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„Heimat ist alles“

Die Frauen und Männer auf der Bühne sind zwischen 78 und 92 Jahre alt. Sie erzählen von „der Option“, jenem Ereignis in der Geschichte Südtirols, das bis heute nachwirkt. Eine zeitgeschichtliche Recherche, ein Theaterprojekt – und die Hintergründe. Von Elisabeth Thaler und Alexander Kratzer

„Der Hitler hat uns verkauft“ – mit diesen Worten beschreiben viele Südtirolerinnen und Südtiroler den Umsiedlungsvertrag, den Hitler und Mussolini 1939 unterzeichnet hatten und der unter dem Schlagwort „Option“ in die Geschichte eingegangen ist. Damit wurden knapp 235.000 Südtiroler vor die Wahl gestellt, im faschistischen Italien zu bleiben oder ins nationalsozialistische Deutsche Reich auszuwandern. Die bis dahin einheitliche deutsche Bevölkerung Südtirols spaltete sich in Optanten und Dableiber. Eine Entscheidung musste gefällt werden, „für da oder für aussi“. Eine Zeitzeugin erinnert sich an den letzten Wahltag:
„Am Silvestertag ist der letzte Wahltag gewesen. Sie hat Nachtmahl gerichtet gehabt, die Mutter. Sagt sie: Endlich, jetzt ist dieser Tag auch herum. Jetzt wird man doch bald die selige Ruh haben, hat sie gesagt. Nachher haben sie die Mutter halt doch noch überredet, dass sie ein wenig etwas anderes angezogen hat und das Ross gerichtet und hineingefahren und … wählen, mit hartem, mit schmerzendem Herzen. Dann hat sie gesagt: Morgen ist Neujahrtag, ist immer eher ein Festtag gewesen, aber morgen bin –, kann –, steh –, kann ich nicht mehr aufstehen.“

2014 – 75 Jahre später kommen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen noch einmal zu Wort. Rund um das Theaterprojekt „Option. Spuren der Erinnerung“ der Vereinigten Bühnen Bozen erzählen Menschen von ihren Erinnerungen. Sie waren Kinder und junge Erwachsene, als die Geschichte ihr Leben prägend beeinflusst hat. Bilder, Gefühle und einschneidende Momente haben die Jahre überlebt in den Köpfen und Herzen vieler Südtirolerinnen und Südtiroler.

Über einen Aufruf in den Medien im Juni 2013 suchten die Vereinigten Bühnen Bozen Menschen, die bereit waren, über die grausame und schwere Zeit der Option zu sprechen. Kurze Zeit später kam ein Anruf nach dem anderen. Frauen und Männer brachten zum Ausdruck, wie wichtig es ihnen sei, die nächsten Generationen an ihrer persönlichen Geschichte teilhaben zu lassen. Dass die Erlebnisse der Optionszeit noch stark in den Menschen präsent ist, zeigte sich auch daran, dass sie bereits am Telefon zu erzählen begannen: von den inneren Kämpfen, was wohl die richtige Entscheidung sei, wie sie rausgefahren seien ins Ungewisse, mit welchen Schikanen sie konfrontiert gewesen seien hier und draußen, wie sie ohne Papiere und unter Lebensgefahr nach dem Krieg wieder über die Grenze geflüchtet seien, um heimzukommen. Klare Sätze, leise Stimmen, lange Pausen – es war spürbar, dass etwas in Bewegung gesetzt wurde.

Ein Mann berichtete am Telefon sehr konfus, unzusammenhängend und sprunghaft von Erinnerungen an die damalige Zeit. Monate später besuchte ein Team des Theaters gemeinsam mit Historikern der Universität Innsbruck diesen Zeitzeugen auf seinem Hof. Begrüßt wurden sie von der Frau mit den Worten, ihr Mann leide an Demenz. Sie wisse nicht genau, warum er sich überhaupt auf diesen Aufruf gemeldet habe, es scheine ihm wohl wichtig zu sein, man solle sich aber nicht zu viel erwarten, er könne keine klaren Zusammenhänge mehr herstellen. Die Kamera wurde aufgestellt, das Gespräch begann und der Mann antwortete eine Stunde präzise auf Fragen, erzählte von seinen Kriegserlebnissen und davon, wie zur Zeit der Option jeder Baum, jeder Hof geschätzt werden musste, falls es zur Auswanderung käme und der Besitz ausbezahlt werden müsse. Der Wunsch, sich zu erinnern und mitzuteilen, hat für kurze Zeit die Krankheit überwunden, er wollte Zeugnis ablegen, und es ist ihm gelungen.

Die über 60 Besuche bei Zeitzeugen in ganz Südtirol, aber auch in Nordtirol, Linz und Wien gestalteten sich spannend und emotional. Alle wurden zu Hause interviewt. Die gewohnte Umgebung, die heimelige Atmosphäre erleichterte vielen das Sprechen über ein Thema, das Jahrzehnte totgeschwiegen wurde. „Wir haben einfach nicht mehr darüber geredet. Nach dem Krieg hieß es Aufbauen, Zusammenhalten. Es hätte nichts gebracht, sich weiterhin zu bekämpfen“, so die Aussage von vielen. Bis heute spricht man wenig. Die Kluft zwischen Optanten und Dableibern sei auch jetzt noch zu spüren, so eine Dableiberin. „Man grüßt sich in der Stadt, aber man spricht nicht miteinander.“

Der Riss ging nicht nur durch Dorfgemeinschaften und Freundschaften, er ging vielfach auch durch die eigene Familie: „Und dann ist schon eigentlich in der Familie … Die Brüder haben sich lassen aufreden fürs Hinaus. Und der Vater und die Eltern, die sind halt fürs Hinaus nicht einverstanden gewesen. Ich weiß noch, ich weiß noch genug wie der Vater gesagt hat: Nein, haltet doch noch zu uns. Und zieht nicht weg von daheim! Bleibt! Aber da sind halt mehr solche Buben gewesen, die sich aufreden haben lassen. Und wie diese Wahlen dann … Da ist ein Durcheinander geworden dann in den Familien. Ein richtiges Durcheinander in den Familien.“

Oft hielt das Schweigen zwischen den Generationen ein Leben lang an. Zeitzeugen berichteten von Vätern, die bei der Hochzeit der eigenen Tochter nicht anwesend waren, von Geschwistern, die zeitlebens kein Wort mehr miteinander wechselten, und von Familientreffen, die immer wieder in harten Diskussionen endeten. Viele Wege trennten sich, der Schmerz blieb. Manchmal kam er beim Erzählen sichtbar zum Ausdruck, manchmal im Stillen.

Ein Ehepaar mit sehr unterschiedlichen Erinnerungen an die damalige Zeit meldete sich. Am Tag des Besuches war der Mann erkrankt und die Frau – eine Dableiberin – erzählte ruhig und in klaren Bildern von Anfeindungen im Dorf, als sie nur noch „walsch“ gegrüßt wurden, vom Ausgegrenztsein, wenn die Schwester als einzige keine Lilie bei der Erstkommunion mittragen durfte, und vom Schmerz des Vaters, als die Kundschaft ausblieb, denn „Nähen lassen wir bei einem walschen Schneider nix mehr, das ist jetzt aus.“ Nach dem Gespräch kam der Mann doch noch aus dem Zimmer, erzählen wollte er jedoch nicht. Während die Mutter und ihre Töchter redeten und scherzten, hielt die laufende Kamera einen Moment fest, der berührte: Der Mann schaute lange auf ein Blatt Papier, auf dem Stichworte über die Optionszeit notiert waren. Er war in seine Gedanken vertieft, bekam nicht mehr mit, was rund um ihn passierte, und sichtlich bewegt kamen Erinnerungen hoch. Auch wenn sie unausgesprochen blieben, erzählten diese Momente ebenso viel wie Worte. Sie auszuhalten, stehen zu lassen, nicht zu unterbrechen, war auch die Kunst der Interviewer. In den vielen stillen Momenten bauten die Zeitzeugen Brücken zu Geschichten, die kein Fragender je entdeckt hätte. Manchmal konnte man „zusehen“, wie Filme im Inneren vorüberzogen, und man hätte viel gegeben, einen kurzen Einblick in diese Bilder zu erhaschen. Einprägsam war ein langer stiller Moment einer Zeitzeugin, an deren Ende sie nur das Wort „Friede“ sprach –
es fasste wohl alles zusammen, was sie bewegte.

Sehr präsent ist vielen Rücksiedlern und Nichtrückoptanten der Tag des Abschiednehmens. „Für uns Kinder ist es nett gewesen, mal aussi zu fahren, auf einen Wagen aufsitzen wie ein Ausflug heute für junge Leute.
Das hat sich dann schon geändert.“ Ein Abenteuer war es meist für die jungen Menschen, aufregend, neu, spannend. Nicht der eigene Schmerz machte ihnen zu schaffen, sondern vielmehr der Schmerz der Eltern. Die Kinder haben das „Warum“ nicht verstanden, aber sie haben gespürt, dass diese Reise keine positive war. Unvergessliche Erinnerungen spiegelten dieses Gefühl wider:
„Ich sehe meinen Vater Möbel zerschlagen.“
„Die Mutter war die ganze Reise neben sich vor lauter Schmerz. Rotz und Wasser hat sie geheult.“
„Was ich jetzt weiß und immer schon wusste, war mein Blick bei der letzten Kurve aus dem Eisenbahnfenster –
irgendwie – trotz meiner kindhaften Naivität, hat es mir weh getan. Brixen siehst du nicht mehr. Das weiß ich noch.“
Jenseits des Brenners zerplatzte der Traum: kein großer Empfang am Bahnhof, kein einheitliches Siedlungsgebiet, keine großen Bauernhöfe. Man hatte davon geträumt, in die Heimat zu gehen, und kam in der Fremde an. Die eigens für die Auswanderer erbauten „Südtiroler Siedlungen“ waren den Einheimischen oft ein Dorn im Auge.

Was ist Heimat? Diese Frage stand am Ende eines jeden Interviews. „Heimat ist alles“, war die häufigste Antwort. HEIMAT – mit diesem Wort endete auch der Theaterabend in Bozen, wo 10 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Teile ihrer Geschichte live erzählten. Dableiber, Optanten, Rücksiedler und ein Nichtrückoptant saßen gemeinsam auf der Bühne und ließen das Publikum teilhaben an ihren Erinnerungen. Fünf Schauspieler traten in einen Dialog mit den Menschen auf der Bühne. Anderen Erzählungen von Zeitzeugen liehen sie ihre Stimmen.
Die Probenarbeit war eine ganz besondere. Natürlich wurden Zwischenszenen – aus Interviews transkribierte Montagen und historisches Material – „normal“ im Theater geprobt, die verschiedenen Puzzleteile wie Musik, Szenen und Zeitzeugenberichte auf der Bühne zusammengesetzt. Um für die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eine möglichst vertraute Atmosphäre auf der Bühne zu schaffen, haben die Schauspieler und der Regisseur sie einige Male besucht. Man hat miteinander gekocht, Ausflüge unternommen oder einen Abend miteinander verbracht. Dabei sind sehr vertrauliche, herzliche und freundschaftliche Beziehungen entstanden, die in der Folge ein offenes Miteinander auf der Bühne ermöglicht haben. Bei all diesen Begegnungen kam es zu lustigen, manchmal auch ergreifenden Situationen.

Bei einem Ausflug erzählte eine Zeitzeugin mit Blick auf ein Bergmassiv im Vinschgau, dass sie alle Berge hier kenne, überall oben gewesen sei, aber bei der Wand da oben: „Da hab ich das einzige Mal in meinem Leben Angst gehabt!“ Als die Dame im Probenraum mit herrlichem Blick auf den Rosengarten erzählte, dass sie auch all diese Gipfel bestiegen hätte und in einer Rinne in Not geraten sei und Angst gehabt habe, fragte sie der Regisseur, ob die einzige Angst nicht damals im Vinschgau aufgetreten sei. Ihre lapidare Antwort: „Im Vinschgau hatte ich Angst. Da in der Rinne war ich nur in Lebensgefahr. Tun Sie mir das nicht verwechseln, junger Mann!“

Einer der Zeitzeugen machte einen Spaziergang durch seinen Geburtsort, zeigte dem Schauspieler die Plätze seiner Kindheit. Zwischen den beiden entstand eine schöne Männerfreundschaft, in der man sich auch Geheimnisse anvertraut. So sagte der Herr einmal: „Könnte ich noch einmal von vorn anfangen, würde ich zum Theater gehen. Ich würde hineingehen in das Theater da und die erste Frau, die mir begegnet, würde ich sofort heiraten. Alle da sind so nett! Und ich hab immer gedacht, die Leute vom Theater sind nur Spinner. Man darf einfach keine Vorurteile haben!“
Der Herr kann auf eine über 70-jährige Mitgliedschaft beim Chor seines Dorfes zurückblicken. In all den Jahren hat er nie eine Probe ausgelassen. „Nur wegen dem Krieg. Aber jetzt hab ich gesagt, im Feber müssen sie ohne mich auskommen. Ich hab jetzt eine neue künstlerische Richtung.“
Auf der Bühne erzählte er dann die Geschichte, wie bei seinem Heimathaus die Fenster eingeschlagen wurden, weil er aus einer Dableiberfamilie stammte. Die Urheber des Attentats waren ihm unbekannt. Es gab nur Vermutungen. Bei der letzten Vorstellung berichtete er aber: „Heute nach der Kirche hat mich einer angeredet. Er hat das Theater da gesehen und mich gefragt, ob ich wirklich nicht weiß, wer mir die Fenster eingeschlagen hat damals. Und dann hat er mir gesagt, wer es war. Meine Vermutung, die ich über 70 Jahre gehabt habe, war falsch. Es war jemand anderer. Zum Glück hab ich nie einen Namen gesagt.“

Ein anderer Herr, sportlich und auch sonst noch sehr aktiv, hat irgendwann angekündigt, dass er bei den letzten zwei Vorstellungen leider nicht dabei sein könne, da er zu einem Meeting des Internationalen Olympischen Komitees nach Genf fahren müsse. Ein paar Tage vor dem Termin antwortete der Herr auf die Frage, wie es denn ausschaue mit den letzten Vorstellungen: „Ich bleib da! Das lass ich mir nicht entgehen!“
Da dieser 80-jährige Zeitzeuge noch aktiver Schifahrer ist, schlug der Regisseur als Aktivität zum Kennenlernen einen gemeinsamen Schitag mit dem Schauspieler vor: „Das machen wir nicht! Beim Schifahren tut man Schifahren. Da kann man nichts erzählen. Auf dem Lift sind fremde Menschen. Da kann man nichts erzählen. Und in der Hütte tut man essen. Da kann man auch nichts erzählen. Wir machen einen kleinen Spaziergang. Da kann man erzählen. Drei bis fünf Stunden. Ziehen’s gute Schuh an!“ Als wir ihm den doch recht zeitaufwändigen Probenplan vorlegten, sagte er: „Laienfrage. Machen wir da jeden Tag dasselbe? Ist das wirklich notwendig?“

Wir fragten eine Dame aus Brixen, ob sie denn bereit wäre, bei unserem Projekt mitzumachen. Sie erbat sich ein paar Tage Bedenkzeit, dann meinte sie: „Das wird sicher sehr anstrengend. Mein Kopf sagt nein. Mein Herz sagt ja. Ich habe in meinem Leben gelernt, dass man auf sein Herz hören sollte. Ich glaube, danach werde ich glücklich sein.“ Also hatten wir die Zusage. Als die Dame aber den Zeitplan für die Vorstellungen sah, tauchte ein neues Problem auf: „Wir spielen um 20 Uhr? Das geht nicht. Um halb acht stelle ich das Radio zum Bett, höre Nachrichten und um acht schlafe ich schon. Kann man das den Menschen nicht erklären und ein bisschen früher anfangen?“
Wir haben die Zeitzeugin öfters besucht, fuhren über die Autobahn von Bozen nach Brixen. Einmal, es war schlechtes Wetter und schneite leicht, begrüßte sie uns mit den Worten: „Bin ich froh, dass ihr heil angekommen seid! Ihr müsst durch diesen gefährlichen Lawinenstrich fahren. Alles nur wegen mir! Kommt rein, wärmt euch auf!“ Dann galt es noch einige Fragen über die Formulierungen, die man auf der Bühne benutzen darf, zu klären: „Wenn ich sag die ,Walschen‘, das geht nicht.“ – „Aber damals hat man das doch so gesagt.“ – „Ja schon, aber wenn da ,Walsche‘ im Publikum sitzen und ich sag ,Walsche‘, dann kommen die Carabinieri und verhaften mich.“ – „Wir garantieren Ihnen, dass das heutzutage nicht mehr passiert.“ – „Glauben Sie? Aber einen schwarzen Punkt bekomm ich. Das ist sicher!“ Die Dame hat schließlich am Projekt teilgenommen, ist jeden Tag durch den Lawinenstrich gefahren, hat sich im eigens aufgestellten Bett in der Garderobe vor den Vorstellungen ein bisschen ausgeruht und hat an manchen Abenden doch „Walsche“ gesagt, ist nicht verhaftet, sondern für ihren Charme vom Publikum sehr geliebt worden.

Eine weitere besondere Begegnung hatten wir auch mit einer Frau aus Bozen, einer Rücksiedlerin. Wir besuchten sie in ihrem kleinen Häuschen, das früher einmal auf freiem Feld stand. Wir standen im Garten. Ringsherum wurden in den letzten Jahren Wohnblocks errichtet: „Da wohnen 5.000 Leute und da 3.000.“ – „Wie geht es Ihnen damit?“ – „Das sind alles Menschen, die brauchen einen Platz zum Leben. Viele davon sind Ausländer. Die sind nicht freiwillig hier. Mit denen muss man freundlich sein, ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man entwurzelt ist. Da drüben hab ich eine italienische Freundin und in dem Haus dort eine albanische. Die kommen jeden Mittwoch zu mir.“ – „Und was machen Sie dann?“ – „Was werden wir schon machen? Kaffee trinken und quak quak quak!“
Wir waren im Spätsommer in ihrem Garten, sie bedauerte, dass sie wegen der Mücken den Garten nicht mehr so nützen könne. Gutgemeinter Tipp unsererseits: „Es gibt so Mückensprays, dann stechen sie nicht so viel.“ – „Das wollte ich immer schon kaufen. Aber es wird immer vergessen. Das Alter!“ – „Wird man im Alter vergesslicher?“ – „Ja das merke ich schon sehr. Vor allem bei meiner Tochter! Die geht jetzt dann in Pension und kann sich gar nichts mehr merken. Den Mückenspray vergisst sie immer!“
Bei den Proben war es für sie manchmal ein Problem, dass sie nicht mehr alles gut verstand. Ihre Kinder drängen schon seit Jahren darauf, sie möge sich ein Hörgerät zulegen. „Aber ich hab mir immer gedacht, ich alte Schachtel brauch das nicht mehr. Aber jetzt geht es mir auf die Nerven. Und wie ich jetzt seh, werde ich ja noch gebraucht, deshalb kauf ich mir jetzt so ein Ding. Wer weiß, was das Leben noch für Überraschungen für mich hat. Die will ich nicht überhören!“ Die Dame erzählte während der Vorstellungen, dass sie mehr als 70 Jahre über traumatische Erlebnisse geschwiegen hätte: „Und jetzt, hier, hab ich endlich den Mut, darüber zu reden.“
Eine weitere Dame war sich nicht sicher, ob ihr die Vorstellungsreihe nicht zu anstrengend, oder wie man in Südtirol sagt, „zu streng“ werden würde. Also haben wir uns gemeinsam mit dem Plan hingesetzt. „Die Hauptproben sind ausverkauft. Mit Schülern.“ – „Da komm ich. Junge Leute sind mir wichtig.“ – „Dann haben wir Premiere.“ – „Da bin ich natürlich dabei! Das ist ja klar!“ – „Dann haben wir am Sonntag eine Nachmittagsvorstellung. Um 17 Uhr.“ – „17 Uhr? Das ist kein Problem.“ – „Dann am Dienstag und Mittwoch Schülervorstellungen um 10 Uhr.“ – „Junge Leute sind mir wichtig, das hab ich doch schon gesagt.“ – „Am Donnerstag ist dann wieder Vorstellung um 20 Uhr.“ – „Das heißt, ich kann mich von Mittwoch mittags bis Donnerstag abends ausruhen. Die mach ich auch!“ – „Freitag ebenfalls um 20 Uhr.“ – „Da komme ich nicht.“ – „Am Samstag ist dann wieder um 20 Uhr. Die letzte Abendvorstellung.“ – „Da komme ich dann wieder.“ – „Am Sonntag dann die letzte Vorstellung um 17 Uhr. Derniere. Das ist was Besonderes!“ – „Das ist kein Problem, 17 Uhr ist eine gute Zeit.“ – „Das heißt, zusammengefasst, Sie kommen nur am Freitag nicht.“ – „Schauen wir mal!“ Sie hat dann an allen Vorstellungen teilgenommen und war auch bei den Nachbesprechungen mit den Schülern anwesend!

Natürlich haben wir auch Menschen angefragt, die uns abgesagt haben: „Nach Bozen am Abend? In die Stadt? Das ist mir zu unheimlich mit all den komischen Vögeln auf den Straßen.“ Oder: „Wo ist dann dieses Theater? In Bozen? Nein, da komm ich nicht. In Bozen war ich schon.“
Am Ende standen dann doch 10 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf der Bühne. Alle haben jeden Abend einen Teil ihrer Lebensgeschichte erzählt. Und alle –
die Zeitzeugen, die Schauspieler, die Musiker und die anderen Beteiligten – haben jeden Abend genossen und sind mit Standing Ovations belohnt worden. Nach der letzten Vorstellung meinte eine Zeitzeugin: „Und was ist morgen? Was mach ich denn da?“

Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen halten untereinander Kontakt, telefonieren, schreiben sich und schicken sich kleine Geschenke. Auch die Schauspieler werden angerufen. Und im Herbst gibt es auf Grund des großen Erfolgs noch einmal ein paar Vorstellungen von „Option. Spuren der Erinnerung“.

 

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