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Brenner-Gespräch (10): „Wer hat schon Ahnung von Kunst?“

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 10: der von seinem Stuttgarter Restaurant „Wielandshöhe“ und aus dem Fernsehen bekannte Koch, Autor, Literatur-, Bücher- und Jazzliebhaber Vincent Klink im Gespräch mit Thomas Wördehoff, dem Intendanten der Ludwigsburger Schlossfestspiele.

Thomas Wördehoff: Am Anfang stand ich vor einem echten Problem: Wie bereitet man sich am besten auf ein Gespräch mit einem Haubenkönig vor?

Vincent Klink: Echt?

T. W.: Bei Ihnen war das Verfahren schnell geklärt: Mit ein paar Jazz-Platten zur Einstimmung gestern Abend schien mir die erforderliche Lockerheit für unser kleines Kolloquium gewährleistet. Immerhin treffen wir uns in aller Frühe. Bei aller Entspanntheit: Sie sind ein total organisierter Mensch, so scheint es …

V. K.: Bin ich. Sonst geht’s nicht. Locker tun ist gut. Ich hab mir das ein bisschen abgeguckt: Erfolgreiche Künstler tun nur so, als wären sie locker. Nehmen Sie mal den Till Brönner oder den Dieter Ilg, die kommen so flockig daher. Dahinter steckt tägliches Üben, anders geht es gar nicht! Es gibt natürlich auch Künstler, die etwa 80 Prozent ihrer Kraft für die angemessene Außendarstellung verwenden, inklusive Pferdeschwanz und allem, was dazugehört. Für die künstlerische Arbeit bleiben da oft gar keine Ressourcen mehr.

T. W.: Neulich hab ich mir eine Dokumentation über Arno Schmidt angeschaut. Er selbst sah ja aus, als hätte er die Buchhaltung erfunden – muss aber tatsächlich penibelst organisiert gewesen sein, sonst hätte er diesen Wahnsinn nicht erzählen können.

V. K.: Der war ja nun ein Extrem. Ich habe zusammen mit Jan Philipp Reemtsma sein Haus in der Lüneburger Heide besichtigen dürfen. Der Schmidt war ja fast eine Vaterfigur für Reemtsma gewesen. Dieses Haus ist natürlich gedanklich ein Riesenkosmos – rein menschlich allerdings a very small world. So eng! Aber wenn man den Fokus enger dreht, kommt man gut auf den Punkt. Seine Sachen kann auch nur ein Pedant lesen.

T. W.: Haben Sie Zettel’s Traum gelesen?

V. K.: Ich und den Zettel lesen? Wer das liest, kommt ins Irrenhaus. Es soll allerdings Leute geben, die das überlebt haben. Aber: Arno Schmidt ist einfach eine gute Schule. Man kann den nur mögen, wenn man richtig diszipliniert ist und seinen Hirnkasten zum Vibrieren bringt. Wenn du etwa von Kühe in Halbtrauer nur zwei Seiten liest, dann hast du im Kopf so viel geschafft, als hättest du drei Bestseller gelesen. Das ist richtig gut für die Birne. Ähnlich ist es bei Musil. Den Mann ohne Eigenschaften sollte man stückweise lesen. Aber ich genieße jeden Satz. Bloß nicht nach der Handlung suchen! Die ganze Konstruktion ist so unendlich weiträumig angelegt. An jeder Seite hat man eine ganze Woche zu verdauen.

T. W.: Welche Rolle spielt der Jazz für Sie?

V. K.: Der Jazz ist ja im Grunde höhere Mathematik. Und trotzdem bietet er eine Menge Freiraum. Genau so empfinde ich das Kochen. Ich koche ja nicht nach Rezept, deshalb bin ich im Backen nicht so richtig fit. Beim Backen hab ich zu wenig Erfahrung, um das aus dem Ärmel schütteln zu können. Man muss ja was im Ärmel haben, um auch etwas herauschütteln zu können. Als wir vor zwanzig Jahren nach Frankreich gefahren sind, hab ich später die Sachen frei Schnauze nachgekocht. Nach einiger Zeit kriegt man dann ein Repertoire drauf. Deswegen ist der Jazz eigentlich mit meiner Kocherei identisch, auch wegen der Improvisation.

T. W.: Beim Kochen ist allerdings einer der Chef.

V. K.: Es ist absolut identisch. Ich bin hier der Bandleader in der Küche. Aber ohne meine „Musiker“ wäre ich verloren.

T. W.: Kriegen Ihre Mitstreiter auch ihre Soli?

V. K.: Na klar. Diesen brennenden Ehrgeiz von früher verliert man ja ein bisschen mit der Zeit, wenn der Erfolg eingesetzt hat. Und irgendwann hat man die Reife, die es gerne zulässt, dass ein anderer einem hilft. Außerdem kommt dazu, dass ich in einem Internat aufgewachsen bin. Dort wurde der sportliche Wettkampf übrigens ganz im Licht des Verlierens betrachtet. Das Verlieren lernen ist für mich der Sinn des Sports. Die Idee kommt aus England: Niederlagen gut verkraften zu können, kann man am besten im Sport vermitteln. Natürlich muss man auch gewinnen – dauernd zu verlieren ist ja auch blöd. Aber diese ständige Beschäftigung mit dem Fehlschlag ist ein wichtiger Bestandteil der jesuitischen Erziehung: stetige Erniedrigung und danach immer wieder Aufstehen – das empfanden die als gutes pädagogisches Modell. Das ist natürlich überholt, aber das Verlieren lernen hab ich von Kindheit an geübt. Genau das hat mich dann in die Lage versetzt, dass ich mich mit dem Pianisten Patrick Bebelaar auf die Bühne gestellt habe, ohne dass ich eine Tonleiter hätte ordentlich spielen können. Das ist Scheiße – jeder Auftritt ist eine Niederlage. Nur auf Grund meiner Ausstrahlung war das Publikum happy. Und ich habe davor täglich drei Stunden geübt, das half.

T. W.: Hochstapelei hat bei uns ja einen Ruf wie fauler Fisch. Sehen Sie das auch so?

V. K.: Ich sehe das auch so. Da bin ich vielleicht zu schwäbisch. Das, was man anbietet, sollte eigentlich der Erwartung standhalten. Ich schätze den umgekehrten Bluff, wenn der Kunde mehr kriegt, als er erwartet. Aber der Bluff, hinter dem rein gar nichts steckt – das ist einfach nur blöd.

T. W.: Sergej Eisenstein erzählte die Geschichte eines Komikers, der in einer Operette kurzfristig für einen Tenor einspringen musste. „Aber du kannst gar nicht singen!“, gaben seine Freunde aufgeregt zu bedenken. „Ach“, antwortete der Komiker ungerührt, „wenn ich einen Ton nicht schaffen sollte, dann spiel ich ihn halt mit der Hand!“

V. K.: Na klar, hinter diesem Bluff steckt ja Qualität. Ich hab da auch ein Beispiel. Mein Vater war Tierarzt, ein total bodenständiger Biertyp. Er war auch Präsident des Boxvereins Schwäbisch Gmünd. Dass ich da später mit meiner Riesennase auch trainieren musste, war eine Katastrophe, vor allem, weil ich ein eher schwächlicher Typ war. Mein Vater aber hatte immer Angst, ich würde schwul werden, weil ich mich für Kunst interessierte und sowieso eine Jammer­gestalt war. Heute kann man darüber lachen. Mein Onkel aber hatte einen 110 kg-Bierbauch, und man war nach Zürich zu einem Länderkampf gereist. Da passierte es: Der württembergische Starboxer konnte nicht antreten, er war total besoffen. Mein Onkel Conny hat gesagt: Ich mach das! Nun hatte der seit einem Jahr nicht mehr geboxt oder trainiert – Kondition null. Dem Conny war völlig klar, dass er nicht länger als eine Minute im Ring überstehen würde, und plusterte sich schon beim Wiegen mächtig auf: Wen er in der Vergangenheit alles zusammengeschlagen habe, dass er heut teuflisch gut in Form sei und vieles mehr. Conny beherrschte so eine Art Schattenboxen wie Cassius Clay – jedenfalls war der Kampf nach einer Minute zu Ende, der Schweizer Landesmeister hatte aufgegeben! „Noch eine halbe Minute – und ich wäre von selber umgefallen“, meinte Conny später zu uns. Mein Onkel war halt ein verdammt guter Schauspieler. Er hatte kraft seiner Persönlichkeit den Laden gerissen. Wenn man das auf das Kochen überträgt: Das perfekte Kochen funktioniert überhaupt nicht, wenn man es nicht schafft, dem Gast auch eine perfekte Illusion anzudrehen. Das reine Essen reicht nicht. Illusion muss dabei sein.

T. W.: Viele Restaurants schmücken ihre Teller reichlich mit Saucen-Mustern oder Kräuterarrangements, jeder Bäcker verkauft heute seine belegten Brötchen mit Salatblatt …

V. K.: … reine Illusionsnummer, Vitamine gleich null!

T. W.: Wie gestalten Sie Ihre Erzählung? Eine Illusion ist ja schließlich eine Art Erzählung, die man dem
Essen beimischt.

V. K.: Bei uns ist nicht so arg viel Illusion. Um diese zu verkaufen, muss man ja auch Illusionist sein. Und da bin ich nicht so perfekt, weil ich mich immer gern auf ein gutes Handwerk zurückziehe. Und je mehr man das macht, um so illusionsloser wird es. Wenn ich mir manche Kollegen angucke – die machen hier drei Pünktchen und dort einen Strich. All das löst im Kopf des Gastes die Idee aus: Hier geht es um Kunst! In diesem Moment ist der Gast verunsichert, wenn er nicht das nötige Hintergrundwissen hat. Aber wer hat schon eine Ahnung von Kunst? Das sind die wenigsten. Vielen Köchen wäre allerdings gut geholfen, wenn Sie den Satz verinnerlichen würden: Kunst sollte größtmögliche Reduzierung und Abstraktion sein. Es sollte also um das Gegenteil von Applikation und Beiwerk gehen.

T. W.: Ich frag mich halt immer: Darf ich mit dem Fleisch durch den Saucenstrich und die Pünktchen fahren oder mach ich dann alles kaputt.

V. K.: In erster Linie will man den Eindruck des Neuen vermitteln, eben eine Art Grundrauschen von Kunst. Über Tellerverzierung sollten wir aber gnädig schweigen, das ist zu bekloppt … Oswald Egger, ein Freund von mir, ist Autor bei Suhrkamp. Von dem, was er schreibt, verstehe ich kaum einen Satz. Wenn ich es meinen Literaten-Freunden zeige, sieht es ähnlich aus. Und dann kenn ich ein paar Leute, die nicht besonders helle sind, und die sagen: Das ist ja großartig! Was bei Suhrkamp veröffentlicht wird, kann schließlich kein Mist sein. Wenn aber ein Literat wie der Verleger Ulrich Keicher aus Warmbronn, ein ziemlich ausgekochter Fuchs in Sachen literarische Moderne, das toll findet – dann halte ich mal lieber die Schnauze. Vielleicht bin ich doch zu blöd. Das ist so ein Hin und Her.

T. W.: Oft genug, wenn ich mit Bekannten in die Oper oder ins Konzert gehe, bekomme ich am Ende auf meine Frage, wie es denn gefallen habe, die Antwort: Ich verstehe leider zu wenig von Musik. Darauf antworte ich meistens, ob ich denn etwas von Önologie verstehen müsse, damit sie mit mir noch einen Wein trinken. Ich finde, man sollte Musik, Literatur oder auch Küche vor seinem persönlichen biografischen Hintergrund beurteilen. Jeder hat das Recht Bob Dylan wichtiger zu finden als Schubert oder Janáček. Ich habe das Recht aufs Gegenteil. Muss ich etwas vom Kochen verstehen, wenn ich bei Ihnen esse?

V. K.: Die meisten wollen immer wissen, wie ich das mache. Wenn ich einen tollen Geiger höre, muss ich auch nicht wissen, wie der das macht. Wichtig ist nur eins: Man muss genussfähig sein. Ich hab beispielsweise eine Freundin, die studierte Konzertpianistin ist. Mit ihr kann ich unter keinen Umständen in ein Konzert gehen, weil sie sich sofort auf jeden Fehler stürzt, Fehler übrigens, die sonst kein Mensch hört. Das gibt’s bei mir im Lokal auch, Gäste, die nur darauf warten, dass zuviel Pfeffer verwendet wurde.

T. W.: Das ist die immerwährende Suche nach dem Perfekten und Absoluten, nach dem Makellosen, auf das man schließlich ein Recht hat.

V. K.: Und da kommt der sogenannte kritische Bürger ins Spiel. Mit dem Status des Klugscheißers kann man sich nach unten hin, zu den noch Dümmeren abgrenzen. Verflucht nochmal. Natürlich soll man kritisch sein. Das Wort, aus dem Griechischen, hat schwer was mit Unterscheiden zu tun. Dazu ist aber Wissen nötig. Was mir auf den Keks geht, ist diese aufgeregte Hallo-ich-bin-wichtig-Einstellung, die man oft auch bei Facebook findet. Die sogenannten sozialen Netzwerke sind inzwischen ein solcher Datensumpf von idiotischen Meinungen geworden, dass ich sicher bin, dass sich das auf Dauer von selbst lahmlegt. Im Grunde hänge ich ja einem Elite-Gedanken nach. Elite hat in Deutschland immer einen negativen Beigeschmack. Mit Elite sind auch nicht die Leute gemeint, die in irgendwelchen Bentleys oder Ferraris herumfahren – das sind zum Großteil eh Waffenhändler oder komische Typen und weiter gar nicht relevant. Ich spreche von der Elite des Kopfs und des Herzens. Von den Leuten, die sinnlich empfinden können.

T. W.: Ein französischer Spitzenkoch hat mir gegenüber mal die Höllenpforte seiner Seele geöffnet und die Ahnungslosigkeit seiner reichen Gäste in den galligsten Farben geschildert. Eigentlich hat er seine gutsituierten Kunden verachtet. Sie bewirten in der Wielandshöhe in Stuttgart täglich etwa hundert Besucher. Nehmen Sie den individuellen Gast geistig noch auf?

V. K.: Ja, absolut. Ich kann mir sogar die Gesichter merken von Leuten, die nach einem Jahr wiederkommen. Namen merk ich mir nicht, nur Gesichter. Es ist allerdings völlig illusorisch zu glauben, ich würde alle gleich lieben. Wenn aber Gäste erkennen, wie wir hier konzentriert arbeiten, dann finde ich das toll. Oder wenn sie es schätzen, dass wir hier beispielsweise keine Deko verwenden, um noch einmal darauf zurückzukommen – Deko ist im Moment das Schlimmste für mich überhaupt! Wir machen das Gegenteil. Man dekoriert ja nur das, was in sich nicht funktioniert oder nicht ausreichend ist. Das waren früher bei so Karren wie etwa Opel Rekord die Zierleisten – die mussten ran, vielleicht dazu noch ein Fuchsschwanz an die Antenne, wenn die Kiste sonst nichts hergab. Die Autoindustrie hat das inzwischen prima hingekriegt: Je teurer ein Auto ist, desto weniger ist dran. In der Malerei ist das auch so, und wenn sich in der Literatur einer verquast und den direkten Strang vernachlässigt, taugt auch das nichts. Das Weglassenkönnen spricht für große Meisterschaft.

T. W.: Eine der großen Errungenschaften der österreichischen Küche ist das Schnittlauchbrot. Nichts ist schöner zum Frühstück …

V. K.: … das schmeckt eigentlich den ganzen Tag lang, wenn Brot und Butter etwas taugen.

T. W.: Sie selber frühstücken mit einer Scheibe Brot von Ihrem Bäcker, gesalzener Butter aus der Normandie und einer Tasse Espresso. Vom Einfachen das Beste: Ist das das Vaterunser Ihrer Küche?

V. K.: Das ist das Schwierigste überhaupt. Das Stück Fleisch, das wir in der Küche zubereiten, ist so beim Metzger nicht zu bekommen. Das ist dann auch nicht vakuumiert, sondern es ist, was gerade so in Mode ist, dry aged. Ich hab nie was anderes gemacht, und als ich als junger Kerl in der Metzgerei gelernt habe, gab es noch gar kein Vakuumiergerät. Das Grundprodukt ist das Schwierigste überhaupt, gerade auch für den Laien, denn die meisten Leute wissen nun mal nicht, was richtig gut ist. Ich bekomme nächste Woche einen Sattelschlepper aus Sizilien, mit ungefähr einem Zentner Mandeln, einer alten Hartweizensorte, die es schon seit den Römern gab, Wein ist dabei, 1.000 Liter Olivenöl, Pistazien. Und da lerne ich auch ständig dazu. Wir verarbeiten bei uns pro Woche etwa zwei Kilo Mandeln. Die haben mir eigentlich nie richtig geschmeckt. Und ich hab mich gefragt, was die Menschheit – bis zurück in die Antike – an ihren verdammten Mandeln, diesem trockenen blöden Zeugs, so toll findet. Dann war ich Anfang November in der Nähe von Palermo in einem Tal, in dem nur Ökobauern arbeiten. Ich geh also zu einem Baum und pflücke mir eine Mandel, die hängen geblieben war, und fass es nicht: Jetzt bist du 65 Jahre alt und hast deine erste gute Mandel gegessen! Ich will damit verdeutlichen, wie schwierig es ist, an was wirklich Gutes zu kommen. Nächste Woche kommen auch zwanzig Kisten Orangen. Das hat mit den Orangen, die wir kennen, einfach nichts zu tun. Weil die am Baum gereift sind und nicht im Kühlhaus. Die Orangen werden ja normalerweise grün geerntet, dann schmeißen die Großhändler die Früchte in irgendwelche Kühlhäuser – und schon sind die Dinger orangefarben. In der Natur kriegen Orangen erst durch den Winter ihre Farbe, meistens so im Januar. Für den Laien ist es viel zu aufwändig, sich so was zu besorgen. Es gehört ein Grundwissen für die Zutaten dazu, aber auch Niederlagen. Was glauben Sie, was für einen Mist ich schon gekauft habe, wie oft ich mich geirrt habe!

T. W.: In diesem Jahr arbeiten Sie seit 40 Jahren als selbstständiger Koch. Was fällt Ihnen da zuerst ein?

V. K.: Dass ich in diesen 40 Jahren nicht ein einziges Mal am Strand gelegen habe. Weder in St. Tropez noch sonst wo. Es war immer die Frage: Wo ist die Kneipe, in der dieser Wunderknabe kocht? Da muss ich hin. Wo sind diese Bauern? Dann streif ich durch Sizilien. Hinter dem Vesuv ist eine Gegend, bei Torre Annunziata, da ziehen die Bauern fantastisches Gemüse. Oder: Wer in Wien ein Gulasch gegessen hat, weiß einfach, wo der Hammer hängt.

T. W.: Nur wer faul ist, lässt sich was Fortschrittliches einfallen, hat Ihr Vater gesagt. Stimmt das auch für Sie?

V. K.: Ja unbedingt. Nehmen Sie Gottlieb Daimler. Ich nehme an, dass der nicht gerne gewandert ist, sonst hätte er wohl nie das Auto erfunden. Er war einfach zu faul zu laufen. Um eine Gastronomie zu machen wie ich, muss ich eine gewisse Faulheit haben. Gewisse unbequeme Dinge müssen eben die anderen machen. Bei mir kommt noch was dazu: Ich bin einfach ein Genießertyp. Bei mir ist diese ganze Kocherei eine todernste Sache – das wird mit zunehmendem Alter immer schlimmer. Das ist die totale Leidenschaft. Und deshalb habe ich auch lauter Köchinnen und Köche um mich, die nicht cool sind, sondern richtig heiß. Die denken so wie ich. Da spielt Zeit keine Rolle, da spielt Geld keine Rolle. Ich hab zum Beispiel keine Ahnung, welche Kosten mit diesem Sattelschlepper aus Sizilien auf mich zukommen. Es muss einfach her, das Zeug.

T. W.: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie möglichst immer ganze Tiere kaufen, um auch die vergessenen Gerichte wiederzuentdecken. Das heißt, dass Sie sich besonders für jenes Fleisch interessieren, das in der Arme-Leute-Küche verarbeitet wurde. Über diese Methode finden Sie einen direkten Weg zur Geschichte und Identität unserer Kochkulturen.

V. K.: Wir leben in einer Epoche der Überfeinerung. Das Ende einer Kultur erkennt man immer an ihrer Überfeinerung. Sie führt dazu, dass die Wohlhabenden die edlen Teile wegessen. Die billigen Stücke sind immer sehr arbeitsintensiv. Deshalb ist zum Beispiel die römische Küche heute zu 80 Prozent eine Innereien-Küche. Warum? Weil der Vatikan die ganzen Filets wegfrisst. Es gibt ein berühmtes Gericht in Rom, das aus Kalbs- oder Lammdärmen besteht. Die Därme werden in Streifen geschnitten, gebraten und unter die Rigatoni oder Maccheroni gemischt. Das nennt sich Pajata – also ärmer geht’s nimmer! Diese Därme haben eine Art Kuttelgeschmack, wie Trippa alla romana halt. Das ist billig, schmeckt aber teuflisch gut. Wie das Herz oder das Kalbsgekröse. In all diesen Stücken ist wesentlich mehr Aroma als in einem Filet. Je weiter ich bei einem Tier ins Innere gehe, desto mehr Geschmack finde ich. Aber es gibt immer mehr Leute, die mit starken Aromen gar nicht klarkommen.

T. W.: In der Musik läuft das ähnlich. Alles, was viel Eigenaroma hat, wird erstmal gemieden.

V. K.: Das erklärt auch die Bedeutung von Easy Listening. Der Name sagt schon alles: Wenn einer nicht mehr zuhören kann – mit Easy Listening kriegt er es gerade noch hin. Deshalb ist auch manches Restaurant in der Spitzengastronomie mit Easy Listening zu vergleichen. Beim Wein ist es das gleiche. Die ganze moderne Richtung für die Weinkultur kommt aus den USA: immer mehr Alkohol in winzigen Portionen für Degustationszauderer. Aber ein Weinkenner wünscht sich ja von einem guten Tropfen einen gewissen Widerstand, der mit zwei Schlückchen nicht zu überwinden ist. Es ist wie in der Musik: Eine Musik, bei der man beim zweiten Ton schon dahinschmilzt, halte ich nicht lange durch. Man braucht die Steigerung, man muss sich in die Materie einleben. Und beim Kochen vertrete ich das auch: Ich kann diese Amuse-Gueule-Küche nicht leiden. Man isst ein Löffelchen von irgendwas, dieser Vorgang wiederholt sich dann verschiedenartig zwanzigmal. Als würde man stundenlang die Instrumente stimmen – und das Konzert beginnt nie. Da ist mir eine ordentliche Portion Rehbraten lieber, bei dem ich am Schluss Aromen erfahre, die ich beim ersten Bissen noch gar nicht registriert habe.

T. W.: Das hat sicher auch mit der Genussfähigkeit der Gäste zu tun. Oder mit der Liebesfähigkeit: Wie sehr ist jemand bereit, sich auf Ungewöhnliches, Neues einzulassen?

V. K.: Sich einzulassen reicht nicht, man muss sich hineinschaffen ins Neue, ins gewisse Aroma. Die Entwicklung ist insgesamt aber gar nicht so schlecht, jedenfalls, was das Essen angeht. In der Kultur ist es problematischer. Das sieht man schon daran, dass komplexere Formen ohne Mäzenatentum – sei es von privater oder staatlicher Seite – gar nicht mehr existenzfähig sind. Beim Essen gibt’s kein Mäzenatentum, aber das Publikum hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Die Leute erkennen inzwischen an, dass ein gutes Zitroneneis aus echten Zitronen nicht so günstig verkauft werden kann wie das Kunsteis aus der Packung. Die Nische ist dennoch klein: Wir haben in Deutschland rund 80 Millionen Einwohner, da gibt es etwa 500.000 Leute, die beim Essen relativ gut durchblicken. Und es gibt vielleicht zusätzlich eine Million, die sich auch noch ein bisschen Mühe gibt. Dem Rest ist es egal, aber diesen Rest will ich auch nicht missionieren.

T. W.: In den restlichen Bereichen läuft es nicht ganz so rund.

V. K.: Und da fängt der Untergang unserer Kultur an: Nur das wird noch estimiert, was Ertrag bringt, was sich rechnet. Wenn Kunst den Bach runtergeht, dann geht am Ende auch meine Arbeit unter.

 

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