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Fließtext *
Von Peter Henisch

SOMEWHERE OVER THE RAINBOW Es klopft an der Tür. Draußen steht eine Frau, die ich nicht kenne. Anscheinend ist es eine Klientin der Therapeutin, die auf der anderen Seite des Hofs wohnt. Entschuldigung, sagt sie, wir wollten Sie nur auf den schönen Regenbogen aufmerksam machen, der am Himmel steht. Schauen Sie doch: Ein doppelter Regenbogen! ¶ Ich trete kurz in den Hof hinaus, draußen nieselt es. Ich habe nur leichte Hausschuhe an und will mir keinen Schnupfen holen. Aber der Regenbogen! Am Fenster des Zimmers im ersten Stock, in dem die Therapeutin heute offenbar mit einer Gruppe arbeitet, stehen mehrere Leute. Ist dieser Regenbogen nicht schön? Sehen Sie nur: Er hat alle Farben des Spektrums! ¶ Aus dem Hof sieht es so aus, als überspannte er die Dächer etwas weiter, aber nicht allzu weit entfernter Häuser, vielleicht müsste man nur ein paar Schritte stadteinwärts gehen, um an seinen Anfang oder an sein Ende zu gelangen. Ja, sage ich, dieser Regenbogen ist sehr schön, danke, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben! Dann geh ich in die Wohnung zurück, damit meine Füße nicht nass werden. Ich werde schauen, sage ich, ob ich ihn auch noch durchs Zimmerfenster sehe. ¶ Und bedaure das gleich, sobald ich wieder drin bin. Denn durch das Zimmerfenster, das sich auf die Straße hinaus öffnet, ist kein Regenbogen zu sehen. Eigentlich müsste er hier sein, aber nein, da ist er nicht. So weit ich mich auch hinauslehne, über den Dächern ist nichts als blass verregneter Himmel. Was kann ich tun, um das Bild des Regenbogens noch eine Weile in meinem Bewusstsein zu halten? Soll ich mich wieder an den Laptop setzen, an dem ich gerade etwas ganz anderes schreiben wollte, und auf den Regenbogen assoziieren? Ja, vielleicht sollte ich das. Denn der Hinweis auf den Regenbogen ist ja, wenn ich es recht bedenke, ein Geschenk. Ich sollte dieses Geschenk wahrscheinlich annehmen. ¶ Und da fällt mir zum Beispiel der Evergreen Somewhere over the Rainbow ein. Dann eine Geschichte, in der Donald Duck und seine Neffen Tick, Trick und Track den Topf voll Gold am Ende eines Regenbogens suchen – oder wie war das: Wollten sie damit nur den unsympathischen Glückspilz Gustav Gans am Schnabel herumführen? Aber das sind, zugegeben, recht anachronistische Gedankenverbindungen – die Freaks, die heute noch Judy Garland kennen oder die von Erika Fuchs übersetzten Jahrgänge der Micky-Maus-Hefte schätzen, sind selten. Und die Assoziation, bei der ich dann endgültig lande, ist natürlich erst recht anachronistisch, fast schon jenseitig: ¶ Der Regenbogen, den Gott nach der Sintflut zwischen Himmel und Erde gesetzt hat. Zum Zeichen eines Versprechens an die Menschen, an das er sich hoffentlich nach wie vor erinnert. – Lesen Sie wirklich immer noch die Bibel?, fragt mich die Journalistin, die mich ein paar Stunden später besucht, und wenn ja, warum? Weil das ein gutes Buch ist, antworte ich spontan, ein verdammt gutes Buch, hätte ich beinahe gesagt, aber das klingt vielleicht ein bisschen zu sehr nach Hemingway.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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