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Alte Liebe
Landvermessung
No. 4, Sequenz 3
Von der Axamer Lizum ins Gschnitztal

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns nun auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen bis ins Trentino führt. René Freund erfindet auf seiner Wanderung fernsehserientaugliche Szenen einer Ehe, die auch anders hätten ausgehen können – und will am Ende aber doch lieber seine Ruhe, milde gestimmt von kulinarischen Genüssen im Gastgarten.

Pilze, Karin hatte eigentlich immer an Pilze gedacht. Aber dann war Manfred mit dieser Idee gekommen, fahren wir doch nach Tirol, hatte er gesagt, da waren wir auf unserer Hochzeitsreise, im Stubaital, und jetzt, zu unserem zwanzigsten Hochzeitstag, könnten wir wieder einmal hinfahren. Karin war buchstäblich der Mund offen stehen geblieben. Er hatte sich den Hochzeitstag gemerkt. Er hatte gewusst, dass es der zwanzigste war. Und er hatte eine Idee dazu, wie man ihn verbringen könnte.
Drei Tage zuvor war Karin im Wald gewesen, ohne Manfred, im Mühlviertel oben, das war nicht weit von ihrer gemeinsamen Wohnung in Linz. Ende August, die beste Zeit für Steinpilze, wenn man denn weiß, wo sie wachsen. Aber an diesem Tag hatte sie keine gefunden. Dafür war der ganze Wald voll mit Knollenblätterpilzen gewesen. Nicht, dass Karin besonders abergläubisch war, aber das hatte sie schon als Zeichen interpretiert. Weiße Knollenblätterpilze. Grüne Knollenblätterpilze. Die sollen angeblich gut schmecken, hatte sie einmal gelesen. Der grüne ist außerdem giftiger. Es wäre unterm Strich ziemlich human. Du stirbst zwar langsam, ein paar Stunden lang ist dir schlecht, aber wenn das Leberkoma einmal da ist, kriegst du nichts mehr mit. Das Pilzragout hat natürlich den Nachteil, du musst eine Ausrede finden, warum du selber nichts isst. Zuerst vor Manfred, das wäre schon schwer genug, denn sie liebte Pilze. Und dann vor der Polizei, weil die würden sicher nachfragen, und sie log nicht besonders gut. Jedenfalls nicht so gut wie Manfred. Aber dafür sollte es reichen. Wie oft hatte sie das schon in der Zeitung gelesen: „Zu einem tragischen Irrtum kam es … Pilze verwechselt … die Ehefrau, die selbst nichts von dem Gericht gegessen hatte, musste hilflos zusehen, wie ihr Mann starb.“ Das stellte sich Karin nicht ganz leicht vor, du musst immer schauen und warten, wird ihm schon schlecht, und dann musst du ihn noch daran hindern, ins Krankenhaus zu fahren, weil sie ihn sonst noch retten können und dann ist alles aus, wenn er überlebt.
Jetzt also diese Idee mit Tirol. In Tirol gibt es viele hohe Berge, und Bergunfall war immer das zweite, woran Karin gedacht hatte. Das konnte man auch so oft in der Zeitung lesen: „Vor den Augen ihres entsetzten Mannes stürzte eine Touristin rund 150 Meter über steiles und felsendurchsetztes Gelände ab. Die Rettungskräfte konnten nur mehr ihren Tod feststellen. Die Alpinpolizei schloss Fremdverschulden aus.“ Weil beim Bergunfall, da bringt traditionell eher der Mann die Frau um, und mit den Pilzen die Frau den Mann. Das liegt aber sicher an den überholten Rollenbildern, Männer kochen einfach immer noch viel seltener als Frauen, und die Frauen trauen es sich vielleicht nicht zu, so einem gestandenen Mann einen kleinen Anstoß zu geben, so dass der dann eben nicht mehr steht, sondern fliegt. Karin traute sich das schon zu, vor allem nachts, wenn sie allein im Bett lag, weil Manfred „lange arbeiten musste“, da stellte sie sich vor, wie er gerade auf B. herumturnte, und dann, wie er erbrechen würde, am besten auf B., das ganze Pilzragout, oder eben wie sie ihn von hinten stoßen würde, vielleicht würde er sich im Fall noch umdrehen und sie verwundert ansehen, dieser ungläubige Blick machte ihr eigentlich die größte Freude.
Vor Kurzem hatte sie in der Zeitung gelesen: Eine Kriminologin der Universität Wien schätzte, dass jeder zweite Mord nicht als solcher identifiziert wird. Es darf keine Zeugen geben, das ist wichtig. Krimis las Karin nie. Es interessierte sie einfach nicht besonders, wer wen warum ermorden wollte oder ermordet hatte, da waren ihr Sachbücher eigentlich lieber, obwohl es immer heißt, Frauen lesen keine Sachbücher. Deshalb fand sie ihre Fantasien gelegentlich, in den furchtsamen Augenblicken, peinlich. Ehefrau ermordet Ehemann aus Eifersucht mit Pilzgericht. Platter geht es ja kaum, und auch der Bergunfall ist natürlich so ein Klischee, aber was soll’s, unsere Wirklichkeit besteht sowieso aus lauter Klischees, und es werden immer mehr, durch das Fernsehen und durch YouTube. Schlechte Klischees entsprechen einer schlechten Wirklichkeit, und wenn die Wirklichkeit schlecht ist, dann musst du sie eben ändern.

*


Ich schaff’s nicht, dachte Karin, als sie bei Kufstein die Grenze passierten. Wenigstens fuhr Manfred jetzt langsamer, auf dem Großen deutschen Eck musste er immer ausprobieren, wie schnell der BMW fuhr, dabei gab es da eh nur ein paar Kilometer ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, und ab 220 km/h bekam Karin immer Angst. Diesmal aber hatte sie keine bekommen, sterben wir eben beide, hatte sie gedacht, immer noch besser, als ich traue mich nicht und wir fahren in drei Tagen nach Linz zurück und alles ist wie immer, wie immer, wie immer.
Es dämmerte schon, als sie Innsbruck erreichten. Obwohl er versprochen hatte, zu Mittag nach Hause zu kommen, hatte es dann doch wieder fast bis zum Abend gedauert. Tausende Anrufe, und ein wichtiger Klient sei noch überraschend vorbeigekommen, den konnte ich unmöglich rauswerfen, hatte Manfred gesagt, und Karin hatte sich die Frage verkniffen, ob der Name des „Klienten“ mit B begann. Den ganzen Namen von B. wollte sie nicht einmal im Geiste aussprechen.
Manfred fuhr nicht Richtung Brenner weiter, sondern Richtung Bregenz.
„Weißt du noch“, sagte er, „auf unserer Hochzeitsreise, da waren wir zuerst auf der Axamer Lizum wandern. Kannst dich erinnern, diese schroffen Felsen? Das machen wir morgen auch. Ist auch nicht so weit, und in Axams bekommen wir sicher ein Zimmer.“
Schroffe Felsen, das fand Karin gut. Aber so leicht war das mit dem Zimmer doch nicht, denn Axams um neun Uhr an einem Septemberabend glich einer Geisterstadt. Sie fanden dann doch noch etwas, ein wenig außerhalb, schnell, sagte die Kellnerin, die ihnen den Zimmerschlüssel in die Hand drückte, dann kriegt’s ihr auch noch was zum Essen.
Nun saßen sie in der Gaststube des Hotels, die mit entsetzlichem Alpenkitsch vollgeramscht war: ein kleines Holzfass, das sichtlich noch nie eine Flüssigkeit enthalten hatte, eine Kuckucksuhr aus eindeutig chinesischer Produktion, ungarische Keramikteller, zwischen denen die Billigboxen standen, durch welche das Hitradio leise zu den Gästen schrie. Aber die Kellnerin trug elegante Schuhe, überhaupt war sie hübsch, und – ganz und gar unglaublich – Manfred flirtete nicht mit ihr. Er beschränkte sich auf Essen und Trinken.
Unfassbar, dachte Karin, diese Lebenslust, mit der er isst. Fast schon ekelhaft. Es war ihm ganz egal, dass große Fleischstücke aus seinem Tiroler Gröstl zwischen seinen Zähnen steckten. Wenn ich ihn küsse, dachte Karin, schmuse ich mit einem Stück Rindfleisch. Aber das tat sie eh nicht. Taten sie schon lange nicht mehr. Als wollte Manfred sie verhöhnen oder zumindest Lügen strafen, griff er, nachdem die Kellnerin abserviert hatte, nach Karins Hand. Er hielt sie zwischen seinen Händen, mitten auf dem Tischtuch, sah ihr in die Augen und sagte: „Karin, du und ich wieder in Tirol, ist es nicht herrlich?“
Er sagte es laut, fast war es ihr peinlich. Einer aus der Männerrunde am Nebentisch stellte fest: „Die Wölt isch degeneriert.“ Aber damit meinte er etwas anderes.
Als Karin in der Nacht erwachte, hörte sie in der Ferne das Bimmeln einer Kuhglocke. Als wollte sie mich versöhnen mit der Welt, dachte sie. Manfred schnarchte, aber nicht laut, sondern fast gemütlich. Das Gute, dachte Karin, das Gute an dem Entsetzlichen, das ich tun will, ist: Ich muss es nicht tun. Es ist nur so eine Idee. Nichts als eine Idee.
In der Früh hatte Karin Kopfweh, sie wusste nicht, warum. Als sie ihre Tasse in die Espressomaschine stellte und auf einen Knopf drückte, begann heißes Wasser zu rinnen, und es hörte nicht mehr auf, bis es auf den Boden tropfte und Manfred endlich eine Aus-Taste fand. Als sie ihr Ei köpfte, spritzte es über den halben Tisch, es war fast roh. Das nächste, das sie mit einiger Vorsicht aufschlug, war dafür hart und kalt. Als es ihr dann auch nicht gelang, ein Stück Butter aus der Schüssel mit den vielen Eiswürfeln zu fischen, zweifelte sie erheblich an sich: Wie sollte sie es jemals schaffen, ihr Projekt zu Ende zu bringen, wenn sie für die einfachsten Dinge zu ungeschickt war?
Über dem ehemaligen Olympiadorf in der Axamer Lizum lag noch der Schatten der Nacht, als sie dort den Wagen parkten. Wieder bimmelten Kuhglocken. Heute gingen sie Karin auf die Nerven. Immerhin, schon dieser Talkessel befand sich auf 1.560 Metern, rundherum drohten schroffe Zacken, lauerten Geröllrinnen, schüchterten Gipfel ein. Nur der Wetterbericht war gut.
Sie zogen die Wanderschuhe an. Ein Auto parkte neben ihnen, ein anderes Ehepaar, vielleicht ein wenig älter als sie. Auch sie wechselten die Schuhe. Manfred grüßte jovial und verwickelte sie in ein kleines Gespräch, das passte gar nicht zu ihm, dachte Karin, er erzählte ihnen, dass sie ihre Hochzeitsreise wiederholten und dass es so einmalig schön sei in Tirol. „Wir gehen auf die Birgitzer Alm“, sagten die anderen. Karin hatte keine Ahnung, wohin sie und Manfred wandern wollten. Merkwürdig, dass er so wenig geplant hatte. Eigentlich hätte sie das in die Hand nehmen sollen, aber das wäre auffällig gewesen, und überhaupt: Sie musste ja nichts tun. Sie hatte nichts geplant. Diese ganze Reise war ja seine Idee. Sie konnte nichts dafür.
Wie weit es denn zur Adolf-Pichler-Hütte sei, fragte Manfred, und ob man über die Starkenburger Hütte hinüberkäme, ins Stubaital. Freilich ginge das, sagten die anderen, allerdings wäre das eine gewaltige Tour, dafür müsse man schon sehr gut trainiert sein, trittsicher sowieso, und schwindelfrei auch.
Karin bekam plötzlich Angst. Vor den Bergen, oder vor sich selbst, das wusste sie nicht genau. Jedenfalls schwindelte ihr jetzt schon, ganz ohne Abgrund, und sie sagte zu Manfred: „Lass es uns gemütlicher angehen. Und was machen wir im Stubaital ohne Auto? Du willst doch nicht alle Sachen in den Rucksack packen und mitschleppen?“
Manfred studierte die Karte. „Wir könnten zum Hoadl Haus gehen“, meinte er. „Oder auf das Axamer Kögele.“ Kögele, das gefiel Karin gut, Kögele, das klang so harmlos. „Ist nicht so weit“, meinte Manfred, „und wir könnten auch auf unsere Rechnung kommen.“
Immer musste dieser Mann rechnen, dachte Karin, etwas musste sich „auszahlen“ oder er auf seine Rechnung kommen, aber sie wollte das tun, was er sagte. Nur nicht auffällig sein. Er war ihr so oft einen Schritt voraus gewesen. Aber diesmal nicht. Diesmal wird er schön schauen.
Als sie die Forststraße Richtung Pleisen und Sunnalm hinaufschritten, fühlte sich Karin elend. Sie schnaufte und schwitzte, als hätte sie hohes Fieber. Schon nach zwanzig Minuten musste sie stehen bleiben, um ein erstes Mal zu trinken. Manfred lächelte sie an. Auch auf seinem Hemd waren die Schweißflecken unübersehbar. „Anstrengend, was?“ „Aber wie.“
Manfred fotografierte sie mit seinem iPhone, als sie aus der Flasche trank. Sie machte eine abwehrende Bewegung, sie wollte nicht mit verschwitzten Haaren und gerötetem Gesicht abgebildet werden, während sie aus einer Flasche trank, aber Manfred drückte ab, immer wieder.
Sie gingen weiter. Die Sonne schien durch die alten Fichten und zauberte Schattenspiele auf den Schotter des Weges. Es ist schön, dachte Karin. Und Manfred ist nett, dachte Karin. Und: Ich muss nichts tun. Gar nichts. Sie spürte, wie ihre Kopfschmerzen im wahrsten Sinne des Wortes vergingen.
Nach einer knappen Stunde hatten sie die Baumgrenze erreicht. Eine menschliche Ameisenstraße folgte der Lifttrasse Richtung Sunnalm. „Lass uns doch woanders hingehen, wo nicht so viele Leute sind“, schlug Manfred vor. Ihr konnte das nur recht sein. So wanderten sie durch Büsche von Almrausch weiter. Karin fand immer wieder Heidelbeeren, so aromatisch wie hier schmeckten sie nirgends. Sie pflückte reife Wacholderbeeren und steckte sie in ihre Tasche, die konnte sie gut für Manfreds geliebtes Sauerkraut brauchen. Naja, man konnte sie auch für anderes verwenden.
Die Büsche wurden immer höher, das Gehen immer schwieriger, neben dem Almrausch tauchten plötzlich Latschen auf, es ist fast unmöglich, Latschen zu durchqueren, sie wuchsen Karin über den Kopf, sie schwitzte, sie fluchte, überall wurde sie gestochen von den Nadeln, ihr Herz raste, sie wusste nicht mehr, wo links oder rechts ist, nach oben ging es nicht weiter, nach unten auch nicht, scheiße, wo bin ich, hörte sie sich rufen und dann: „Manfred!“ Sie würde jetzt sterben, auf der Stelle, das war ihre Strafe, das hatte sie verdient, niemand würde sie je wieder finden, „Manfred!!“ Plötzlich stand er neben ihr, lächelte: „Was ist, Schatz?“ Er war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, nie eigentlich, das konnte nerven, aber jetzt war sie froh, er nahm sie an der Hand, bald hatten sie wieder übersichtliches Gelände erreicht. Den Gipfel ließen sie rechts liegen, sie waren zu erschöpft nach diesem Ausflug fern der markierten Wege. Nun folgten sie freiwillig der Lifttrasse, bis zum Parkplatz hinunter. In Axams kauften sie im Supermarkt zwei Wurstsemmeln und eine Flasche Bier. Der kleine Imbiss, genossen auf der Bank vor der Kirche, tat gut.
Sie setzten sich ins Auto und fuhren ein Tal weiter, über die Autobahn ging das wahnsinnig schnell. Manfreds Handy piepste ein paar Mal. Er tat so, als hätte er es nicht gehört. Der Himmel im Stubaital hing voller Gleitschirmflieger. Über dem Talschluss leuchtete der Gletscher. Manfred hatte ein sagenhaftes Orientierungsvermögen. Er fand die Pension in Neustift wieder, in der sie während ihrer Hochzeitsreise vor zwanzig Jahren genächtigt hatten. Die Pension war mittlerweile zu einem Hotel ausgebaut worden, mit Pool und Wellnessbereich. Ihr geräumiges Doppelzimmer war in sanften Lärchengrüntönen gehalten, äußerst geschmackvoll.
Wieder piepste Manfreds Handy. Diesmal konnte er nicht darüber hinweggehen, dass sie es mitbekommen hatte. „Diese lästige Nachlasssache“, murmelte er. Er versprach, zum Schwimmen und in die Sauna nachzukommen.
Karin war nach der Wanderung und einem Saunagang müde. Einfach nur müde. Sie schlief auf einer Liege neben dem Pool ein und erwachte erst, als sie fröstelte. Die Sonne war gerade hinter einem Bergrücken untergegangen. Schnell schluckte der Schatten das Tal. Manfred war nicht gekommen. Sie fand ihn schlafend im Bett, die Hand auf seinem Handy, das auf dem Nachtkästchen lag.
Es dämmerte, als sie nach Neustift gingen. Sie besuchten die Kirche. Die Größe und die Rokokopracht befremdeten Karin. Sie studierte die Gedenktafel für die gefallenen Helden. Hunderte Namen. Vermisst in Russland, 1945. Gefallen in Schlesien, 1945. Gefallen in Leoben, 1945. Vermisst in Berlin, 1945. Erstaunlich, wohin sie die Tiroler Bauernbuben zum Sterben geschickt hatten.
Sie setzten sich in die Gaststube eines Wirtshauses. An einem Nachbartisch redeten sie englisch, an einem anderen tschechisch. Der Kellner war Italiener, und das, obwohl ihr Lokal das einzige in Neustift zu sein schien, das keine Pizzeria war.
Sie aßen schlecht und schliefen gut.

*


Am Parkplatz der Elfer-Seilbahn stand ein Polizeiwagen, ein VW-Bus. Was sollte das wohl heißen? Befand sich eine ganze Einheit auf dem Berg, um jetzt schon nach potentiellen Täterinnen zu fahnden?
„Na, sind da oben Bankräuber unterwegs?“, fragte Manfred das Mädel an der Kassa. „Ah, die sind im Liftstüberl, Pause machen“, sagte sie, gut gelaunt.
„Dann freie Bahn für die Flitterwochen!“, rief Manfred, nahm Karin in den Arm und küsste sie auf den Mund. „Viel Spaß in der Gondel“, sagte das Mädel keck und druckte die Karten aus.
Auf der Fahrt hinauf fürchtete Karin, die Gondelbahn könnte stehenbleiben. Dann würde sie in Panik geraten. Höhenangst hatte sie eigentlich noch nie gehabt. Sie versuchte, sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Auf den Wildbach und die Wälder. Auf die riesigen grauen Rinder, denen der Bauer die Hörner gelassen hatte, das sieht man heute auch nicht mehr oft.
An der Bergstation angekommen, sahen sie drei Gleitschirmfliegern beim Starten zu. Es wirkte so mühelos, aber bei der Vorstellung, fliegen zu müssen, wurde Karin fast schlecht. Sie beschlossen, auf die Elferspitze zu steigen, 2.505 Meter, laut Karte. Also zunächst einmal geradeaus, in den Bergwald. Zwei sehr alte Leute, ein Mann und eine Frau, gingen Hand in Hand auf dem schmalen Weg. Die fest aneinander geklammerten Hände dienten mehr zum gegenseitigen Stützen als zur Demonstration von Zärtlichkeit, und dennoch war Karin gerührt. Wäre das nicht auch eine Möglichkeit?
Sie betrachtete einen Waldameisenhaufen am Wegesrand. Welch ein sinnloses Herumgelaufe, dachte sie, aber irgendwie ergab der Haufen doch einen Sinn, unterstand einer Ordnung, in der jede Ameise ihre Rolle zu spielen hatte. Sie nahm eine Ameise, überlegte, sie zu zerdrücken, schaffte es nicht, setzte sie an der anderen Seite des Weges ins Moos. Eine Ameise mehr oder weniger, überlegte sie, was macht das schon?
Sie kamen an der Elferhütte vorbei. Die ersten Wanderer saßen schon im Freien beim Mittagessen. Nur ein paar kleine Schönwetterwölkchen schwebten über dem tiefblauen Septemberhimmel. Sie gingen weiter, an Kühen vorbei. Die Wiesen wurden karger und karger, schließlich mäanderte der Weg zwischen Latschen und Felsen und wurde steiler, immer steiler.
„Ich muss mal kurz“, sagte Manfred und verschwand hinter einem Felsen. Er glaubt wirklich, ich habe das Piepsen seines Handys nicht gehört, dachte Karin. Er glaubt wirklich, ich weiß nicht, dass er jetzt die SMS von B. beantwortet. Karin sah sich um. Links von ihr erhob sich ein Felsen, der sichtlich schon öfter als Aussichtsplattform benützt worden war. Dahinter ein hübscher Abgrund. Manfred kam zurück und tat so, als würde er den Reißverschluss seiner Hose schließen.
„Manfred, ich mache ein Foto von dir“, sagte Karin. „Stell dich dort auf den Felsen. Das sieht gut aus!“
Manfred stand nun direkt am klaffenden Abgrund. Karin hielt ihr Handy in die Höhe und fotografierte: „Noch ein Schritt zurück“, sagte sie. „Noch einen.“ Und dann lachten sie, Gott, war das lustig.
Eine Gruppe von Schweizer Touristen, auch das gibt es in Tirol, zog an ihnen vorbei. Das Gelände wurde nun immer schroffer, der Weg immer schmaler. An der Abzweigung zur Zwölferspitze ein großes Warnschild: „Achtung, alpine Gefahren. Klettersteig Nordwandroute (schwierig). Unbedingt erforderlich: Anseilgurt komplett (Brust-Sitzgurt), Klettersteigset, Helm.“
„Vielleicht gehen wir doch nicht weiter“, sagte Karin. Um ihren Plan auszuführen, waren deutlich zu viele Menschen unterwegs. „Ein bisschen noch“, meinte Manfred, es ist so schön hier!“
Zum Glück haben wir keine Kinder, dachte sie, wenn wir Kinder hätten, könnte ich nicht einmal daran denken, das zu machen, aber Kinder wollte am Anfang er nicht (zuerst einmal eine gemeinsame Lebensgrundlage aufbauen) und später sie nicht (keine gemeinsame Lebensgrundlage mehr vorhanden). Natürlich, sie könnte sich einfach scheiden lassen, aber so einfach ist das dann auch nicht, so etwas weißt du, wenn du mit einem Scheidungsanwalt verheiratet bist. Ihr würde nichts bleiben, auch das wäre noch nicht so schlimm, aber B. würde alles für sich bekommen, den Mann und das Haus und alles, und an diesen Gedanken konnte sich Karin so gar nicht gewöhnen.
Der Weg führte durch eine schmale Rinne auf einen noch schmaleren Grat. Karin ging hinter Manfred. Es war unmöglich, hier nebeneinander zu gehen. Sie zögerte. Die Schweizer Gruppe machte ein bisschen weiter oben Rast, beobachtete Karin, das half auch nicht gerade. Manfred wandte sich um, merkte ihre Unsicherheit. Er nahm sie an der Hand und half ihr, den Grat zu überwinden. Sie versuchte, nicht in die Tiefe zu sehen. Manfreds Handy piepste. „Lasst mich doch in Ruhe“, sagte er. Scheinheilig, wie sie fand.
Manfred hatte sein Telefon zur Hand genommen. „Warte, ein Foto“, sagte er. „Bitte nicht“, keuchte sie. Natürlich beantwortete er seine SMS, während er so tat, als suchte er den perfekten Bildausschnitt. „Komm, wir gehen hier hinauf.“ Ein Felsen ragte etwa drei Meter neben dem markierten Weg über den Abgrund hinaus. Karin ließ sich mit zitternden Knien dorthin manövrieren. „Wahnsinn, ist das schön, mit dem Stubaital im Hintergrund!“, rief Manfred. Karin seufzte entmutigt. Zwei japanische Wanderer kamen vorbei. Sie murmelten etwas, das klingen sollte wie „Grüß Gott“, kicherten und gingen weiter.
Karin sah in die Tiefe. Wenn du hier runterfällst, bist du tot. Dieses Wunder gibt es nicht, dass du das überlebst. Zuerst rutschst du diesen Rest von Wiese hinunter, aber da gibt es keinen Halt. Der Rest ist eine Steilwand. Nach ungefähr hundert Metern schlägst du das erste Mal auf, dann bist du schon hin, bevor du noch einmal gut hundert Meter durch die Luft segelst, dann kommt der zweite Aufschlag, im Geröll, dort rutschst du noch einmal hundert Meter, bevor du in den Latschen zum Liegen kommst.
„Jetzt du!“ Bereitwillig kam Manfred vor zum Abgrund.
Und dann passierte etwas, das Karin als Zeichen des Himmels deutete. Nebel fiel ein. Man sah die Hand vor den Augen nicht mehr. Nein, es war natürlich kein Nebel, das musste eine dieser kleinen Schönwetterwolken sein, jetzt hüllte sie den Felsen ein, gleich würde es wieder vorbei sein. Jetzt! Jetzt musste es geschehen.

*


Liebe Leserin, lieber Leser: Ich habe drei verschiedene Varianten für das Ende dieser Geschichte. Variante 1: Natürlich ist es Manfred, der Karin den entscheidenden Stoß gibt. Ich nehme mal an, das haben Sie längst geahnt. Karin kann sich in dem Wiesenstück noch kurz festhalten. Sie schreit Manfred an, fleht um Hilfe, beginnt endlich, zu verstehen – wieder war er ihr einen Schritt voraus gewesen. Deshalb hatte er diese Reise geplant. Deshalb war er schon in Axams so freundlich zu ihr gewesen, hatte ihre Hand vor allen im Lokal gehalten. Deshalb hatte er sie dauernd fotografiert, deshalb hatte er allen von der Hochzeitsreise erzählt, deshalb hatte er ihr über den Grat geholfen. Sollte es Nachforschungen der Polizei geben – alle hatten ein vollkommen harmonisches, ja geradezu verliebtes Ehepaar gesehen. Nicht einmal die Telefonate und SMS waren verdächtig, da B. eine Kollegin ist. Das neue Leben mit ihr würde er erst beginnen, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Manfred sieht Karin mitleidig an. Immerhin nicht schadenfroh, denkt sie. Sein Telefon läutet. Als er mit verliebter Stimme zu sprechen beginnt, verlassen Karin die Kräfte, sie stürzt ab.
Variante 2: Ist die für die Hollywood-Verfilmung. Wie Variante 1, nur dass Manfred plötzlich Mitleid bekommt (Motivation wäre nachzureichen). Unter Einsatz seines Lebens klettert Manfred zu Karin und rettet sie und gleichzeitig ihre Ehe (wollt Ihr das totale Happy End?).
Variante 3: Natürlich gibt es aber zahlreiche Untervarianten zu Variante 2, etwa: Beim Versuch, Karin zu retten, stürzt Manfred in die Tiefe (tragisches Happy End). Oder beide stürzen in die Tiefe (Romeo & Julia-Ende, alle tot).

Ich war gerade bei der Wallfahrtskirche Sankt Magdalena im Gschnitztal. Der Platz dort ist so schön und so still und so heilig. Ich bin zwar nicht katholisch geworden, aber ich habe mich gefragt: Warum schreibt man so etwas? Ist das Leben – zumal in den Tiroler Bergen – nicht viel zu schön, um es mit erfundenen Mordgeschichten künstlich zu dramatisieren? Oder manchmal viel zu traurig, so dass es doch wahrlich keinen weiteren Bedarf an traurigen Geschichten gibt? Und ganz plötzlich wurde mir klar (fast eine Art Eingebung): Ich muss aus der Geschichte aussteigen. Das hat auch einen praktischen Grund. Wie Karin lese ich keine Krimis, und was man nicht gerne liest, das soll man auch nicht schreiben, so wie man nicht kochen soll, was man nicht gerne isst.
A propos: Jetzt sitze ich in Gschnitz im Gastgarten, in der Septembersonne, und ich klappe meinen Laptop zu, weil mein Essen gerade serviert wird. Pilzragout!

 

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