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Diese gezackte Linie Landvermessung
No. 4, Sequenz 4
Vom Gschnitztal nach Sterzing

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns nun auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen bis ins Trentino führt. Linda Stift wird von dem Skifahrer Christof Innerhofer angelächelt, lässt andere Frauen bergsteigen und kauft schlussendlich doch keine Bialetti-Espressokanne.

Meine Reise beginnt „unten“, in Sterzing in Südtirol, und führt dann nach Gschnitz, Tirol, „hinauf“.

Sterzing, 1. Tag
Akklimatisierung durch mehrmaliges Auf- und Abgehen in der Fußgängerzone der Sterzinger Altstadt, dem historischen Zentrum – immerhin ist Sterzing mit 948 Höhenmetern eine der höchst gelegenen Städte in den Alpen. Die lange Einkaufsstraße ist unterteilt in eine Città Vecchia und eine Città Nuova, der Zwölferturm birgt den Durchgang zur Neustadt, die sich von der Altstadt architektonisch nicht unterscheidet. Da wie dort: hübsche Bürgerhäuser mit Giebeln, Türmchen, Fresken und Maschen. Nein, Maschen nicht gerade, aber die Fassaden sind aufgehübscht mit frischen Farben und neu lackierten Holzbalken, wie in einer Kulisse für einen Märchenfilm. Die Häuser wurden im 15. Jahrhundert errichtet oder umgebaut, nach patrizischem Vorbild, denn die Silberminen im Wipptal brachten den Wohlstand nach Sterzing. Durch die günstige geographische Lage war Sterzing seit dem 13. Jahrhundert ein viel besuchter Markt- und Handelsplatz.
Jedes Haus hat im Erdgeschoss ein Geschäft oder ein Lokal (oder mehrere), kein Raum steht leer. Souvenirläden, Sportbekleidung, Optiker, Boutiquen, Schuhgeschäfte, Haushaltswarenparadiese mit Auslagen voller Espressokannen in allen Größen und Farben – jedem Italiener und jedem Touristen seine Bialetti (wenn ich nicht schon drei Bialettis zu Hause hätte, hätte ich eine gekauft, eine ferrarirote für drei Tassen, und eigentlich hätte ich sie doch kaufen sollen, denke ich während des Schreibens), Trafiken, Papier- und Spielzeuggeschäfte, Bäckereien und kleine Lebensmittelgeschäfte, alles da.
Der jahrhundertealte Sterzinger Sog zum Konsum erfasst auch mich. Ich shoppe: ein neues Armband für meine Uhr (das alte war brüchig und an den Seiten „abgenagt“) und eine Batterie, eine weiße Keramiktasse in Knitterästhetik (ich brauche immer eine neue Tasse, wenn ich unterwegs bin), einen schwarzen Plastiklöffel, zehn Deka Schinken, ein Ciabattino und drei Joghurts (Vanille, Kaffee, Kirsche), rote, mit Fleece gefütterte Wollhandschuhe in Norwegermuster, mit abgeschnittenen Fingern und einer Klappe, die man über die Finger ziehen und auf diese Art Fäustlinge daraus machen kann, eine Wintersonnenbrille und ein Buch von Reinhold Messner: On Top, Frauen ganz oben. Und, leider, keine Bialetti in ferrarirot.

Was auffällt: Gegen Nachmittag sind zunehmend Menschen im Skianzug und in Skischuhen unterwegs. Aber ohne Skier. Sie flanieren. Sehen sich die Auslagen der Sport- und Dessousgeschäfte an oder setzen sich in ein Straßencafé und trinken Cappuccinos. Aber warum ziehen sie nicht andere Schuhe an, wenn sie die Skier schon losgeworden sind? Das Gehen mit den Skischuhen muss mühsam sein. Sind nur die Skier geborgt und nicht die Schuhe? Ein Rätsel für mich Nicht-Skifahrerin. Wenigstens fühle ich mich in meinen plüschgefütterten und geschnürten Eskimoboots nicht mehr fehl am Platz (wie Stunden zuvor am Innsbrucker Bahnhof, der von Passanten in polierten Lederschuhen und feinen Wollmänteln bevölkert war), obwohl in der Altstadt kaum Schnee liegt (auch nicht in der Neustadt).
Pause in einem Café: 1 Pizzaschnitte, ½ Liter Wasser aus den Dolomiten, 1 Apfelstrudel (interessant: der Teig ist kein Strudelteig, sondern eine Art Mürbteig), 1 Cappuccino. Die Pizzaschnitte schmeckt ausgezeichnet und der Apfelstrudel sowieso. Der Cappuccino hat eher französische Café-au-lait-Ausmaße, ist aber stark wie in Sizilien.
Aus dem „Südtirol Magazin“ lächelt mir der Südtiroler Skirennläufer Christof Innerhofer zu, nur mit einem Slip bekleidet, er modelt nebenberuflich für eine italienische Unterwäschefirma. In Sotschi hat er sich vor einigen Tagen im Rennanzug Silber und Bronze geholt.

Ich schließe die erste provisorische Vermessung der Sterzinger Fußgängerzone ab und gehe in mein Hotel, das eigentlich ein großer Gasthof mit Fremdenzimmern ist. Vermutlich bin ich der einzige Gast, der nicht zum Skifahren hier ist. Die Sprossenwand in meinem Zimmer gibt mir ein Rätsel auf. Ich versuche mich draufzuhängen, um meinen Rücken zu entspannen, aber sie scheint etwas locker zu sein. Ich fädle meinen Schal zwischen die Sprossen und komme damit dem Rätsel auf die Spur. Es handelt sich nicht um ein Turngerät, sondern dient der Trocknung von nasser Skibekleidung.
Die Lebensmittel stelle ich außen auf die Fensterbank zum Kühlen, die übrigen Schätze breite ich auf dem Bett aus und beginne im Messner-Buch zu lesen.
Es geht um die Pionierinnen im Bergsteigen, die ersten Frauen, die sich auf die höchsten Berge gewagt haben, anfangs mit Hilfe ihrer Männer, bald allein und unabhängig. Zuerst noch in langen mehrschichtigen Röcken, bald in Pumphosen. 1838 stand die zweite Frau auf dem Gipfel des Mont Blanc, die erste, Marie Paradis, wurde 30 Jahre zuvor mehr schlecht als recht hinaufgebracht, zählt also nicht ganz. „Mitten am Berg, zwischen Schneefeldern und Gletscherspalten überkam sie die Bergkrankheit. Marie Paradis warf sich in den Schnee, weinte, schrie hysterisch. Sie wollte nie wieder aufstehen. Ihre Führer aber trugen, zogen, ja schleppten sie auf den Gipfel. Ob sie wollte oder nicht, sie musste hinauf! […] Marie Paradis sah die Gipfel, die zuletzt unter ihr lagen, nicht. Sie hielt die Augen geschlossen, sprach nicht, atmete schwer.“ 1
Die Französin Henriette d’Angeville hingegen hatte es aus eigener Kraft geschafft und gönnte sich am Gipfel ein Gläschen Champagner. Interessant, was ihre Karawane alles den Berg hinauftragen musste, unter anderem: „24 Hühner, 18 Flaschen Bordeaux, ein Fässchen Wein und viel Suppe“. 2 Man ließ es sich gutgehen, so nahe dem Himmel.
Aus meinem Fenster sehe ich mit Schnee bedeckte Bergzüge, nach meiner Berechnung müsste es der 2.189 Meter hohe Rosskopf sein, der „Haus- und Freizeitberg“ der Sterzinger, mit der längsten beleuchteten Rodelbahn Italiens (9,6 Kilometer). Im Italienischen hat er seinen Kopf verloren, er heißt nur noch Monte Cavallo. Für die ersten Alpinistinnen war der Rosskopf wohl nicht mehr als ein sanfter Hügel zum Spazierengehen, dessen Gipfel im Sommer sogar begrast ist und der zu Decke und Picknickkorb einlädt.
Für mich ist er nur ein Ausblick, den Rosskopf werde ich nicht besteigen, auch nicht berodeln, ich plane für den nächsten Tag einen Spaziergang rund um Sterzing, denn die Berge sind mir unheimlich, ich kann Marie Paradis gut verstehen, die Vorstellung, auf einem Gipfel zu stehen und hinunter auf die Welt zu schauen, rundherum nichts zum Festhalten oder Anlehnen außer einem wackeligen Gipfelkreuz vielleicht, das verursacht mir Schwindel. Wäre es Sommer, würde ich mich hinaufwagen, denn der Aufstieg soll moderat sein, aber mit einer Rodel zehn Kilometer den Berg hinunterzurasen, das kann niemand von mir verlangen. Auch Gondelfahrten sind mir unangenehm, der Mensch wurde nicht dafür gemacht, in einer winzigen schwebenden Kabine auf einen Berg gezogen zu werden, und das weiß auch mein Körper. Vermutlich leide ich unter Höhen- und Geschwindigkeitsangst, wobei ich nicht finde, dass „die Angst der Situation gegenüber unangemessen ist, da keine oder nur geringe objektive Gefahr besteht“ 3. Im Gegenteil. Ich finde, die Angst oder besser der Respekt und die Fassungslosigkeit, die ich dieser Art von Natur gegenüber empfinde, sind durchaus angemessen, und die Gefahr besteht offensichtlich. Überhaupt ist die rasche Pathologisierung von Ängsten eine Anmaßung, dagegen haftet dem Begriff „Bergkrankheit“ fast etwas Liebevolles und Fürsorgliches an, denn diese Krankheit kann jeden treffen und die Heilung ist einfach: Runter vom Berg. Phobien aber müssen langwierig psychotherapeutisch oder / und medikamentös behandelt werden.

Sterzing, 2. Tag
Frühstück mit ausgezeichnetem Kaffee, obwohl er aus einem riesigen Behälter in eine Metallkanne abgefüllt wird. In Italien ist der Kaffee offenbar nicht umzubringen. Dazu eine Kanne mit heißer geschäumter Milch, das Büffet sieht lieblos aus, unknusprige Semmeln, Nutella- und Marmeladedöschen, aufgeschnittener Schinken und Käse in fragwürdiger Qualität.
Abholen der Uhr mit neuem Uhrband und Batterie, die Uhrmacherin verwickelt mich in ein längeres Gespräch, weil ich nicht Südtirolerisch spreche. Sie allerdings auch nicht, sie kam vor 40 Jahren aus Sachsen hierher, um Ski zu fahren, und ist der Liebe wegen geblieben.
Eine halbe Stunde später komme ich aus dem Uhren-
laden heraus und an einem Hotel vorbei, das ein Rezept für „seinen“ Apfelstrudel auf Plakatgröße ausgehängt hat, was ich bemerkenswert finde. Das Hotel Sacher hütet sein Sachertortenrezept seit mehr als hundert Jahren und verfolgt Epigonen der Sachertorte sogar gerichtlich, wenn sie unter dem Namen „Original Sacher-Torte“ verkauft werden. Und hier kann jeder Passant das Strudelrezept abschreiben.

Dann gehe ich drei Stunden spazieren, in der unmittelbaren, flachen Umgebung von Sterzing. Immer wieder unterquere ich Überführungen der Autobahn und ihrer Zubringer, die Landschaft des Tales wäre schön, wäre sie nicht kreuz und quer durchschnitten von den breiten Asphaltbändern. Rundherum Bergketten, die Stubaier Alpen vor allem, die zwischen mir und Gschnitz liegen, und die ich leider nicht überqueren kann, sondern mit Bahn und Bus umfahren muss. Zu Hause hatte ich mir noch vorgestellt, eine Winterwanderung zu machen, hatte diese Idee aber nach kurzer Recherche fallen gelassen, dafür hätte ich mich konditionell monatelang vorbereiten müssen, ich hätte eine spezielle Ausrüstung gebraucht und auf alle Fälle einen Führer und vor allem viel mehr Zeit. Durchs Pflerschtal und über den Tribulaun hätte ich gehen müssen, 3.097 Höhenmeter überschreiten mit einem schweren Rucksack, etwas für Henriette d’Angeville, aber nicht für mich, und schon gar nicht im Winter. Der Pflerscher Tribulaun hat den Schwierigkeitsgrad III und gilt als „der schwierigste erreichbare Gipfel der Stubaier Alpen“ 4, 1869 wurde er noch für unbesteigbar gehalten, 1872 gelang die Erstbesteigung, 1874 gingen zwei Männer barfuß hinauf.
Wie dieses Tal früher ausgesehen haben mag, frage ich mich. Dichte Wälder müssen hier gestanden haben, mit wilden, inzwischen vertriebenen oder ausgestorbenen Tieren wie Bären, Luchse, Einhörner. Mit Pflanzen, die man heute nicht mehr kennt, und vielleicht gab es auch Elfen und andere fremde Wesen wie im Ausseerland oder im Bergmassiv der Dolomiten, in dem sich König Laurins Rosengarten befindet, wenn man zur richtigen Zeit unter den richtigen Lichtverhältnissen hinschaut. Über die Sterzinger Wiesen laufen nur noch gezüchtete Hunde, für eine halbe Stunde dürfen sie sich hier „austoben“, dann werden sie in die Autos verfrachtet und in ihre Häuser gebracht.

Ich gehe zurück in die Sterzinger Fußgängerzone, wieder sind die Skifahrer unterwegs mit ihren schweren Schuhen und verschwitzten Haaren, es ist zu warm für die Jahreszeit und den Ort, auf den Spazierwegen lag ein wenig Schnee, aber jetzt hat es mindestens fünf Grad, ich bin viel zu dick angezogen mit meiner Funktionsjacke namens Iceland. Der Wettlauf der Bergsteigerinnen um die 14 Achttausender zieht mich zurück ins Hotel. Als Proviant nehme ich mir einen Caffè latte und ein Säckchen Mandeln mit.
Das Feilschen um Zeiten und Stile und Meter scheint angesichts der ungeheuerlichen Fels- und Eismassen, welche die Alpinistinnen im Laufe der Jahrzehnte bezwangen, absurd. Inzwischen wächst das höchste Gebirge der Welt, der Karakorum, der sieben Acht- und 63 Siebentausender umfasst, um einen Zentimeter pro Jahr, weil der „indische Subkontinent mit einer Geschwindigkeit von 4 cm pro Jahr weiter in die asiatische Landmasse hineinstößt“. 5 Erdbeben und Lawinen sind die Folge, die Extrembergsteigern oft das Leben kosten.
Die Landvermessung ist nicht mehr als eine Momentaufnahme und die Vermessenheit der Menschen ist grenzenlos.
„[…] kein Erfolg an den Achttausendern ist geschenkt. Es ist gegen die menschliche Natur, so hoch zu steigen. Alles da oben ist Anstrengung“ 6, sagt Reinhold Messner am Ende seines Buches, und ich nicke traurig. Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen, sagte Blaise Pascal. Der Mensch will hinaus, er gibt keine Ruhe, weiter, höher, schneller muss er sein, wie auch die Olympischen Spiele in Sotschi beweisen, die ohne Ton im winzigen Fernseher laufen. Olympiasiegerin Anna Fenninger holte sich am Vormittag noch Silber zu ihrer Goldmedaille, jetzt wird sie im Österreichhaus gefeiert.
Später sehe ich einen Krimi im Alpenmilieu – merkwürdiger Zufall –, die Kommissarin bringt ein von der Pädophilenmafia verfolgtes Kind in die Berghütte ihres Vaters, um es dort zu verstecken. Der Profikiller, der Kommissarin und Kind dennoch auf der entlegenen Alm aufstöbert, wird vom Vater mit einem Holzscheit niedergestreckt.

Sterzing, 3. Tag / Gschnitz 1. Tag
Einpacken – der Rucksack hat enorm an Gewicht zugelegt –, Frühstück, kurz zum Riesenslalom der Herren in Sotschi schalten – Marcel Hirscher steht noch oben, ich werde seinen Lauf versäumen –, dann zu Fuß zum Bahnhof. Heute ist es bedeutend kälter als gestern und für Gschnitz ist sogar Schneefall angesagt. Ich muss zum Grenzübergang Brennero / Brenner, dort umsteigen in einen Regionalzug Richtung Innsbruck, aussteigen in Steinach und dann mit dem Bus nach Gschnitz. Ein ziemlicher Aufwand für die eigentlich kurze Strecke, leider gibt es die direkte Buslinie zwischen Sterzing und Gschnitz, die ich mir kühn vorgestellt habe, nicht. Die Tourismusinformation in Sterzing kannte sie nicht, obwohl ich ganz sicher war, sie im Internet aus den Augenwinkeln gesehen zu haben.
Am Brenner finde ich das sogenannte Stumpfgleis nicht, und verpasse deswegen den Anschlusszug. Eine Bahnangestellte kann mir auch nicht helfen. Den Ausdruck Stumpfgleis hat sie noch nie gehört, sie ist selbst auf der Suche nach Gleis 3 A. Sie trägt eine Plastiktasche mit einem Bialetti-Aufdruck in der Hand, und ich denke mit Wehmut an die Ferrarirote. Sollte sie mir noch einmal begegnen, werde ich sie nicht wieder zurücklassen. Ich muss den Bahnhof mehrmals umrunden und öfter die Treppen auf- und absteigen, bis ich das Stumpfgleis finde, wobei mir dreimal die Bahnmitarbeiterin mit dem Bialettisackerl entgegenkommt und mir jedesmal zuwinkt.
Der Regionalzug nach Innsbruck steht bereit, einige Leute sitzen darin (ein gutes Zeichen!), ich steige erleichtert ein. Ich bin beschämt, fühle mich wie ein Bahnamateur, als ob ich in meinem Leben nicht schon hunderte Zugfahrten unternommen hätte, ausgerechnet am Brenner irre ich wie ein blindes Huhn umher.
Gerne würde ich auch meine Probleme mit dem italienischen Fahrkartenautomaten und dem Entwerten des Tickets auf der Herfahrt verschweigen, aber ich soll ja alles wahrheitsgemäß dokumentieren: Anstatt das Ticket einzuscannen – oder was auch immer der Automat von mir erwartet hatte –, drückte ich es in einen Schlitz, der nicht dafür vorgesehen war, und machte damit den Automaten kaputt, er blinkte rot und gab ein nervöses Rattern von sich, das Ticket war natürlich verloren, und ich musste ein neues kaufen. Dadurch verpasste ich den vermeintlichen Anschlusszug, der, wie sich später herausstellte, nicht Richtung Sterzing gefahren wäre, sondern nach Innsbruck.

In Steinach steige ich aus und laufe aus dem Bahnhof, ich weiß, auf dem Vorplatz müsste abfahrbereit der Bus nach Gschnitz stehen, ich will nicht wieder eine Stunde verlieren, die Bahnhöfe werden immer kleiner, immer weniger Infrastruktur steht zur Verfügung, das Warten auf die nächste Verbindung wird immer ungemütlicher. Außerdem würde ich gerne den 2. Durchgang des Riesentorlaufes in Sotschi sehen. Ob ich keine Skier dabei hätte, fragt mich der Fahrer, und ich schüttle den Kopf. Ahso, sagt er. Ich werde rot. Es beginnt zu schneien.
Während der Fahrt wird es draußen sukzessive weißer, die Straße verengt sich zu einer Serpentine, abwechselnd links oder rechts geht es steil hinunter. Alle Farben außer dem Weiß werden blasser, löchriger, bald bedeckt das Weiß alles. Die Dächer der schönen alten Tiroler Höfe und die Dächer der protzigen Nachbauten, die meist Hotels sind. Die Objekte in der Landschaft werden undeutlicher, weicher, das Weiß wird dichter.
Als ich in Gschnitz aus dem Bus steige – Ted Ligety führt im ersten Durchgang, meine Handyinternetverbindung hielt bis Trins, Magdalenahof, dann brach sie ab –, bin ich mitten im Winter angekommen. Ich befinde mich auf 1.242 Höhenmetern. Es ist kalt, das Tal tief verschneit, die Luft klar und fast berauschend. An so viel Sauerstoff bin ich nicht gewöhnt. Kündigt sich schon ein Höhenrausch an?
Die Wirtin der Alpenrose begrüßt mich mit den Worten: „Schade, dass heute so ein schlechtes Wetter ist!“ Für mich ist das Wetter perfekt, endlich bekomme ich meinen Spaziergang im Schnee. Ich folge der Spur einer Langlaufloipe, kein einziger Langläufer kommt mir entgegen oder überholt mich, das Schneegestöber hält die Menschen in ihren Zimmern fest. Jetzt machen sich meine Eskimoboots und meine Iceland bezahlt. Die Schneestille wird hin und wieder durchbrochen von dem Ruf eines Vogels oder vom gedämpften Brummens eines Autos oder Traktors. Für meine Großstadt-
ohren, die einem ständigen Rauschen, Dröhnen und den Folgetönen unterschiedlicher Alarmsirenen ausgesetzt sind, ist diese Ruhe beinahe unheimlich. Ich ahne, wie es sein könnte, gäbe es keinen Verkehr. Irgendwann drehe ich um und gehe dieselbe Strecke zurück, ich sehe höchstens noch einen Meter weit, meine Fußspuren sind gerade noch zu erkennen, in einer halben Stunde werden sie gänzlich verschwunden sein.

Gschnitz, 2. Tag
Es herrscht strahlender Sonnenschein, auch die Wirtin strahlt nun und serviert mir den besten Kaffee bisher auf dieser Reise, die besten weichen Eier und die knusprigsten Semmeln. Leider muss ich schon wieder abreisen, immer ist zu wenig Zeit, zu wenig Muße.
Beim Warten auf den Postbus nach Steinach versuche ich mir die Silhouetten und die Beschaffenheit der Bergzüge einzuprägen. Die Berge sind hier viel näher als in Sterzing. Man kann die steilen schiefergrauen Felswände, durchsetzt von Schnee- und Eisflecken, sehen, man kann sogar ihre schroffe Struktur erkennen, ihre Kanten und Schichten, ihre Scharten und Vorsprünge. Ich möchte diese gezackte Linie im Herzen behalten.
Für meine Bergsteigerinnen wäre es ein Leichtes, da hinaufzusteigen, die eine barfuß, die andere im Reifrock, für mich unmöglich, man müsste mich wie Marie Paradis mit Seilen hinaufziehen und oben festhalten. Aber die Augen würde ich aufmachen, ganz bestimmt.

1   Reinhold Messner, „On Top. Frauen ganz oben“, München 2010, S. 48
2   Ebda, S. 51.
3   Wikipedia, „Akrophobie“, abgerufen am 7.3.2014.
4   Wikipedia, „Pflerscher Tribulaun“, abgerufen am 11.3.2014.
5   Wikipedia, „Karakorum“, abgerufen am 13.3.2014.
6   Messner, „On Top“, S. 340.

 

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