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„Es ist ein ständiges Wandern.“

Irene Heisz und Alois Hotschnig reden über Schreibräume, Texte als Lebewesen, Diktiergeräte und andere Instrumente. Ein Werkstattgespräch.

Alois Hotschnig, 1959 in Berg im Drautal geboren, lebt seit vielen Jahren überwiegend in Innsbruck. Er begann, Medizin zu studieren, und wechselte dann zu Anglistik und Germanistik, bevor er sein Studium zugunsten der ausschließlichen Konzentration auf das Schreiben aufgab. 1989 erschien bei Luchterhand seine erste Erzählung „Aus“; „Eine Art Glück“, ebenfalls eine Erzählung, kam 1990 heraus.
Hotschnig schreibt Romane („Leonardos Hände“, „Ludwigs Zimmer“), Hörspiele (u.a. „Die kleineren Reisen“, 2010 von Martin Sailer für den ORF Tirol inszeniert, und „Ausziehen ja, anziehen auch“, 2011, Kerstin Schütze, ORF Wien) und Theaterstücke („Absolution“, UA 1995 am Schauspielhaus Wien). Zuletzt erschienen die beiden Erzählbände „Die Kinder beruhigte das nicht“ (2006) und „Im Sitzen läuft es sich besser davon“ (2009, beide bei Kiepenheuer & Witsch).
Hotschnigs Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2008 mit dem Erich-Fried-Preis und 2011 mit dem Gert-Jonke-Preis. Mehrere seiner Bücher wurden u.a. ins Englische übersetzt.


Irene Heisz: Gleich beim Eingang deiner Schreibwohnung fällt einem eine Schiefertafel auf. Darauf sind eine Zeichnung von dir und das Wort „Jetzt“ in deiner Handschrift. Was sagst du dir damit?

Alois Hotschnig: Dass jeder neue Texttag ein Gegenwartstag ist, der, wie jeder Schreibtag, ein ganzes Leben nachvollziehen könnte. Eine Geschichte, die sich ausschließlich aus Gegenwart generiert, gibt es ja nicht. Eine zu beschreibende Gegenwart muss immer aus einem gelebten Leben herkommen. Dieses „Jetzt“ bedeutet mir, am Schreibtisch nicht in die Vergangenheit abzudriften, schon gar nicht in die eigene, sondern mich auf das Neue und letztlich in allem auf die Zukunft einzulassen.

I.H.: Kommt es vor, dass dir Sätze von gestern heute nichts mehr sagen?

A.H.: Die Befindlichkeiten der jeweiligen Schreibgegenwart lassen einen mehr oder weniger offen auf das zugehen, was man bisher gedacht hat. Oft habe ich keinen Zugang zu einem irgendwann geschriebenen Gedanken. Das irritiert. Und gerade das ist eine Voraussetzung dafür, etwas Geschriebenes neu zu denken oder weiter zu denken, als mir das bisher möglich war. Das Textbergwerk, das sich im Laufe der Jahre auf meinen Schreibtischen, in Schachteln, in Lagern um mich herum und in mir angesammelt hat, besteht aus lauter Satz-Stollen, in die außer mir selbst wahrscheinlich nie jemand vordringen wird. Und doch beschäftige ich mich ununterbrochen damit, weil ich ja letzten Endes daraus gemacht bin.

I.H.: Bleiben sie dir zugänglich?

A.H.: Es hängt davon ab, ob ich mich auf einen Gedanken und auf all das einlassen kann, was er mir –
wie eine sich öffnende oder schließende Tür – an Möglichkeiten bietet.
 
I.H.: Ändern sich diese Möglichkeiten laufend?

A.H.: Das sieht mit jedem Mal anders aus, ja. Das Schreiben ist ja immer auch ein Umschreiben. Wie mein Leben von Anfang an immer ein Umweg war. Irgendwann habe ich bemerkt, dass der direkteste Weg zu einem Sprachziel oft der Umweg ist. Ein Bergsteiger nimmt ja auch nicht immer die Direttissima. Er braucht Basislager.
 
I.H.: Was sind deine Basislager?
 
A.H.: Recherche ist ein Basislager. Nach außen hin, wenn sich ein Text mit einem historischen Thema oder dem tatsächlich gelebten Leben von Menschen beschäftigt. Und nach innen – die Basislager der Vorhaben und Hoffnungen, der Sehnsüchte und Ängste und des Scheiterns. An jedem Tag meiner kleineren und größeren Schreibexpeditionen lasse ich von vornherein alles zu. Und wenn kein Zugang zu dem zu finden ist, was ich für ein bestimmtes Projekt vorbereitet oder vielleicht schon auf vielen Seiten geschrieben habe, geht es nicht darum, es beiseite zu legen, sondern darum, sich dem immer wieder aufs Neue zu stellen und dadurch vielleicht überhaupt erst zu begreifen, was es darin an Möglichkeiten zu entdecken gäbe.
 
I.H.: Warum hast du deinen Lebens- und deinen Schreibraum voneinander getrennt bzw. dir zusätzliche Räume ausschließlich zum Schreiben geschaffen?
 
A.H.: In ihrem Essay „A room of one’s own“ thematisierte Virginia Woolf, dass selbst gut situierte Frauen lange keine Privatsphäre, keine eigenen Lebens- und also Denkräume für sich allein haben konnten. Die Idee von Woolfs Text ist ein gesellschaftspolitischer Kampf, der über Jahrhunderte geht. Bei mir ist es einfacher: Ich bin von einem Schreibtisch ausgegangen, der während meines Studiums ein Lerntisch war, ein Seziertisch eigentlich. Dann hat sich aber über die Jahre meines mit großem Misserfolg durchgehaltenen Medizinstudiums parallel dazu mein Schreibleben auf diesem Tisch breitgemacht.
 
I.H.: Und der Lern-Tisch wurde zum Schreib-Tisch?
 
A.H.: Das Schreiben hat alles andere verdrängt. Was dazu geführt hat, dass ich täglich mehrmals die eine Existenz vom Tisch räumen und die andere wieder neu aufbauen musste. Irgendwann habe ich einen zweiten Schreibtisch gehabt. Dann wurden es drei und die Medizinbücher waren verschwunden.
 
I.H.: Hier in deiner Arbeitswohnung sind es konkret zwei Tische. Wovon hängt es ab, an welchen du dich setzt?
 
A.H.: In dem Moment, in dem ich den Raum betrete, ist es klar. Auf dem einen Tisch steht ein Computer, auf dem anderen liegen die Zettel.
 
I.H.: Und diese Anordnung ist unverrückbar?
 
A.H.: Nein, nein … Es ist ein ständiges Wandern.
 
I.H.: Womit wir wieder beim Thema Umwege wären.
 
A.H.: Oft beschäftige ich mich stunden- und tagelang mit nichts anderem als mit Räumungs- und Umstapelungsarbeiten vom einen auf den anderen Schreibtisch. Durch diese Umschichtungen und Verwerfungen kommt manchmal zu Tage, was vielleicht schon jahrelang an die Oberfläche gedrängt hat. Auf den Wegen zwischen den Tischen entsteht die Geschichte.
 
I.H.: Wann schreibst du mit der Hand, wann am Computer?
 
A.H.: Das ändert sich ständig und ist nicht vorherzusagen. Oft schreibe ich seitenweise am Computer und kann dann plötzlich einen Gedanken doch nur mit der Hand weiterführen. Oder umgekehrt.
 
I.H.: Kannst du dir das erklären?
 
A.H.: Ich habe lange versucht, den Bedingungen meines Schreibens auf die Spur zu kommen. Es ist mir nicht gelungen, wirklich dahinterzukommen, und vielleicht ist das gut so. Der unbedingte Wille, den Text zu kontrollieren, zu beherrschen, und gleichzeitig die Sehnsucht danach, die Kontrolle zu verlieren und in ihm aufzugehen – beides ist eine Grundbedingung des Schreibens. Erst im Sichausliefern an alles Mögliche und Unmögliche einer Geschichte kann ein komplexes Textgewebe entstehen, das einem gelebten Leben zumindest einigermaßen entsprechen kann. Nicht zu wissen, ob der nächste Schritt, der nächste Griff in der Schreibwand sicher ist, darauf muss man sich einlassen. Die Gefahr, dass alles um einen herum abstürzt, besteht immer. Und gerade das ist das Faszinierende. In keinem anderen Lebensumstand bin ich so lebendig und wach wie im Schreiben.

I.H.: Kannst du, egal wo du bist, jemals einen Text hinter dir lassen, wenn du in einer intensiven Schreib- oder Schreibdenkphase bist?
 
A.H.: Wenn ich etwas am Schreiben als Arbeit im negativen Sinn empfinde, dann sind es die Phasen des Nichtschreibens. Nicht in einem konkreten Schreibzusammenhang zu stehen, empfinde ich als Ausgesperrtsein von mir selbst und von den anderen. Um jedes Gedicht, um jeden Roman und jede Kurzgeschichte, die ich geschrieben habe, musste ich mich bemühen wie um einen Menschen, an dessen ausschließlicher Zuwendung mir gelegen ist.
 
I.H.: Du musst deine Texte umwerben?
 
A.H.: Sie wollen von mir beachtet werden wie Menschen, die es sich erst noch überlegen, ob sie sich auf mich einlassen wollen oder doch nicht. Sie stellen mich dabei in Frage und auf die Probe. Und lassen sich erst auf mich ein, wenn ich mich restlos auf sie eingelassen habe.
 
I.H.: Und sie beschäftigen dich Tag und Nacht?
 
A.H.: Wenn diese Textmenschen dann darauf bestehen, von mir erzählt zu werden, verlassen sie mich nicht mehr, dann wache ich mit ihnen auf und schlafe mit ihnen ein, ich lebe mit ihnen wie mit wirklichen Menschen. Und das sind sie ja auch.
 
I.H.: Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals ohne dein Diktiergerät gesehen zu haben. Es ist wie ein Körperteil von dir.
 
A.H.: Das Diktiergerät ist mein Gedächtnis. Es ist der Raum, in den hinein eine Geschichte erzählt wird. Das Diktiergerät ist meine Stimme. Es ist der Text in seinen vielen Facetten. Vor allem aber ist es ein Organ, ein Klärungsorgan. Ihm entgeht nichts, keine Lüge, kein Schwindel, mit dem ich mich vielleicht über etwas hinwegzuschummeln versuche. Am Tonfall erkenne ich sofort, ob das, was ich höre, stimmig ist oder eben noch nicht.

I.H.: Deine Leserinnen und Leser wissen, dass bei dir immer Jahre vergehen, bis ein neues Buch vorliegt. Hast du selbst dich daran gewöhnt, dass das bei dir so ist?
 
A.H.: Ich habe einsehen müssen, dass das eben mein Weg ist. Das war nicht immer einfach, besonders zwischen dem ersten und dem zweiten Buch. Immer wieder dachte ich mir, das war es jetzt. Und dann hatte ich ja auch noch mit einem Buch begonnen, das „Aus“ heißt.
 
I.H.: Marketingtechnisch eine Katastrophe – oder ein genialischer Schachzug.
 
A.H.: Wenn einer mit „Aus“ anfängt, was soll dann noch kommen? Das Gegenteil war der Fall: Wenn einer mit „Aus“ anfängt, dann ist alles möglich. Und so war es auch. Von da an ging es nur noch darum, den Rhythmus der jeweiligen Geschichte und in allem den Rhythmus meines eigenen Atems zu finden und ihm zu entsprechen.
 
I.H.: Und du hast nie versucht, dir eine schnellere Grundatmung anzugewöhnen?
 
A.H.: Doch, natürlich. Aber die Texte, die dabei entstanden sind, habe ich alle verworfen.
 
I.H.: Es zu versuchen, ist nichts Unanständiges.
 
A.H.: Nein, aber für mich wäre es unanständig, andere damit zu behelligen. Ich könnte kiloweise „Arbeitsjournale“ herausgeben – aber wem wäre damit geholfen?
 
I.H.: Das Interessante an deinen Arbeitsjournalen zu finden, wird irgendwann die Nachwelt erledigen.
 
A.H.: „Erledigen“ ist in diesem Fall das richtige Wort. Nein. Ich muss schreibend so nahe wie möglich an mich selbst und dadurch so ungefiltert wie möglich an andere Menschen herankommen. Darum geht es. Meine Art, schreibend zu denken, ist mir Glück und Ansporn genug. Das werde ich nicht dadurch zerstören, dass ich mich in einen Schreibtagelöhner verwandle. Dadurch hätte ich zwar mehr Leserinnen und Leser, aber die würden nicht mich lesen, sondern doch nur die Projektion der Attrappe sehen, die ich dabei darstellen würde.
 
I.H.: Eine Projektion ist Lesen doch immer.
 
A.H.: Ja. Aber die Frage ist, ob man sich in dem Gewand, das man sich textlich anzieht, gerade noch erkennt, oder ob man sich darin so ident wie möglich fühlt.
 
I.H.: Begleiten dich beim Schreiben bestimmte Rituale?
 
A.H.: Ich würde es nicht Ritual nennen, aber ohne Musik hätte ich selbst von dem Wenigen, das ich veröffentlicht habe, maximal ein Drittel geschrieben. Musik ist eine Schreibbedingung, wie auch die Stille eine ist. Oder Straßenlärm. Geräusche jeder Art. Auch das ist bei jedem Text anders. Aber meist ist es eine bestimmte Musik, die einen Text begleitet oder ihn überhaupt erst ermöglicht. Der Rhythmus, die Haltung, das Gehen.
 
I.H.: Hängen der Rhythmus der Musik und des Textes zusammen?
 
A.H.: Oft scheint das eine mit dem anderen nichts zu tun zu haben. Und doch bedingen sie einander. Eine ganz bestimmte Musik versetzt mich in die Lage, etwas schreiben zu können, das ohne diese Musik unbestimmt in mir geblieben wäre, Zugang zu etwas zu finden, das ansonsten unaussprechbar wäre.
 
I.H.: Bedeutet das im Umkehrschluss, dass du nicht schreiben kannst, wenn dein CD-Spieler kaputt ist?
 
A.H.: Exakt dieses Problem habe ich gerade.
 
I.H.: Und?
 
A.H.: Es löst keine Blockade aus, aber es ist ärgerlich. Doch es gibt andere Wege. Die Wirkung von Musik haben auch Gerüche und Bilder, das Fotografieren, das Zeichnen, das Gehen. Um noch einmal vom Bergsteigen zu reden: Ein Bergsteiger verlässt sich darauf, dass der Karabiner, der immer gehalten hat, auch diesmal halten wird. Dann bricht er – und der Bergsteiger muss etwas erfinden.
 
I.H.: Oder er braucht nichts mehr zu erfinden, weil er 200 Meter abstürzt und tot ist.
 
A.H.: Letzter Satz meiner Lieblingsgeschichte von Karl Kraus: „Ich erschoss mich.“ In der Literatur ist der letzte Zug noch nicht abgefahren. Solange Schreiben möglich ist, wird es immer noch einen nächsten Zug geben. Einen nächsten Satz. Oder zumindest könnte noch einer kommen. Soll heißen: Jede Störung, wenn sie schon sein muss, ist erwünscht, weil ich etwas daraus machen kann, und weil sie mich zwingt, mit etwas umzugehen, das bis dahin mit mir umgegangen ist.
 
I.H.: Ich fasse zusammen: Die Bedingungen deines Schreibens, zumindest einige davon, ändern sich. Du kannst sie manchmal herstellen und manchmal nicht. Und sie nicht herstellen zu können, ist nicht nur frustrierend, sondern zumindest auch ein kreativer Antrieb.
 
A.H.: Ich bemühe mich darum, es so zu sehen. So wird das Scheitern immerhin produktiv.
 
I.H.: Noch einmal zurück zur Musik. Du spielst, soviel ich weiß, kein Instrument.
 
A.H.: Was mir oft abgeht, ist die Möglichkeit, schreibend improvisieren zu können. Im Schreiben bin ich an Sinnzusammenhänge gebunden. Immer wieder passiert es, dass ich mitten im Satz abbrechen muss, aus welchen Gründen auch immer. Ich wüsste wohl, wie der Satz zu Ende zu bringen wäre, spüre aber, dass der Gedanke woanders hinwill, und zwinge mich abzubrechen, bis er dann irgendwann vielleicht doch wieder die Hand nach mir ausstreckt. In solchen Momenten hätte ich gern die Fähigkeit, meine Geschichte weiterzudenken, ohne auf Worte angewiesen zu sein, auf einer anderen Ebene, in einem anderen Medium, ohne sie dabei zu verlassen, sondern im Gegenteil, um sie um diese außersprachlichen Möglichkeiten zu erweitern.
 
I.H.: Wobei Musiker beim Improvisieren ja auch Regeln folgen bzw. genau wissen, was sie tun. Das Spielerisch-Intuitive beruht auch auf handwerklicher Perfektion. Sonst wird keine Musik daraus, sondern nur Lärm.
 
A.H.: So ist es. Musikerfreunde sagen mir immer wieder, ich solle doch einfach ein Instrument lernen. Aber so einfach ist das nicht. Dafür ist es zu spät. Es wäre mir doch nicht möglich, dieses Instrument so zu beherrschen, dass ich damit so musikantisch denken und erzählen könnte, wie es eben nötig wäre.
 
I.H.: Welches Instrument wäre deines?
 
A.H.: Am ehesten wohl eines, das keine Töne erzeugt, das man nur innerlich hören kann. Ich habe eine kleine Sammlung afrikanischer Instrumente, Glocken, Trommeln, Rasseln, Klanghölzer und Steine, mit deren Hilfe ich es immer wieder schaffe, diesen Zustand zu halten, der mir in die Sprache zurückhilft. Neulich hat mir ein Freund einen Streichpsalter geliehen, der mir seither viel Freude bereitet, mir aber – außerhalb dieser vier Wände – wenig Freunde machen würde.
 
I.H.: Was hat es mit deinen Buntstiftzeichnungen auf sich, die hier überall präsent sind?
 
A.H.: Was ich im Augenblick nicht benennen kann, erscheint oft in Form dieser wirren Linien und Gebilde, die man vielleicht am ehesten als Gesichter wahrnehmen könnte. Dabei geht es um die Bewegung, um Körperlichkeit. Wie das Schreiben ist das Zeichnen eine Bewegung der Hand und des ganzen Körpers. Oft ist ein Satz, ein Gedanke erst notierbar, nachdem er sich in Gestalt dieser Skizzen in das verwandelt hat, wofür er letztendlich stehen und einstehen soll.
 
I.H.: Ich nehme an, du hast deine ersten Texte mit einer Schreibmaschine geschrieben. Hat der Computer dein Schreiben verändert?

A.H.: Ja, enorm! Vom Gefühl her hatte ich mit der Schreibmaschine die Möglichkeiten einer Textpfütze. Am Computer ist es das ganze Meer. Meine Art, Themen ständig zu variieren und ineinander übergehen zu lassen, hat sich erst durch den Computer ergeben.
 
I.H.: Und die ist ja ein Kennzeichen deiner Texte.
 
A.H.: Die Vorstellung all dieser Möglichkeiten hat zeitweise auch etwas Einschüchterndes. Das Gefühl, darin verloren zu gehen, ohne der Vielschichtigkeit der Geschichte zu entsprechen. Oft bilde ich mir ein, unter beschränkteren Bedingungen zielgerichteter zu denken. Klarer auch.
 
I.H.: Ich weiß, dass du ein überaus passionierter Geher bist. Gibt es einen Zusammenhang zwischen deiner Körperlichkeit und deinem Schreiben? Spielt es eine Rolle, ob du dich gesund fühlst oder krank, ob du vielleicht Schmerzen oder wieder einmal nicht geschlafen hast?
 
A.H.: Jede Befindlichkeit kann auch eine Ausrede dafür sein, es mit dem Schreiben erst gar nicht versuchen zu wollen. Oft betrete ich den Raum, setze mich hin, der Text hat die Nacht über in mir gearbeitet, und nichts scheint mir in diesem Moment wichtiger, als das aufzuschreiben, was anscheinend nur darauf wartet, endlich geschrieben zu werden. Und trotzdem schreibe ich nicht, sondern fange an, alles andere zu tun, den Tisch aufzuräumen, Briefe zu beantworten, unter Menschen zu gehen, was auch immer. Dem gebe ich nach. Ich lasse es zu. Denn ich habe gelernt: Jede Verzögerung hat ihren Grund, der oft außerhalb des Schreibens liegt, und der mir oft erst weit im Nachhinein klar wird.
 
I.H.: Selbst die Prokrastination ist einer der nötigen Umwege zum Ziel?
 
A.H.: Natürlich!
 
I.H.: Du warst ein Leser, bevor du zum Schreibenden wurdest. Muss man lesen, um schreiben zu können?

A.H.: Eine der Ursachen für mein Schreiben war ganz sicher das Lesen, die Erfahrung der Identifikation. Zu merken, dass Menschen in der Literatur in bestimmten Situationen ähnliche Erfahrungen machen wie ich, das Gefühl, das, was ich lese, ist gelebtes Leben und hat etwas mit mir zu tun – das war ein Erweckungserlebnis. Ab diesem Moment, ich muss zwölf oder 13 Jahre alt gewesen sein, habe ich mich in die Bücher begeben. Zunächst hat mich bewegt, was gesagt wurde. Mit der Zeit kam die Lust daran dazu, wie es gesagt wird, daran, zu erkennen, wie eine Stimme unter vielen Stimmen kenntlich und unverwechselbar wird.
 
I.H.: Wie verhinderst du, unabsichtlich und unwissentlich Sätze und Gedanken wiederzugeben, die nicht deine eigenen sind? Wie kannst du nach Jahren noch wissen, ob ein Satz oder auch nur ein Satzteil von dir kommt oder ob du ihn irgendwo gelesen hast?
 
A.H.: Vor einigen Jahren habe ich einen Roman, an dem ich bereits mehr als ein halbes Jahr gearbeitet hatte, aufgegeben, nachdem ich zufällig im Radio die Besprechung eines Buches gehört hatte, in der ich das zu erkennen glaubte, was ich zu schreiben vorhatte. Obwohl sich schon bald herausstellte, dass meine Geschichte mit diesem anderen Buch rein gar nichts zu tun gehabt hätte, habe ich die Arbeit daran nicht wieder aufgenommen. Heute würde mich so eine Erfahrung nicht mehr davon abhalten, meine Geschichte trotzdem zu erzählen. Schon deshalb, weil ich ja aus meinem gelebten Leben heraus erzähle und nicht aus meinem Leben als Leser.
 
I.H.: Ich höre zumindest manche Autoren gern ihre eigenen Texte vorlesen, aber ich mag keine Hörbücher – wissend, dass es hervorragende Büchervorleser gibt. Ich finde, ein Leser hört Bücher nicht, er liest sie, weil er sich das Buch nur dadurch selbst erschaffen kann, in seinem eigenen Tempo, seinem Rhythmus, mit den eigenen Stimmen und Sinneseindrücken, die der Echoraum in seinem Kopf produziert. Wie hältst du es mit Hörbüchern?
 
A.H.: Jedes Buch ist eine Landschaft, die ich erkunde, in meiner Geschwindigkeit, in meinem Rhythmus, im Vor- und Zurückgehen, in der Wiederkehr, auch im Überblättern, in der Dehnung und in der Raffung des Geschehens. Als Leser liebe ich es, immer wieder zu einem Gedanken oder einer Passage zurückzukehren, sie auf mich wirken zu lassen, um von dort aus das Gelände weiter zu erforschen. Diese Möglichkeit habe ich in einem Hörbuch nicht, da die Geschwindigkeit des Erzählten vorgegeben ist.
 
I.H.: Also keine Hörbücher?
 
A.H.: Doch, in der Nacht höre ich Bücher. Und bin dankbar dafür, dass es sie gibt, helfen sie mir doch, die endlosen Landschaften der Schlaflosigkeit zu vermessen.
 
I.H.: Da das hier ein Werkstattgespräch ist, ist eine Frage unvermeidlich: Woran werkst du gerade?
 
A.H.: An meinem nächsten Irrtum … aber diesen Satz gibt’s schon. Nach all den Probe-Bohrungen, Umschichtungen und Verwerfungen der letzten Jahre scheint der Weg jetzt frei für den neuen Roman.
 
I.H.: Wenn du deine Schreibwohnung betrittst: Warten deine Texte auf dich oder lauern sie dir auf?
 
A.H.: Sie warten. Mit einer Geduld, die ich ihnen gegenüber oft nicht aufbringe. Hätte ich die Möglichkeit, mehr zu veröffentlichen, würde ich es tun.
 
I.H.: Warum auch nicht. Du machst dich ja nicht aus Koketterie rar.
 
A.H.: Ich mache mich nicht rar. Ich bin es. Freilich ohne mein Zutun. Auch für mich selbst oft nicht auffindbar.
 
I.H.: Woher weißt du, dass ein Text fertig ist?
 
A.H.: Der Text ist größer als ich. Er weiß mehr. Er bestimmt den Anfang und er findet das Ende, das es ohnehin nicht gibt.

 

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