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Musik zum Schmusen

Ist am Ende die Epoche der „Romantik“ noch gar nicht zu Ende? Und haben „Moderne“ und „Postmoderne“ etwa gar nie stattgefunden? Eine Polemik von Moritz Eggert

In seinem höchst seltsamen Spätwerk, der „Valis“-Trilogie, verfolgt der Science Fiction-Autor Philip K. Dick seine vermutlich durch Drogeneinfluss erzeugte manische Idee, dass das römische Imperium niemals untergegangen sei und dass wir nur in einer vorgegaukelten Wirklichkeit lebten, hinter deren Fassade nach wie vor die Interessen der Nachfahren von Julius Caesar am Wirken seien. Ab und zu schauen die Protagonisten seines Romans hinter die Fassade der Wirklichkeit und entdecken dann die perfide Manipulation des in gnädiger Ignoranz lebenden Restes der Menschheit.
Ich weiß nicht, ob Dicks Theorie stimmt. Aber eines weiß ich: Es geht mir ähnlich, wenn ich an den Begriff „Romantik“ denke, vielmehr an den Begriff der „romantischen Musik“, die den Geschichtsbüchern zufolge angeblich Anfang des 20. Jahrhunderts mit der so genannten Spätromantik ihr Ende fand und von der „Moderne“ abgelöst wurde, die wiederum nun angeblich in der „Postmoderne“ schon wieder in den letzten Zügen liegt.
Aber ist das wirklich so? Ich sage euch: Die romantische Musik ging niemals unter! Sie ist das unsterbliche Erfolgsmodell der klassischen Musikkultur, der unsterbliche Gedankenmoloch, der alle folgenden Stile erfolgreich assimilieren und anverwandeln konnte – wie die „Borg“ im Star Trek-Universum. Da kann noch so oft die zweite, dritte oder vierte Moderne ausgerufen werden, mein Instinkt sagt mir, dass wir uns eigentlich nach wie vor in der musikalischen Epoche der „Romantik“ befinden. Und gerade erst einmal am Anfang davon. Oder dass zumindest das, was sich als archetypisch aus der Bewegung der Romantik abgespaltet hat, weiterhin sehr lebendig und vor allem nach wie vor dominant ist. Nennen wir es gerne Post-Romantik, aber bitte nicht „Moderne“ oder „Postmoderne“. Beweise? Gerne.

Zuerst einmal muss man ja konstatieren, dass eine Kunstepoche erst dann endet, wenn die dazugehörige Weltsicht bei der Mehrheit der Bevölkerung durch etwas anderes abgelöst wurde. Wenn man – man verzeihe mir die Vereinfachung – die Periode der „Klassik“ als „objektiv“ und die Periode der Romantik als „subjektiv“ bezeichnet, so kann man historisch relativ genau festmachen, wo genau der Siegeszug der Subjektivität beginnt. Bis zu dieser Explosion des Subjektiven gab es nämlich durchaus objektive Kriterien der Schönheit. Eine perfekt konstruierte Fuge war als „schön“ anzuerkennen aufgrund ihrer Konstruktion. Man war auf der Suche nach dem „klassischen Schönheitsideal“, der ausgewogenen Form, der Balance in den Dingen. Hierfür benutzte man das aus der Renaissance hervorgegangene Stilempfinden, das auch an mathematischen Erkenntnissen geschult war. Diese Prinzipien zu verstehen hieß auch Schönes schaffen zu können. Das war natürlich auf Dauer etwas langweilig und es war klar, dass sich etwas ändern musste.
Mit der Romantik beginnt dann der Siegeszug des Individuums, der die folgenden Jahrhunderte in Europa zu einer endlosen Parade der großen Weltentwürfe und Revolutionen machte (meist wurde Europa dabei so nebenbei auch in Schutt und Asche gelegt). Die Musik greift diese Erhöhung des bedingungslos heroischen Individuums als Zentrum einer durch es selber geschaffenen, ja empfundenen-erfundenen Welt mit zunehmender Begeisterung auf – natürlich beginnt das bei Beethoven, setzt sich fort bei Schubert, findet zu höchster Sublimität bei Schumann … all diesen Versuchen wohnt eine große Unschuld bei, die uns heute anrührt. Sentimental und „kitschig“ ist das noch nicht, nicht einmal bei Chopin, der erst viel später zum malerisch dahinsiechenden Genie stilisiert wurde, aber schon bei Richard Wagner beginnt ein gezielter Einsatz von Emotion im Dienste einer höheren Idee. Man wird „aufgewühlt“, aber nicht, weil der Komponist zaghaft ins eigene Innere horcht, sondern weil er seinen Hörer mit dem emotionalen Knüppel überwältigen will. Und Wagners Knüppel ist ziemlich groß.

Der Erfolg dieser Strategie wirkt bis heute nach. Als erst einmal gelernt wurde, wie kontrollierbar die Emotionen der Hörer sind, wollte man dieses Mittel immer wieder aufs Neue anwenden. Die Komponisten schrieben sich in einen Rausch der Leidenschaften hinein und warfen nun rückwärts den veränderten Blick auf die Musikgeschichte, die sich plötzlich in eine Heldensaga der Heroen und übermenschlichen Genies verwandelte (wogegen sich die früheren Komponisten eher als bescheidene Handwerker oder Verrichter einer höheren Entität sahen). Dies geschah natürlich auch, um sich selber bestmöglich in dieser Heldensaga zu positionieren – nicht umsonst ist die Musik des 19. Jahrhunderts nach wie vor die meist aufgeführte Epoche der klassischen Musik. Der typische Komponistenausspruch dieser Zeit – „Was kann nach uns noch kommen?“ – bedeutet eigentlich, dass das Nachkommende nur eine Wiederholung des schon selber Geleisteten sein wird. Das Schlimme ist: In gewisser Weise behielten die romantischen Komponisten des 19. Jahrhunderts recht. Denn von nun an war der Zugang zur Musik nicht mehr rationaler, sondern allein emotionaler Natur.

Wogegen in der Literatur, dem Theater und der bildenden Kunst sehr schnell auch wieder eine Abkehr vom rein Subjektiven stattfand (aus ganz unterschiedlichen Gründen), ist eine solche Entwicklung in der Musik nicht so klar zu entdecken. Die Wiener Schule zum Beispiel bemüht vordergründig die Ratio mittels der Zwölftontechnik, will aber letztlich die größtmögliche Subjektivität, die der Expressionismus ihrer Zeit einfordert. Trotz vieler Gegenbewegungen der Musik des 20. Jahrhunderts – die man insgesamt „Moderne“ nennt – scheint sich dieser gänzlich subjektive Zugang zur Musikwahrnehmung gut gehalten zu haben. Denn spricht man heute mit irgendjemandem über Musik, so ist das Vokabular nach wie vor dasselbe wie in der Romantik. Es geht also vornehmlich um die subjektive und eigene Wahrnehmung von Musik. Sowohl Laien als auch ausgebildete Musikstudenten sagen und meinen exakt das Gleiche, wenn sie z.B. „Ich fühle mich von dieser Musik emotional nicht angesprochen“ sagen. Ohne das Anfachen großer Emotionen wird Musik nicht als „wertvoll“ empfunden. Durch das zunehmende Verschwinden objektiver Bewertungskriterien für Kunst ist dieser Prozess noch verstärkt worden.
So lange dies so ist, kann da eine Moderne wirklich beginnen? Und kann eine echte Moderne – also eine dezidierte Hinwendung zu einer neuen Form der Objektivität oder zu etwas ganz anderem – wirklich nachweislich schon existiert haben?
Für mich ist z.B. Stockhausen, der als Aushängeschild der musikalischen Moderne gilt, in Wirklichkeit der romantischste aller Komponisten. Einerseits haben wir seine unverhohlene Nachahmung des romantischen Übervaters Wagner, andererseits viel romantisches Geschmonz um einen heiligen Auftrag vom Gestirn Sirius, eine Hippie-Vision der 70er-Jahre (waren die Hippies nicht im Grunde Neo-Romantiker?). Und wenn ich mir die lebenden Kollegen so anschaue, so ist deutlich, dass das Selbstbild des Komponistenberufs nach wie vor von den Topoi der Romantik bestimmt ist, die da lauten: „Nur die Nachwelt versteht mich“, „Genies müssen verkannt sein“ und „Man soll meine Werke noch in Tausend Jahren kennen“. Sturm-und-Drang-Gehabe, wohin man auch schaut. Ist nicht überhaupt schon das Vorhaben, heutzutage ein Komponist neuer klassischer Musik zu sein, eine zutiefst romantische Pose? Beim Blick in den Spiegel erröte da auch ich selber.

Aber ist die Popkultur dagegen wirklich anders? Immerhin gab es ja mal „Cool Jazz“ und „Techno“. Aber wenn man genauer hinschaut, ist das für den Jazz so wichtige Virtuosentum eine Erfindung von Liszt, Paganini und … Überraschung! … der Romantik. Und selbst der technokratischste und nüchternste Techno kommt in seiner populären Variante nicht ohne ekstatische Love Parades oder roboterartig wiederholte Textzeilen wie „I want to love you all night long“ aus.
Interessanterweise ist die heutige Main-Stream-Popkultur wie ein riesiges Schaulaufen der „Wiedergänger“, einer Figur, die die Romantik in ihren Schauerromanen und „Gothic Novels“ eigentlich erst erfunden hat. Wo man auch hinschaut: Es wimmelt von Vampiren und Untoten. Man strebt nach ewiger Jugendlichkeit und Unsterblichkeit – sind das nicht die romantischen Attribute par excellence? Das Publikum schmachtet nach dem nächsten Top-Model oder dem nächsten Superstar, dabei werden – quelle surprise – natürlich vor allem „Emotionen“ groß geschrieben bei der Berichterstattung, auch wenn die allesamt erstunken und erlogen sind.
Die Hochkultur lässt sich davon verführen, auch dort sind wir immer mehr umgeben von den Zombies, die uns die Sittenwächter des Geschmacks auf immer höhere Sockel stellen, immer größer und hybrider sind die Jubiläumsfeierlichkeiten der „Großen Alten“ – und manchmal nehmen sie gar kein Ende. Lebende Komponisten werden zu Kontinenten deklariert, bald zu Galaxien, ja Universen, und mit immer bombastischeren Preisen überhäuft. Musikwettbewerbe gibt es in Rekordzahl, jeder soll der Start einer „Weltkarriere“ sein, denn unter Weltkarriere läuft heute schon einmal gar nichts. Die Weltkarriere dauert dann im Durchschnitt ca. 3 Wochen – sobald die Agenturen ihr Geld eingesammelt haben, wird die nächste Weltkarriere gestartet.
Avantgarde heute? Nichts anderes als Sturm und Drang – auch musikalische Revolutionen werden zur Kuschel-Romantik, wenn sie sich behaglich institutionalisiert und eingerichtet haben. Und ist zum Beispiel das gelegentlich auftretende politische Pathos von Komponisten wie Nono oder Henze nicht letztlich auch eine sehr romantische Vorstellung des Kommunismus? Nämlich die, dass Arbeiter und Unterdrückte grundsätzlich guten Charakters sind und eigentlich nur befreit werden müssen, damit alles, aber auch wirklich alles besser wird? Und selbst die hartnäckigsten Bilderstürmer der Moderne schreiben letztlich „Musik zum Schmusen“, auch wenn sie oberflächlich gesehen nicht so klingt. Warum? Weil das sich behagliche Einrichten in Subventionskultur letztlich kein Risiko birgt, so lange man dem romantischen Image des „Bilderstürmers“ treu bleibt. Image ist alles, auch ein punkiges Anti-Image wie es weiland Nigel Kennedy pflegte, ist ein zutiefst romantisches Image. Und das Lieblingsimage der Neuen Musik ist das des unverstandenen Außenseiters, der trotz Ächtung der Gesellschaft seinen Weg geht. Aber ist man mit einem Siemens-Preis in der Tasche wirklich noch „geächtet“?

Und was macht die Jugend? Dort sind die „Grufties“ (oder „Goths“) als Jugendbewegung unglaublich hartnäckig und scheinen nie mehr zu verschwinden, Romantiker allesamt, die auch neo-romantische Musik hören. Auch wer sich tätowiert (wie inzwischen gefühlt mehr als die Hälfte der Menschheit), will letztlich einen kleinen Anspruch auf Ewigkeit, und wenn es nur der Name der momentanen Geliebten auf der linken Pobacke ist. Nichts soll mehr verschwinden, alles wird aufgezeichnet, verewigt, jeder ist Held seines eigenen Fotoalbums, seiner eigenen Biografie aus Videos, Timelines und Clouddateien. Überhaupt verschwindet inzwischen gar nichts mehr, jeder Trend und Gegentrend strebt nach Unendlichkeit und sammelt sich auf der großen Halde der Ideen und Programme an, die täglich größer wird. Und die Popstars von gestern sind die Wiedergänger von heute, unsterbliche Gruftgestalten allesamt, ewig auf Tour durch die Konzertarenen der Welt, bis ihnen irgendwann die Gesundheit – bei Phil Collins war’s wohl der Rücken – einen Strich durch die Rechnung macht. Aber selbst dann leben sie unendlich weiter: Wundersam zur Muzak verwandelt, beschallen sie die Supermärkte und Fahrstühle dieser Welt.

Das Ganze mündet in eine Art zynischen Subjektivismus: Jeder ist das Zentrum seines eigenen Universums, ewig jung, ewig erfolgreich, und doch zwangsläufig schon morgen Schnee von gestern, weil einfach neue junge Genies nachdrängen. Weil alles ewig ist, ist plötzlich nichts mehr relevant, nichts mehr von Belang. Deswegen ist diese hartnäckige Romantik so unglaublich kaputt: weil sie dem stets drohenden Verschwinden nur mit unglaublicher Spießigkeit begegnen kann. Und jeder ist sich darin selbst der Nächste.
Manchmal sehne ich mich danach, von dem ganzen geschichtlichen Ballast der Romantik nichts zu wissen (auch wenn die Romantik natürlich viel Schönes hervorgebracht hat) und wie weiland ein Monteverdi oder ein Bach vor allem für den Moment zu komponieren. Denn der Moment ist doch letztlich das, was nur uns gehört, und niemand anderem. Die Zombieromantiker von heute teilen selbst den intimsten Moment – und das auch noch ganz freiwillig – auf Facebook.
Bleibt uns nur, auf die nächsten hundert Jahre zu hoffen. Vielleicht gibt es dann neue Erkenntnisse? Zumindest das zunehmende Verschwinden des Individuums in einer Welt der Individuen ist heute schon deutlich zu erkennen, zum Beispiel dann, wenn man den Abspann eines typischen Films anschaut, mit endlosen Namen in der Zahl der Einwohner von Island. Wer von denen war jetzt der wichtigste für den Film? Es wird immer schwerer zu sagen.
Vielleicht wird uns diese Erkenntnis der eigenen Unwichtigkeit irgendwann die erste echte „Moderne“ bescheren, die diesen Namen auch verdient, nicht deren zutiefst romantische Variante im 20. und 21. Jahrhundert.

 

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