zurück zur Startseite

Versprengte Künstler

Eine Spurensuche in Alpbach. Von Robert Prosser

Im Mai dieses Jahres wies mich ein Bekannter auf einen expressionistischen Künstler aus Berlin hin, der von 1939 bis zu seinem Tod 1982 in Alpbach, meinem Geburtsort, gelebt und gearbeitet habe. Von Werner Scholz, so der Name des Malers, hatte ich zugegebenermaßen noch nie gehört, ebensowenig vom Ehepaar Germaine Guerin und Kleofas Bogailei, geborenem Ludwig Reischl, zwei Kunstschaffenden, auf welche ich während der nachfolgenden Recherche gestoßen bin. Gemeinsam ist ihnen, dass es die Wirrnisse des Zweiten Weltkrieges waren, die sie ins Tiroler Unterland brachten. Sie teilen das Schicksal, in Archiven und aus der gegenwärtigen Wahrnehmung verschwunden zu sein; Scholz immerhin erfuhr kunsthistorische Beachtung, Bogailei und Guerin gelangen über den Status eines sehr exklusiven Geheimtipps nicht hinaus.
Die Umstände, die letztlich den Rückzug von Werner Scholz nach Alpbach bedingten, sind tragisch: Am 23. Oktober 1917, seinem 19. Geburtstag, verlor er als Soldat auf dem Chemin des Dames in Frankreich den linken Unterarm. Kriegsinvalid nahm er ein Kunststudium in Berlin auf und erhielt, dank Fürsprache von Seiten Ernst Noldes, erste Anerkennung. Als Vertreter der zweiten Generation deutscher Expressionisten wurde er 1937, aufgrund seiner Darstellung des Elends der Zivilbevölkerung in der Zwischenkriegszeit, vom NS-Regime zur „Entarteten Kunst“ gezählt und in der gleichnamigen, berüchtigten Münchner Ausstellung diffamiert. Mit seiner Ehefrau Ursula, geborene Hoffmann, zog er sich vor diesen Anfeindungen 1939 auf den „Büchsenhausen“-Hof in Alpbach zurück, ein Dorf, das ihm seit der Kindheit von Familienurlauben im nahen Bad Mehrn bekannt war. Während des Zweiten Weltkrieges folgte aus dem zerbombten Berlin die befreundete Witwe Frieda Grasse mit Sohn und Tochter nach, die auf einer Alpbacher Alm als Hilfskräfte unterkamen. Frieda brachte 1946 in Büchsenhausen Claudia zur Welt, das einzige Kind von Scholz. Die solcherart entstandene Familie schlug sich im alten Bauernhaus, an der Straße nach Inneralpbach oberhalb des Baches gelegen, durch, so gut es ging. Man lebte von der Kriegsrente und den Zuwendungen der Nachbarn. Zu einigen Dorfbewohnern entwickelten sich Freundschaften, etwa, ein erstaunlicher Zufall, weil der Sohn einer hiesigen Familie in Breslau, Ursulas Geburtsort, im Lazarett lag und dort von ihrer Schwester besucht und gepflegt wurde. Für gewöhnlich hielt Scholz Distanz zum Alpbacher Alltag; wanderte er auf den Schatzberg, vermutete man, er funke nach Moskau – ein Mann, der keinerlei Partei angehörte, galt gemeinhin als versteckter Kommunist. Sein Tagesablauf war, in einer als „preußisch“ bezeichneten Disziplin, genau getaktet: Um 11 vormittags ging er in die Malerkammer im ersten Stock und arbeitete, abgesehen von einer Mittagspause, bis in den Abend.
Ursula hatte, ungewöhnlich für die Tochter eines Generals, Fotografie studiert, und unternahm, erst mit einer Plattenkamera und später mit einer Rollei, Streifzüge bis ins Zillertal, um den dörflichen Ablauf festzuhalten. In diesen Fotografien ist Alpbach als bäuerlicher Kulturraum konserviert und zeigt sich jenes den Bergen und dem Vieh zugehörige Leben, das die Kriegsflüchtlinge gesucht und gefunden hatten, zumindest für einige Jahre. Als Mitte der 1950er der an Aufschwung gewinnende Tourismus die Bauerntraditionen verdrängte, reisten die Büchsenhausener regelmäßig nach Villanders im Südtiroler Eisacktal, wo diese noch existent und vom Fremdenverkehr verschont waren. Die Scholz verhasste touristische Entwicklung wurde großteils vom Europäischen Forum Alpbach angestoßen, 1945 von Otto Molden und Simon Moser gegründet. Der dem Ständestaat verpflichetete Molden und der Oppurtonist erster Stunde Moser verkauften das Forum der französischen Besatzungsmacht als demokratisches Projekt und schätzten das Dorf ob der zwar erzkatholischen, aber nazistisch unberührten Atmosphäre. So verschlafen, wie man glaubte, war Alpbach jedoch nicht. Recherchen erschweren sich zwar dadurch, dass, wie in der Nachkriegszeit üblich, das gesamte Archiv der Jahre von 1938 bis 1945 vernichtet wurde, noch aber ist die Vergangenheit dank Zeitzeugen und Erzählung präsent. Dort, wo heute unweit des leerstehenden Hallenbades das Haus Tirol steht, gab es während des Zweiten Weltkrieges ein Lager für vorwiegend ukrainische Zwangsarbeiter. Als Aufseher wirkten Einheimische, die fürs nationalsozialistische Gedankengut entflammt und zu alt zum Einrücken waren. Es hält sich das Gerücht, dass es zwischen einigen Ukrainern und Alpbacherinnen zu Affären gekommen sei, von Kindern ist die Rede, den abwesenden Ehemännern untergeschoben. Was auch immer daran gelogen ist, nach wie vor finden sich von den Gefangenen angefertigte Schnitzereien, eine Holzschüssel mit eingeritzter Jahreszahl beispielsweise, die einem Mädchen geschenkt worden war. Als das als Gefängnis dienende Gebäude abgerissen wurde, um dem jetzigen Ferienhaus Platz zu machen, stießen die Bauarbeiter auf Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände der namenlosen Fremden. Diese Überreste landeten, wie Jahrzehnte zuvor die betreffenden Akten des Gemeindearchives, auf dem Müll, womit jegliche greifbare Spur des Lagers aus dem Ortsbild gelöscht war. Einige erinnern sich ferner daran, dass sich Albert Speer, von einem Bauern ausgehalten, in Inneralpbach auf einer Alm versteckt hielt – diese Behauptung deckt sich aber in keinster Weise mit der offiziellen Biografie von Hitlers Architekten. Verschiedenen Aussagen zufolge kamen über einen Zeitraum von 20 Jahren zwei seiner Söhne ins Dorf, nachdem sie hier mit ihrer Mutter die Kindheit verbracht hatten und der Gegend verbunden blieben. Als gesichert gilt der Aufenthalt des Schriftstellers und Malers Hans Leip, der ab Ende 1944 einige Zeit auf der Wurmegg-Alm am Schatzberg lebte. Leip, von Hitler mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ausgezeichnet, verblieb aufgrund eines einzigen Gedichtes im Gedächtnis, von ihm 1915 22-jährig verfasst: Lili Marleen. 1938 von Norbert Schulz (Komponist u.a. von Propaganda-Märschen wie „Das U-Boot-Lied“) vertont und von Lale Andersen gesungen, wurde dieser Bastard aus Soldatenlied und Schlager vom deutschen Kriegssender Radio Belgrad ab 1941 als Erkennungsmelodie jeden Abend um 21.55 Uhr in den Äther gejagt. Von der Wehrmacht wie von der anderen Seite der Front gleichsam gefeiert, verhalf Marlene Dietrich, als moralische Unterstützung der US-Truppen gedacht, diesem Lied 1943 endgültig zur Unsterblichkeit mit braunem Nachgeschmack. Als auch die alte Wurmegg-Alm niedergerissen wurde, um an ihrem Platz unweit der neuen Gondelbahn auf den Schatzberg (Scholz hat ob dieser touristischen Auswüchse bestimmt im Grab rotiert) eine moderne Behausung zu errichten, wurden, ähnlich den Resten der ukrainischen Kriegsgefangenen, Aufzeichnungen Leips entdeckt.

Unberührtes Dorf oder nicht, die beiden Forums-Gründer bildeten ein erfolgreiches Duo: Simon Moser sorgte für die Verankerung im universitären Betrieb und Otto Moldens großbürgerlicher Habitus war Garant dafür, damalige Prominenz wie Erwin Schrödinger oder Arthur Koestler nach Alpbach zu holen. Werner Scholz blieb Randzeuge, als fruchtbar erwiesen sich aber die im Rahmen dieser Veranstaltung möglich gewordenen Bekanntschaften mit Hans-Georg Gadamer, dem führenden Philosophen der deutschen Hermeneutik, und Maurice Besset, dem ersten Direktor des französischen Instituts in Innsbruck. (Angemerkt sei, dass in jeder Publikation, die die Bedeutung des Forums für Scholz und vice versa zum Inhalt hat, hervorgehoben wird, dass viele Intellektuelle und Künstler nach Büchsenhausen pilgerten, um mit Scholz über „die Kunst“ zu sprechen. Dass es sich dabei um mehr handelt als bloßes Name-Dropping, ist anzuzweifeln bei einem Maler, der die akademische Diskussion scheute und in seinem Schaffen dem Ausspruch von Henri Matisse folgte: „Wenn du malen willst, beiß dir die Zunge ab“.) 1968 veröffentlicht Hans-Georg Gadamer eine Monografie über Scholz und fixiert anhand der archaischen Kraft in den Bildern dieses Malers seine hermeneutische Philosophie von der Essenz der Kunst: „In einem jeden Bild ist nicht ein Teil der Wahrheit gesagt, sondern – wie eigentlich? – die ganze Wahrheit. Etwas tritt durch Zeichnung und Farbe, oder wie immer man die Elemente der Bildkomposition nennen mag, in eine raumheischende und Sammlung fordernde Präsenz.“ Gadamers Ausführungen kreisen um den Moment des Überraschens, wo das Schauen eines Scholz-Gemäldes den Betrachter mit unterbewusst abgespeichertem Wissen um den Mythos kurzschließt. Es geht, im Sinne Walter Benjamins, um die Aura, die der Kunst innewohnt, oder, in Gadamers Worten, um die Gebärde. Diese „… ist überall, wo aus der grenzenlosen, unbestimmten Möglichkeit dessen, was sich zeigt, etwas Einsinniges und Eindeutiges hervortritt, wie wir das am Menschen kennen, den ein Affekt mitreißt, so dass er, der alles Versuchende, nur dies eine und dies eine ganz ist, Wut, Zorn, Eifersucht, Hunger, Trauer oder was immer.“ Gadamer findet bei Scholz Authentizität in Reinform, das ganz große Gefühlskino.
Es gelingen ihm treffende Betrachtungen: „Farbe kommt bei Werner Scholz nicht aus dem Licht, sondern aus dem Dunkel. Sie blüht auf, sie flammt auf, sie versprüht sich in gewaltsamen Entladungen (…) Es ist eine Welt ohne Licht und ohne Strahl.“ Diese der Dunkelheit verpflichtete Farbgebung mag ihren Ursprung in den Erlebnissen des Ersten Weltkrieges haben. In einem Interview mit Wolfgang Pfaundler (in: Das Fenster Nr. 25, Winter 1979/1980) berichtet Scholz: „Jahrelang habe ich nur Schwarz und Weiß gemalt. Farbe kam nicht ran. Wie konntest du auch, aus dem Schützengraben kommend mit schweren Verwundungen, zu Farbe gelangen. Ging einfach nicht. Schwarz und Weiß waren meine Farben, die Farben, die aus mir kamen.“ Gadamer begeht aber in der Verortung des Malers im alpinen Arbeitsraum einen Fehler, der nicht nur ihm unterläuft, wird über die hiesige Bergwelt geschrieben: Er sieht im Alpbachtal einen archaischen Urzustand, mächtig und abweisend, und inkludiert in diese Wahrnehmung auch die Bewohner – das Stereotyp vom engstirnigen Bergler lauert zwischen den Zeilen. So kommt in der essayistischen Aufarbeitung Folgendes aufs Papier: „Wer einmal in Alpbach in das düstere Nordzimmer trat, in dem der Maler arbeitet, die lastende Nähe der Bergwelt spürte, die sein Heim umgab, und dem verzweifelten Ernst und der wahrhaften Erbitterung begegnete, mit der dieser Mann auf sich selbst bestand, durfte nichts anderes erwarten. Es war wie der Ernst in manchen Gesichtern von Gebirglern, der nicht aus ihnen selbst kommt, sondern von den Schatten, die über ihren Tälern so früh am Tage zusammenschlagen.“ Gadamer neigt dazu, die Dorfbewohner als Gebärde zu klassifizieren, deren Leben einzig durch die fixen Bewegungsabläufe des Wolle-Spinnens, Heu-Einholens und Mähens definiert werden. Diese Vereinfachung tut den Bauern wie den klimatischen Verhältnissen des Tiroler Unterlandes eindeutig Unrecht. Auch ein Alpbacher, eine Alpbacherin ist abseits der Feldarbeit ein Mensch mit doppeltem Boden. Dies zeigt sich darin, als die Bewohner des Büchsenhausen-Anwesens ob ihrer Dreiecks-Beziehung für weniger Aufsehen sorgten als in einem katholischen Tiroler Bergdorf zu erwarten gewesen wäre. Claudia Grasse meint dazu lapidar, dass die Alpbacher genauso fremdgingen; Frieda, Ursula und Werner lebten es zwar vergleichsweise offen, zeigten aber auch, dass ein solches Zusammenleben funktionieren kann.
Die von Gadamer konstatierte Archaik im Werk des einarmigen Malers ist vor allem Maurice Besset zu verdanken. Dieser brachte Scholz Ende der 1940er-Jahre die Lutherbibel nach Büchsenhausen. Darin bot sich ihm Zugang zu Themen, die selbst nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges Bestand hatten. Täglich studierte er das Alte Testament, dem farbigen Schatten der Propheten, Dämonen, Engel und Heiligen auf der Spur. Der im protestantischen Norden Deutschlands aufgewachsene und aus der evangelischen Kirche ausgetretene Scholz besaß die nötige persönliche Distanz zum biblischen Motivreservoir, um sich diesem anzunähern und eine erstaunlich kraftvolle Verbindung zwischen Mythologie und dem eigenen Leben zu erzielen. Ölbilder und Pastelle von Werner Scholz sind Teil der St. Petersburger Eremitage und der Wiener Albertina, er selbst bleibt in seinem zu Lebzeiten mehrmals ausgestellten Werk unangepasst und, frei gewählt, ein Unbekannter, ein Außenseiter. In dieser Randrolle nähert sich Scholz Germaine Guerin und Kleofas Bogailei an, die sich in ihrem Bohemien-Bewusstsein ansonsten gänzlich anders positionieren. Die Erzählungen über die beiden sind derart romantisch, sie können schon fast wahr sein: 1901 in Schwarzenberg, Oberösterreich, geboren, floh Ludwig Reischl 1928 nach Paris, nachdem er in seiner Familie mit seinen künstlerischen Ambitionen auf wenig Gegenliebe gestoßen war und aus Protest eine nackte Frau an die Außenwand dieses ihn zu einer Arbeit als Goldschmied zwingen wollenden Elternhauses gemalt hatte. Er ließ sich am Montmartre nieder und verkaufte seine Gemälde in den Straßen von Paris, wo er seine spätere Ehefrau Germaine Guerin lieben lernte und sich den Künstlernamen Kleofas Bogailei anlegte, der, in letzter Konsequenz, auch auf dem gemeinsamen Grab am Friedhof von Brixlegg geschrieben steht.
Es ist ein leichtfüßiger, in der späteren Schaffensphase surreal gebrochener Stil, der ihn auszeichnet. Meist in kleinen Maßen von kaum 30 Zentimetern in Höhe und Breite zeigt er Angler, Schlittschuhläufer, knapp bekleidete Damen und arme Dichter (was ihm den verhassten Vergleich mit Spitzweg einbrachte), mitunter reiten auf einer riesigen, giftgrünen Raupe nackte Menschen dem Betrachter entgegen. Ab 1944 wurde Bogailei als Kraftfahrer in der Wehrmacht eingesetzt, eine Tätigkeit, die man ihm im Frankreich der Nachkriegszeit übelnahm und aufgrund derer Guerin der Kollaboration bezichtigt wurde. Auf der Suche nach einem neuen Lebensort strandete das Paar erst im Bayerischen Wald und später in Tirol. Nach Alpbach dürfte sie der Ruf von Johann Moser vulgo Bubi gebracht haben, einen Tischler, der als talentierter Künstler und Ansprechpartner für mittellose Maler galt. Auf Vermittlung von Bubi kamen Guerin und Bogailei (ob eines kurzzeitigen Aufenthaltes im Bichlhäusl und der geringen Körpergröße dorfintern als „Bichö-Mandl“ bezeichnet) in der ehemaligen Tischlerei des Wastlhäusls von Adelheid Moser unter. (Ihre dortige Wohnstatt bezeichnete Bogailei aufgrund der Lage neben dem Hallenbad als „chlorreich“.)
Obwohl sie mehr als zwanzig Jahre im Dorf lebten und sich dort am 11. Februar 1950 vermählten, blieb bis auf ein paar Erzählungen wenig von Germaine und Kleofas zurück. Berichtet wird vom Talent des Bichö-Mandls für Holzschnitzereien und Uhrenbau, von Gauloises-Zigaretten und Weinbergschnecken, die Nachbarskinder einsammelten und als Abendessen ins Wastlhäusl trugen. Kleofas versuchte, ihnen für ein paar Schilling Bilder zu verkaufen, was den Kindern von Seiten der Eltern verboten wurde, auch, weil Kleofas den Ruf hatte, kein Freund der katholischen Kirche zu sein. Das Paar fertigte Pinsel aus Marderhaaren und teilte sich Wohnraum mit unzähligen Katzen. So verschieden die Lebensentwürfe von Guerin / Bogailei und den Bewohnern des Büchsenhausen-Hofes sein mochten, in der Geschlechterteilung wurde da wie dort der Tradition vertraut: Ursula gab für Werner Scholz die Fotografie auf, Germaine hockte im Wastlhäusl und ärgerte sich über den durch die Wirtshäuser gondelnden Kleofas. Germaine zumindest blieb der Kunst, die ihr Kleofas in Paris nahe gebracht hatte, treu. Ihre Aquarelle, gemalt in der Nass-auf-Nass-Technik der alten Meister, trockneten an einer Wäscheleine, die sich vom Haus zu einer Fichte spannte. Sie malte Phantasie-Porträts, detailliert in Sommersprossen, Haarwuchs, dem verträumten, zugleich selbstbewussten Blick, ein Gesichterreigen von Jugend, Schönheit, Vergänglichkeit, Verfall, angedeutet in gelblichem Hautton, in tief in ihren Höhlen liegenden Augen. Ihre Werke finden sich im ersten Stock der Brixlegger Raiffeisenbank, ein Teil der Bilder wurde Mitte der 1980er-Jahre angekauft, die restlichen sind als Kreditsicherung an das Haus übergegangen. Im August 2013 gab es eine Ausstellung im Schwazer Rabalderhaus mit dem Titel „Zwei französische Malerinnen in Tirol – Guerin Germaine und Margaret Levy.“ Der Organisator, Otto Larcher, erzählt, wie einfach es war, Werke von Guerin aufzuspüren, da diese im näheren Umkreis von Brixlegg, Münster und Schwaz in großer Zahl zu finden sind, allein zwei Schwazer Ärzte besitzen mehrere Dutzend davon. Dies hat seinen Grund in der Disziplin Germaines, die täglich malte. Die kleinformatigen Bilder des nach Lust und Laune zeichnenden Kleofas hängen im Innsbrucker Ferdinandeum, im Staatlichen Museum Schwerin und bei einer Handvoll Alpbachern in der Stube. Der Gutteil seines ohnehin schmalen Werkes, dessen Hochphase die Zeit in Paris gewesen sein dürfte, ist verschollen. Beide haben ihre Kunst zu Lebzeiten unter Wert verkauft, beide sind einem größeren Kunstpublikum unbekannt, auch, weil nie ein Katalog über ihr Schaffen angelegt worden ist und es kaum Belege für ihr Wirken gibt. An Sekundärliteratur existieren lediglich zwei Artikel von Barbara und Gerd Auer in den Tiroler Heimatblättern, zum Gedenken an den 99. Geburtstag bzw. den 5. Todestag Kleofas Bogaileis verfasst.

1977 zerstritten sich Germaine und Kleofas mit ihrer Vermieterin Adelheid und gelangten durch Vermittlung eines Lehrenden der Kramsacher Glasfachschule an das Ehepaar Gschösser, die damaligen Besitzer des Schlosses Lipperheide im Matzenpark bei Brixlegg. Marianne und Josef Gschösser stellten ihnen das Casino genannte Nebengebäude des Schlosses als Lebens- und Arbeitsraum zur Verfügung. Auf Lipperheide hatte Kleofas Bogailei 1979 seine erste und, abgesehen von einer Präsentation in der Vomperbacher Schule, einzige Ausstellung.
Jörg Falkenhagen-Röfer, Großneffe von Bogailei, erinnert sich an die Kunst-Sammler Christiaan Barnard und Curd Jürgens, die er während seiner Kindheitsbesuche im Wastlhäusl angetroffen habe. Barnard, der südafrikanische Chirurg, dem 1967 die erste Herztransplantation an einem Menschen gelang, und nachmaliger Liebling des deutschsprachigen Jetsets, kaufte Bilder und schenkte den Künstlern ein rotes Cabrio. Beide wohnten in einem Holzhaus ohne Wasseranschluss, besaßen aber ein teures Auto – es entspricht dem Bild des Bohemiens, dass die gelebte Armut mit eigenwilligen Anekdoten aufwartet. Etta Bindhammer, die das Malerpärchen als junge Frau in Brixlegg kennengelernt und bis zu deren Tod begleitet hatte, berichtet von einem befreundeten Hamburger Seekapitän, der den Malern von einer Schiffsfahrt eine lederne Elefantenpeitsche, in deren Griff sich ein langer Dolchspieß verbarg, mitbrachte. Marianne Gschösser, die letzte Mäzenin der beiden, erinnert sich an den traurigen Moment, als Kleofas, der an Parkinson erkrankt war und, ähnlich wie Scholz, nur noch mit der rechten Hand arbeiten konnte, auch diese motorische Fähigkeit genommen wurde und er resigniert anmerkte, dass es nun also vorbei sei, mit dem Schnitzen, Malen und Leben. Er starb im Februar 1989, seine Frau folgte ihm im November des nächsten Jahres. Auffällig ist, dass die Erinnerung an Germaine und Kleofas sämtliche Gesprächspartner lächeln lässt. Man denkt an die Eigenheiten der Maler, ein jeder bekräftigt, wie dankbar man sei, sie kennengelernt zu haben. Dies ist, glaube ich, nicht der schlechteste Schlussstrich, der sich unter ein Leben ziehen lässt, egal, ob Künstler oder nicht.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.