfteltes, nahezu existentielles Spiel von Nähe und Distanz. Das Bild ist eben das, von dem ich ausgeschlossen bin. Nur wenn wir uns als fremd erfahren, verändern wir das Vertraute. Walde begreift die Welt, die menschlichen Beziehungen als „Ensembles“, als veränderliche Konstellationen von Wahrnehmung und Reflexion, von Normen, Geschichten, Emotionen und Theorien. Auf den ersten Blick handelt es sich um rätselhafte Gebilde mit unklarer Formenstruktur. Auf den zweiten Blick erkennt – oder vorsichtiger formuliert: erahnt – man ein komplexes System von bildimmanenten Relationen auf verschiedenen Ebenen. So ist die Form der Ensembles zwar offen und mehrdeutig, doch nach einem bestimmten Ordnungs- und Verweissystem organisiert. Sein prozesshaftes Arbeiten, das Reproduzieren, Anbauen und Wiedereinbauen bringt es mit sich, dass die Komplexität seiner Arbeiten kein fester, einmal erreichter Zustand ist, sondern sich ständig verändert. Es geht um Be- und Entgrenzung, der Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, um die Notwendigkeit einer Grenzziehung, um die Entgrenzung traditioneller Zeichensetzung. In ihrer distanzierten Kargheit operieren die Bilder mit einer poetischen Verdichtung und weisen den Künstler als Seismographen für jenen zeitgemäßen Bewusstseinszustand aus, der sich dem Rätsel verschrieben hat, um über die Magie der Niederschrift das Verborgene und Vergessene wie ein Orakel zum Sprechen zu bringen. Die Erregung vor dem Unfassbaren wie die Anspannung selbst scheinen in den fragilen Gebilden gespeichert.

Nicht nur durch die ständige Ergänzung und Variation der Motivreihen, sondern auch durch ein fortschreitendes Erproben und Erweitern der technischen Umsetzungsmöglichkeiten erweist sich die Serie der „Enactments“ als ein zentrales Versuchslabor für Martin Waldes Untersuchungen hybrider Zustände. Was auf den ersten Blick als reines Experimentieren mit chemischen Rezepturen und Mixturen für neuartige drucktechnische Lösungen bei der Zusammenführung von Fotos, Schrift und Bild daherkommt, bildet gleichermaßen eine subtile Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Ebenen des Dargestellten oder Abgebildeten. Zufall und Notwendigkeit gehen dabei ungeahnte Verbindungen ein. Konsistenzen, Überlagerungen und Schichtungen werden versuchsweise in Stellung gebracht, um von einer grundsätzlichen Bestimmung und Infragestellung der Ausgangsmedien begleitet zu werden. Was ist ein Foto, was eine Zeichnung und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander oder zu den Kategorien von Zeit und Raum? Oder wie beeinflusst die jeweilige Handhabung, der Druck auf den Auslöser, die Linienziehung oder Strichsetzung die Deutungsmöglichkeit der Kombinationen? Für das anvisierte, aber nie zu Gänze erreichbare Ziel einer vollständigen Aufzeichnung einer Realität bedient sich Walde jedweder Möglichkeit der Manipulation und entwickelt eine selbst entworfene Drucktechnik, bei der die Bilder durch verschiedene Experimente mit chemischen Rezepturen völlig individuell und nicht reproduzierbar auf das Papier übertragen werden. Die Fotografie wird dabei ihrer eigentlichen Aufgabe, einen ganz bestimmten Moment im Hier und Jetzt einzufangen, enthoben und lediglich zur Ortsbestimmung eingesetzt. Durch die Überlagerung mit den gezeichneten Schablonen erweitert Walde das Spektrum um die Möglichkeiten der Malerei, die seit jeher von den zeitlichen Beschränkungen der Fotografie befreit war. In ihrem Zusammenwirken kommen schließlich plastische Komponenten zum Tragen. Mit seiner Visualisierungsstrategie, die bewusst auch Fehlerhaftes und Unvorhersehbares mit einschließt, verweist der Künstler auf die Arbeitsweise des menschlichen Bewusstseins, sein ständiges Schwanken und Driften zwischen Verengung und Erweiterung, sein Murmeln von Texten und Subtexten. Schließlich sind auch beim Denken und Erinnern chemische Prozesse und Substanzen am Werk.

Auf spielerisch-kreative Weise erkundet Martin Walde somit die poetischen Freiräume unserer durch technische Medien normierten Bildwelten, ohne dass diese sich in jedem Einzelfall einer „Plausibilitätskontrolle“ durch den Betrachter unterziehen lassen.
Die vertraut erscheinenden Motive erweisen sich als Versatzstücke einer imaginären Parallelwelt, die sich unserem Verlangen nach eindeutiger Zuordnung entziehen. Darin besteht jedoch auch ihre Gleichnishaftigkeit dem Leben gegenüber – einem Spiel, dessen Zweck darin besteht, die Regeln herauszufinden, wobei sich die Regeln andauernd verändern und immer unentdeckbar bleiben.
Es zeugt von einem reflektierten Einsatz der Medien, wenn der Künstler zunächst deren Möglichkeiten und Bedingungen sowohl metaphorisch als auch konkret erkundet, dabei auf Brüche und Stolperstellen stößt, um diese dann in seinen Arbeiten zu thematisieren. Die Kunst des Kombinierens wird von ihm, bar jedweder Berührungsängste, zum Einsatz gebracht. Waldes Blattfolgen zwingen den Betrachter zur Neuverortung und machen den Zweifel am Sichtbaren mit Hilfe des Abbildes sichtbar. Die Zeichnungsserien von Martin Walde lassen sich als eine ehrlich gemeinte Aufforderung zur Kommunikation und zum persönlichen Austausch ohne zynische Distanz lesen. Mit seiner Aufwertung des Daseins wirbt Martin Walde für eine intensivierte visuelle Wahrnehmung der Welt, um damit die Grenzen der menschlichen Bedingtheit weiter hinauszuschieben und den Raum der menschlichen Freiheit zu erweitern.

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