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Verabredete Farben

Der große Schriftsteller W.G. Sebald auf Tirolfahrt. Von Sven Meyer

I. „tausend matte Bilder“
Henri Beyle alias Stendhal nahm 1800 als Siebzehnjähriger an Napoleons legendärer Alpenüberquerung teil. Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, die erste Erzählung in W. G. Sebalds 1990 erschienenem Prosaband Schwindel. Gefühle., zitiert aus Beyles Aufzeichnungen, der sich Jahrzehnte später eingestehen muss, dass auf seine Erinnerungen an die Zeit seiner Jugend, obwohl sie so reich an Erlebnissen war, kein Verlass ist. Die entsetzlichen Eindrücke – traumatische Erfahrungen – sind weitgehend ausgelöscht: „Die Gewalt des Eindrucks hätte diesen selber, so käme es ihm vor, zunichte gemacht.“ Aber auch die schönen Erinnerungsbilder sind trügerisch. Sebald berichtet, Beyle habe lange Zeit in dem Glauben gelebt, sich in allen Einzelheiten an den Ritt in die erste italienische Stadt nach dem Abstieg aus dem Gebirge erinnern zu können und besonders „an das Bild, in dem sich, bei schon abnehmendem Licht, die Stadt Ivrea aus einer Entfernung von etwa einer dreiviertel Meile ihm zum ersten Mal dargeboten habe.“ Doch ist die vermeintliche Erinnerung keine. „Es sei, schreibt Beyle, für ihn eine schwere Enttäuschung gewesen, als er vor einigen Jahren bei der Durchsicht alter Papiere auf eine Prospetto d’Ivrea untertitelte Gravure gestoßen sei und sich habe eingestehen müssen, daß sein Erinnerungsbild von der im Abendschein liegenden Stadt nichts anderes vorstellte als eine Kopie von ebendieser Gravure.“ Beyle rät darum, man solle „keine Gravuren von schönen Aus- und Ansichten kaufen, die man auf Reisen sehe. Denn eine Gravure besetze bald schon den ganzen Platz der Erinnerung, die wir von etwas hätten, ja, man könne sogar sagen, sie zerstöre diese.“
Der Siegeszug der Fotografie, der Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzt, hat Beyles frühen Verdacht bestätigt, dass Abbildungen, wenn man sich mit ihrer Hilfe etwa an Landschaften zu erinnern erhofft, nicht nur von sehr begrenztem Nutzen sein, sondern dass sie sogar das Gegenteil bewirken, die Erinnerungen tilgen und deren Platz einnehmen könnten. Siegfried Kracauer erkennt 1927 in Die Photographie die „vollständige Wiedergabe der dem photographischen Apparat zugänglichen Welt“ als Absicht illustrierter Zeitungen. 1930 klagt Ernst Bloch in Alpen ohne Photographie über die Unmöglichkeit, angesichts der immer wieder reproduzierten, immergleichen Motive noch eine originäre Ansicht der Alpen abzubilden. „Ansichtskarten aus der schlechten Zeit decken eine Landschaft zu, indem sie unausrottbar abbilden. Es ist dieselbe Landschaft aus Wildwasser, steilen Matten, gezackten Alpen, die vor hundert Jahren noch Schrecken erregt hatte und seitdem aus den Kartengrüßen nicht herauskommt.“ Über die Abgeschmacktheit dieser Fotografien lässt Bloch keinen Zweifel aufkommen: „Das Gebirgswasser hat eine verabredete Farbe, sie kommt nicht von sich los. Die Tannen hängen aus dem neunzehnten Jahrhundert herein, aus tausend matten Bildern.“ Die Fotografien nehmen den Sujets ihre Originalität. Susan Sontag schließlich konstatiert 1977 in On Photography einen dem Fotografieren eigenen „raubgierigen Zug“, der „sich in dem Bündnis zwischen Fotografie und Tourismus“ zeige. Sebald nimmt diesen Gedanken auf und kennzeichnet in dem Essay Helle Bilder und dunkle, der 1984 erscheint, zu einer Zeit, in der er sich mehr und mehr der literarischen Arbeit zuwendet, das Reisen als eine „Strategie zur Akkumulation von Photographien“ und zieht daraus Schlüsse, die für sein eigenes Schreiben bestimmend werden. „Die entscheidende Differenz zwischen der schriftstellerischen Methode und der ebenso erfahrungsgierigen wie erfahrungsscheuen Technik des Photographierens“ besteht Sebald zufolge darin, „daß das Beschreiben das Eingedenken, das Photographieren jedoch das Vergessen befördert. Photographien sind die Mementos einer im Zerstörungsprozess und im Verschwinden begriffenen Welt, gemalte und geschriebene Bilder hingegen haben ein Leben in die Zukunft hinein und verstehen sich als Dokumente eines Bewußtseins, dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist.“ Sebalds schriftstellerische Methode wird sich deshalb nicht am fotografischen Bild und seinem Anspruch auf Objektivität ausrichten, der letztlich, bestenfalls, in eine Tautologie führt, sondern eher an der Malerei.

II. „ins Tirol gegangen“
Eine Alpenüberquerung steht auch am Beginn von Il ritorno in patria, der letzten Erzählung in Schwindel. Gefühle. Deren Erzähler, der dem Autor des Buchs so sehr ähnelt, dass man die beiden, um nicht kleinlich zu sein, getrost in eins setzen darf, macht sich im November 1987 auf den Weg von Verona in Norditalien in seine Allgäuer Heimat, nach Wertach. Die Nacht muss er in Innsbruck verbringen, wo er am Morgen den Bus Richtung Schattwald bis nach Oberjoch, zur Grenze, nehmen will. Das Wetter und die Menschen bestätigen seine Befürchtungen. „In Innsbruck herrschte wie jedes Mal, wenn ich dort, gleich zu welcher Jahreszeit, anlange, das grauenvollste Wetter. Mehr als fünf oder sechs Grad hat es gewiß nicht gehabt, und die Wolken hingen so tief herunter, dass die Häuser in ihnen verschwanden und die Morgendämmerung nicht aufkommen konnte“, schreibt Sebald, der die nächtliche Wartezeit zunächst in der Schalterhalle des Bahnhofs verbringt, die „bis auf einen kleinen kropfigen Menschen mit Wetterfleck“ leer ist und erst gegen Morgen von einigen Sandlern aufgesucht wird. „Ein Dutzend Sandler waren es zuletzt insgesamt und eine Sandlerin. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser-Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand.“ Das Verhalten der Obdachlosen scheint Sebald zwar übersteigert, doch typisch tirolerisch: „Verbunden durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich diese teils kaum erst aus dem bürgerlichen Leben ausgeschiedenen, teils ganz und gar zerrütteten Innsbrucker Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug.“ Sebald betrachtet das Treiben wie eine Theateraufführung, in der die Gedanken nicht mehr zur Sprache kommen und die Sprache ihre Begriffe nicht mehr findet: „Mit der größtmöglichen Theatralik und Endgültigkeit unterstrichen die Sandler ihre jeweiligen Ausführungen zu dem, was grad zur Debatte stand, und auch wenn einer von ihnen voller Verachtung abwinkte, weil er den Gedanken, den er doch eben noch im Kopf gehabt hatte, nicht mehr in Worte fassen konnte, kam es mir vor, als entstammten diese Gesten dem Repertoire einer besonderen, auf unseren Bühnen völlig unbekannten Schauspielkunst.“
Wie es das großstädtische Theaterpublikum nach der abendlichen Aufführung in die umliegenden Restaurants und Bars zieht, so sucht auch Sebald nach der Darbietung der Sandler Zuflucht in der Gastronomie. „Um Punkt sechs Uhr sperrten die sogenannten Tiroler Stuben auf. Ich setzte mich hinein in diese alle anderen mir bekannten Bahnhofswirtschaften an Trostlosigkeit bei weitem übertreffende Restauration, bestellte mir einen Morgenkaffee und blätterte in den Tiroler Nachrichten. Beide, der Tiroler Morgenkaffee und die Tiroler Nachrichten, wirkten sich auf meine Verfassung eher ungünstig aus.“ Damit nicht genug – zu allem Überfluss gerät Sebald noch mit der gehässigen Bedienung aneinander, die ihn, offenbar absichtlich, missversteht und ihm „auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul anhängte.“ Sebald, der am Vortag noch in Italien aufgewacht war und sich nun in Tirol am denkbar ungastlichsten Ort befindet, hätte seine Lage in Friedrich Nietzsches Aphorismus „Die Schurkerei mit gutem Gewissen“ aus der Morgenröte angemessen beschrieben gefunden: „Im kleinen Handel übervorteilt zu werden, – das ist in manchen Gegenden, zum Beispiel in Tirol, so unangenehm, weil man das böse Gesicht und die grobe Begierde darin, nebst dem schlechten Gewissen und der plumpen Feindseligkeit, welche im betrügerischen Verkäufer gegen uns entsteht, noch obendrein in den schlechten Kauf bekommt. In Venedig dagegen ist der Prellende von Herzen über das gelungene Schelmenstück vergnügt und gar nicht feindselig gegen den Geprellten gestimmt, ja geneigt, ihm eine Artigkeit zu erweisen und namentlich mit ihm zu lachen, falls er dazu Lust haben sollte. – Kurz, man muss zur Schurkerei auch den Geist und das gute Gewissen haben: das versöhnt den Betrogenen beinahe mit dem Betruge.“ Aber das geistvolle Italien liegt hinter ihm, und so nimmt Sebald morgens um sieben Uhr den Bus nach Oberjoch, in den nach und nach „Tiroler Weiber“ einsteigen, die „unter ihren schwarzen Regendächern“ an den Haltestellen entlang der Straße gewartet hatten. „Es kam auf diese Weise bald eine ganze Anzahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem mir aus der Kindheit vertrauten, hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden wollenden Regen, der an vielen Orten schon ganze Berghänge in Bewegung gebracht hatte.“ Alles ist Klage. Das Heu und die Kartoffeln verfault, die Johannisbeeren wieder nichts geworden, der Holder verregnet, und weit und breit kein einziger essbarer Apfel.
Bis hierhin folgt man Sebalds böser Erzählung mit einem ähnlichen Vergnügen wie den Tiraden des von ihm verehrten Thomas Bernhard. Sebald schlägt einen ähnlichen Ton an, der ihm bei der Beschreibung der unguten Stimmung, der schlimmen Tiroler und des verheerenden Tiroler Wetters gelegen kommt. Überhaupt ist Tirol eine Gegend, die nichts Gutes verheißt. Später wird Sebald bei seinen Wertacher Recherchen noch erfahren, dass einst der Jäger Schlag „eine gute Stunde außerhalb seines Reviers, auf der Tiroler Seite, auf dem Grund eines Tobels“ tot aufgefunden wurde, und niemand zu sagen gewusst hätte, was der Jäger „ausgerechnet in dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter im Österreichischen drüben zu suchen gehabt habe“, und von Peter Ambroser weiß man nur, dass er verkündet hat: „Ich bin ins Tirol gegangen“, und für immer spurlos verschwunden geblieben ist.
Doch allein mit dem düsteren Tirol ist es nicht getan. Denn liegt Innsbruck erst einmal hinter dem verdrossenen Reisenden, tritt im Laufe der Busfahrt die Schönheit der Tiroler Landschaft zutage – und verlangt danach, beschrieben zu werden: In der Tiefe liegen „die dunkeltürkis-grünen Flächen des Fernstein-Sees und des Samaranger Sees“, und Sebald erinnert sich bei deren Anblick, dass diese ihm „schon in der Kindheit, als wir mit dem 170er Diesel des Schofförs Göhl den ersten Ausflug ins Tirol machten, wie der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit vorgekommen waren.“ Vor dieser Naturschönheit aber verstummen nicht nur die Vogelstimmen der Tirolerinnen; vor ihr wird auch Sebalds Sprache klanglos: „durch weite Steinfelder mäandernde Wasser“ und „schöne grüne Wiesen“ zählt Sebald auf sowie eine „frisch gefirnisste Gegend“ und „die dampfenden Wälder, das blaue Himmelgewölbe“. Das alles erscheint ihm zwar „wie eine Offenbarung“, und doch offenbart sich seinem Leser die behauptete Schönheit nur dann, wenn er sie selbst zuvor erfahren hat und eine eigene Erinnerung daran besitzt, die von Sebalds Beschreibungen, mit denen dieser wiederum seine Kindheitserinnerungen zu fassen versucht, bloß evoziert wird. Die Beschreibungen bleiben schal. Die Tirolerinnen steigen schließlich eine nach der anderen, „in Reutte, in Weißenbach in Haller, Tannheim und Schattwald“, aus dem Bus aus, und wenn Sebald als letzter Fahrgast das Zollamt von Oberjoch erreicht, die Schönheit der Tiroler Natur hinter sich lässt, in das Tannheimer Tal blickt, „das einen niedergedrückten, lichtlosen und gottverlassenen Eindruck machte“, und allein seine Wanderung beginnt, dann begleitet man ihn fast erleichtert, weil das unzulänglich beschriebene, vielleicht unbeschreibbar Schöne nun hinter ihm und die bedrohliche Heimat noch vor ihm liegt, „durch die ans Niemandsland grenzenden Moorwiesen“, an „blattlosen Buchen“ vorbei, bis „die wenige fahle Farbe in den nassen, verlassenen Feldern vollends ausgelöscht wurde“, in die Dunkelheit.

III. „mit dem Aug eines Kranichs“
Wie aus diesen Tiefen wieder herauskommen, wie in die Höhe, ans Licht? Wie auch das Schöne angemessen beschreiben? Die Malerei kennt einen Weg. In Sebalds Die Ringe des Saturn (1995) betrachtet der Erzähler das Gemälde Ansicht von Haarlem mit Bleichfeldern von Jacob van Ruisdael: „Die gegen Haarlem sich hinziehende Ebene ist aus der Höhe herunter gesehen, von den Dünen aus, wie im allgemeinen behauptet wird, doch ist der Eindruck einer Schau aus der Vogelperspektive so stark, daß diese Seedünen ein richtiges Hügelland hätten sein müssen, wenn nicht gar ein kleines Gebirge.“ Sebald weiß: „In Wahrheit ist van Ruisdael beim Malen natürlich nicht auf den Dünen gestanden, sondern auf einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt. Nur so konnte er alles zugleich sehen, den riesigen, zwei Drittel des Bildes einnehmenden Wolkenhimmel, die Stadt, die bis auf die alle Häuser überragende St. Bavokathedrale kaum mehr ist als eine Art Ausfransung des Horizonts, die dunklen Buschen und Gehölze, das Anwesen im Vordergrund und das lichte Feld, auf welchem die Bahnen der weißen Leinwand auf der Bleiche liegen und wo, soviel ich zählen konnte, sieben oder acht kaum einen halben Zentimeter große Figuren bei ihrer Arbeit sind.“
Diese Technik, die Betrachtung und Darstellung der Welt von einem imaginierten, überhöhten Punkt aus, hat ein Echo in einem Essay Sebalds zur Literatur. Zu den wichtigsten erzähltechnischen Mitteln Vladimir Nabokovs, des von ihm bewunderten Gedächtniskünstlers, zählt Sebald das Verfahren, das „durch kaum wahrnehmbare Nuancierungen und Verschiebungen der Perspektive, einen unsichtbaren Beobachter ins Spiel bringt, der einen besseren Überblick zu haben scheint nicht nur als die Figuren der Erzählung, sondern auch als der Erzähler und der Autor, der diesem die Feder führt, ein Kunstgriff, der es Nabokov erlaubt, die Welt und sich selber in ihr von oben zu sehen. Tatsächlich enthält sein Werk zahlreiche Passagen, die aus einer Art Vogelperspektive geschrieben sind.“ Doch auch die Perspektive des Vogels lässt sich noch erhöhen: „Von noch weiter oben, aus dem blauen Staub des Himmels heraus, sieht ein Flugzeugpilot den gesamten Verlauf der Straße und zwei zwölf Meilen auseinanderliegende Dörfer. Und wenn wir noch weiter hinauf könnten in die dünner und dünner werdende Luft, dann sähen wir vielleicht, so der Erzähler an dieser Stelle, das Gebirge in seiner ganzen Ausdehnung und eine ferne Stadt in einem anderen Land – zum Beispiel Berlin. Die Welt im Auge des Kranichs, mit dem manchmal die holländischen Maler, wenn sie etwa die Flucht nach Ägypten malten, sich über das flache Panorama erhoben, das sie drunten auf der Erde umgab. Analog wird das Schreiben, wie es Nabokov betreibt, in die Höhe getragen von der Hoffnung, daß sich, bei genügender Konzentration, die hinter dem Horizont schon hinabgesunkenen Landschaften der Zeit in einem synoptischen Blick noch einmal könnte erfassen lassen.“ So könnte schließlich selbst die Schönheit der Natur erfasst und beschrieben werden. Bereits in Nach der Natur, Sebalds literarischem Debüt, lesen wir:

„[…] wie mit dem Aug
eines Kranichs überblickt man
sein weites Gebiet […]
und lernt langsam an der Winzigkeit
der Figuren und der unbegreiflichen
Schönheit der Natur, die sie überwölbt,
jene Seite des Lebens zu sehen,
die man vorher nicht sah.“

Wie sehr diese Perspektive freilich ein Hilfsmittel bei der Kunst der Repräsentation der Geschichte bleibt, zeigt ein Wunschtraum Nabokovs, dem, so Sebald, „die Seilbahn, insbesondere der Sessellift, das liebste Beförderungsmittel war“, und der jenen synoptischen Blick weiter steigern möchte: „Berückend und im besten Sinne des Wortes traumhaft finde ich es, in der Morgensonne auf diesem Zaubersitz zwischen Tal und Baumgrenze zu schweben und aus der Höhe meinen Schatten zu beobachten, wie er in Sitzhaltung – ein geisterhaftes Schmetterlingsnetz in der Geisterfaust – drunten als Scherenschnitt in der Seitenansicht zwischen tanzenden Mohren- und Perlmuttfaltern sachte über den beblümten Hang hinwandert.“ Desto höher der Beschreibende hinaufsteigt, desto größer ist das Feld und desto weiter sind die Räume, die er überblicken kann, und so sehnt sich Nabokov nach einer Levitation oder einem Vogelflug und er träumt davon, dass er einmal „aufrecht über Gebirge hinweggleitet, getragen von einer auf seinem Rücken festgeschnallten Kleinstrakete.“

IV. „der Stein von Rosette“
Dem synoptischen Blick, der räumliche und zeitliche Verbindungen ermöglicht, entspricht in Sebalds Schreiben die Analogie, die Ordnungen nicht durch Begründungs-, sondern Verwandtschaftszusammenhänge schafft. Wie sich dieses Verfahren literarisch nutzen lässt, macht Sebald in Schwindel. Gefühle. anschaulich: „Ich saß an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür, hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen. Das Schreiben ging mir mit erstaunlicher Leichtigkeit von der Hand. Zeile und Zeile füllte ich die Bogen des linierten Schreibblocks“. Einen frühen Hinweis auf eine synoptische Darstellung enthält Sebalds bereits 1965, im Alter von 21 Jahren, veröffentlichtes Gedicht Schattwald im Tirol.

Schattwald im Tirol

Die Zeichen sind versammelt
seßhaft am Rand der Dämmerung
ins Holz geschnitten
geharzt und gerußt
gedruckt an den Berg

Weißdorn am Hag
entlang einer Strecke Wegs
schwarz auf dem Papyrus des Winters
der Stein von Rosette
Im Haus aus Schatten
am Anfang der Legende
beginnt das Entziffern Die Dinge sind verschieden
von ihrem Anschein
Die Verwechslung
unter den Mitreisenden
fand immer statt

Richte dich ein
zwischen Tür und Angel

Bemerkenswert ist der Verweis auf den „Stein von Rosette“, jene berühmte, während Napoleons Expedition nach Ägypten 1799 aufgefundene, 2000 Jahre alte Stele, die eine synoptische Gegenüberstellung des gleichen Texts in Altgriechisch, Demotisch und Hieroglyphenschrift bietet und so zum besseren Verständnis jener beiden Schriften und sogar erst zur Entschlüsselung der Hieroglyphenschrift beigetragen hat. Die Geschichte des Steins von Rosette mag Sebald früh eine Idee davon vermittelt haben, welche Korrespondenzen zwischen den Dingen bestehen und, so Sebald in Logis in einem Landhaus, dem Essayband zur Schweizer Literatur, „wie über den Raum und die Zeit hinweg alles miteinander verbunden ist, das Leben des preußischen Schriftstellers Kleist mit dem eines Schweizer Prosadichters, der behauptet, Aktienbrauereiangestellter gewesen zu sein in Thun, das Echo eines Pistolenschusses über den Wannsee mit dem Blick aus dem Fenster der Heilanstalt Herisau, die Spaziergänge Walsers mit meinen eigenen Ausflügen, die Geburtsdaten mit denen des Todes, das Glück mit dem Unglück, die Geschichte der Natur mit der unserer Industrie, die der Heimat mit der des Exils.“

 

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