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Notabene, ein Remake

Erich Kästner in Tirol. Von Christoph W. Bauer

Ein Remake bescherte mir den ersten Kinobesuch meines Lebens. Ich war sechs, sieben Jahre alt, Joachim Fuchsberger lächelte von der Leinwand, sein Name sagte mir nichts. Auch vom Schriftsteller, auf dessen Romanvorlage der Streifen basierte, hatte ich noch nie gehört. Aber der Titel des Films übte außerordentliche Strahlkraft auf mich aus: Das fliegende Klassenzimmer. Wenige Szenen sind mir in Erinnerung geblieben, und ich weiß heute nicht, was mich mehr beeindruckte, die Filmhandlung oder der Umstand, dass ich ihr im mittlerweile aufgelassenen Kinosaal einer Tiroler Landgemeinde beiwohnen konnte.

Einige Jahre später las ich Das fliegende Klassenzimmer. Wieder verbündete ich mich mit Jonathan „Johnny“ Trotz, diese Figur hatte es mir schon im Film angetan. Der Außenseiter und Träumer, der Schriftsteller werden wollte, wurde zu meinem Wegbegleiter – und Erich Kästner avancierte zu einem meiner Lieblingsautoren früher Lesejahre. Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton – wie die Generationen vor mir, verschlang ich diese Bücher. Dass mich ihr schnoddriger Tonfall an meine Verwandtschaft in Norddeutschland erinnerte, tat ein Übriges. Mein Vater Hannoveraner, den es in die Tiroler Berge verschlagen hatte, dort war jeder Deutsche ein Piefke von vornherein. Das ließ man mich spüren, Johnny kam also wie gerufen. Kurzum, ich fühlte mich von Kästner verstanden und glaubte nicht zuletzt daher, ihn zu verstehen. Ich rieb mich nicht an wiederkehrenden Stereotypen und moralisierenden Fingerzeigen – hätte ein Kind diese denn erkannt? In einem von Tourismus und sportlichen Aktivitäten dominierten Umfeld floh ich aus Mangel an Alternativen in Bücher, machte Erich Kästner mich zum Leser.
Dass der 1899 in Dresden geborene Kästner zu den verfemten Autoren des Dritten Reichs gehörte, lernte ich in der Schule, wenig hingegen erfuhr ich über den Nationalsozialismus. Ich bin mir sicher, dass der Name des Tiroler Gauleiters Franz Hofer kein einziges Mal fiel. Die Morde und Übergriffe beim Innsbrucker Novemberpogrom 1938 wurden völlig ausgespart. Das war in den 1980er-Jahren, noch vor der Waldheim-Affäre, in deren Windschatten der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky nicht nur die bis dahin hochgehaltene Opferthese relativierte, sondern von einer Mitschuld der Österreicher am Zweiten Weltkrieg sprach. Somit wurde offiziell, was ohnehin bekannt war, das geistige Klima im Land änderte sich kaum. Umso wichtiger wurde für mich ein Werk, das ich kurz nach Schulabschluss in die Hände bekam, Erich Kästners Notabene 45.
In diesem 1961 veröffentlichten Tagebuch beschreibt er detailliert seine Lebensumstände vom 7. Februar bis zum 2. August 1945, die ihn als Mitglied eines sechzigköpfigen UFA-Teams nach Tirol führen, wo angeblich ein Film gedreht werden soll. Man habe eben „ein paar konsequente Lügner beim Wort genommen, nichts weiter. Da der Endsieg feststehe, müssten deutsche Filme gedreht werden. Es sei ein Teilbeweis für die unerschütterliche Zuversicht der obersten Führung. Und weil das Produktionsrisiko in den Filmateliers bei Berlin täglich wachse, müsse man Stoffe mit Außenaufnahmen bevorzugen.“ Dieserart werden ungläubige Zeitzeugen abgespeist, bemerkt Kästner in typischem Sarkasmus.
Klar, das ganze Unternehmen ist Posse, ist gewagtes Spiel zugleich, auf das aber auch Goebbels hereingefallen sei. Also macht sich der Tross auf den Weg nach Tirol, um dort das absehbare Kriegsende abzuwarten. In die Rolle als Produktionsleiter schlüpft Kästners Freund Eberhard Schmidt. Der produzierte schon 1942 den wohl ambitioniertesten Film der Nazi-Ära, Münchhausen. Für die vermeintlichen Hauptrollen sind Ullrich Haupt und Hannelore Schroth vorgesehen, Herbert Witt wird neben Kästner als Drehbuchautor ausgewiesen.

Abreise in Berlin, Eberhard Schmidt in einem zweisitzigen DKW neben Kästner, „hinter Potsdam wurden wir zum ersten Mal von der Feldgendarmerie kontrolliert.“ Durchs Fränkische Jura Richtung München, von dort mit dem Zug über Garmisch nach Innsbruck. Die Wartezeit am Bahnhof wird von einer Luftwarnung unterbrochen, Kästner notiert: „Die Sirene wirkte wie das Megaphon eines Regisseurs, der einen Monsterfilm inszeniert.“ Auf ihr Kommando seien „von allen Seiten Komparsen mit Klappstühlen, Kindern, Kissen und Koffern“ herbeigeströmt und „in langer Polonaise“ im gegenüberliegenden Berg verschwunden.
Abends geht’s weiter ins Tiroler Unterland und von Jenbach „mit der Zillertaler Lokalbahn nach Mayrhofen hinauf. Der Fahrplan lässt sich leicht behalten. Der Zug fährt einmal täglich von Jenbach nach Mayrhofen und ebenso häufig von Mayrhofen nach Jenbach. Mayrhofen ist die Endstation, hat etwa zweitausend Einwohner und lebt, sei nun Krieg oder Frieden, nicht zuletzt vom Fremdenverkehr.“
Etwas später trifft auch Kästners Lebensgefährtin
Luiselotte Enderle als UFA-Dramaturgin in Mayrhofen ein. Von Mitte März bis Anfang Juni beziehen die beiden ein Zimmer in der Pension Steiner, bei „sehr freundlichen Leuten. Er hält Vieh. Sie ist die Hebamme des Ortes. Viktoria, die Tochter, hilft im Haus.“ Ein Sohn der Familie Steiner ist gefallen, der andere steht noch an der Front. Gemeinsam mit den „Berlinern“ sitzen sie in der „warmen Stube“ vor dem Volksempfänger, hören die Wehrmachtsberichte. „Die Fotografie des Gefallenen ist nicht der einzige Zimmerschmuck. An den Wänden hängen, einander gegenüber, ein geschnitztes Kruzifix und ein buntes Hitlerbild.“
Wiederholt geht Kästner auf die Einheimischen ein, deren Ablehnung mitunter „in ohnmächtigen Hass“ umgeschlagen sei. Dies erklärt er mit dem Wesen des Fremdenverkehrs, wenn die Gäste, „statt selber zu erscheinen, die Gelder per Post überwiesen, wäre Eintracht möglich.“ Und: „Nicht sie sind schuld, dass sie den Krieg mitverlieren und dass ihre Söhne mitfallen, sondern wir.“ Gestört fühlt sich auch die Leiterin eines evakuierten Lehrerinnenseminars, dessen Schülerinnen in diversen Hotels untergebracht sind. Ihre Direktorin ist befreundet mit Gauleiter Hofer und federführend beim Versuch, die unliebsamen Fremden für den Volkssturm heranzuziehen, wozu es letztlich nicht kommt.
Kästner und das Filmteam bemühen sich also, die Einheimischen bei Laune zu halten, und so bekommen die Mayrhofener die Welturaufführung Josef von Bákys Via Mala zu sehen (der Film, 1944 fertiggestellt, wird erst 1948 in deutschen Kinos gezeigt).
Die Tage vertreibt sich Kästner mit Spaziergängen und Beobachtungen. Täglich treffen Lastwägen und Busse mit Flüchtlingen im Zillertal ein, die Gemeinde erteilt keine Aufenthaltsgenehmigungen mehr, „es sei denn man zöge zehntausend Reichsmark aus der Tasche.“ Oft besucht er das Waldkaffee, seit Ende der 1920er-Jahre ein beliebter Treffpunkt im Dorf und bekannt für seine Tanzveranstaltungen. In den letzten Kriegswochen jedoch wird das Lokal zum Zufluchtsort für Vertriebene, „die nicht wissen, wohin sie gehören und was sie anfangen sollen.“ Auch die Nahrungsmittel werden immer knapper, Kästner beschreibt das Feilschen um Brot, Butter und Käse. Unterbrochen wird der Handel von Bomberverbänden, die über den Bergen auftauchen, ihr Ziel sind die Bahnknotenpunkte im Inntal.
Am 25. März überbringen der Bürgermeister und der Ortsgruppenleiter den Steiners die Nachricht, dass auch ihr zweiter, erst achtzehnjähriger Sohn gefallen ist. „Der Vater erlitt einen Herzanfall. Die Mutter riss das Hitlerbild von der Wand. Sie wollte es zertreten … Heute früh hing das Hitlerbild wieder an der Wand. Und vor Hansl Steiners schwarzumrahmter Fotografie, nicht weit von der des Bruders, stand ein Teller mit Gebackenem.“
Wenige Wochen später ist der Krieg vorbei, Kästner notiert am 4. Mai 1945: „Die Ostmark heißt wieder Österreich.“ Noch gut ein Monat lang hält er sich in Mayrhofen auf und hält fest, wie rasch sich die Heimischen der Vergangenheit entledigen. „Farbsatte Rechtecke an den Wänden erzählten uns, wie leicht Tapeten zu verschießen pflegen und wie groß die Hitlerbilder gewesen waren.“ Aus den Hakenkreuzfahnen nähen die Bäuerinnen mithilfe von Betttüchern österreichische Fahnen, vor den Spiegeln stehen „Hausväter“ und schaben, „ohne rechten Sinn für Pietät, ihr tertiäres Geschlechtsmerkmal, das Führerbärtchen, von der Oberlippe.“
Solche und ähnliche Passagen beeindruckten mich bei der ersten Lektüre von Notabene 45 vor mehr als zwanzig Jahren sehr.

Nach Kriegsende begründet Kästner sein Verbleiben in Deutschland mit der Absicht, er habe Augen- und Ohrenzeuge bleiben wollen, um alsbald den großen Roman des Dritten Reichs schreiben zu können. Es ist eine Zeit der Stimmungsmache gegen geflohene Emigranten, Thomas Manns Weigerung, nach Deutschland zurückzukehren, löst Kontroversen aus. Und Manns Ablehnung scheint auch Kästner übel aufzustoßen, er verfasst einen boshaft-ironischen Text, in dem er sich an die „lieben Kinder“ wendet, ein dankbares Publikum, mit anderen Worten, er weicht der Debatte aus. Ungeachtet dessen setzt bei ihm nach 1945 noch einmal eine enorme Produktionstätigkeit ein. Er ist populär wie in jenen Tagen, als er mit dem Roman Fabian Erfolge feierte. Nun wird er Feuilletonchef der von der amerikanischen Militärregierung in München herausgegebenen Neuen Zeitung, er schreibt Reportagen, Rezensionen, Kinderbücher und zahlreiche Kabarett-Texte für die Schaubude.
Bereits 1946 erscheint Bei Durchsicht meiner Bücher, eine vom Autor selbst vorgenommene Zusammenstellung aus vier bis 1932 erschienenen Gedichtbänden. Die Gedichte „sollen zeigen, wie ein junger Mann durch Ironie, Kritik, Anklage, Hohn und Gelächter zu warnen versuchte“, heißt es im Vorwort, das Kästner so eröffnet: „Mein erstes Buch, der Gedichtband Herz auf Taille, erschien 1927. Und im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herren Goebbels mit düster feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen. Ich war der einzige der vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen.“
In der Neuen Zeitung hatte er sich wie folgt vorgestellt: „Nun, E. K. war im Lauf der letzten zwölf Jahre elfeinhalb Jahre verboten. Das klingt lustiger, als es war. Trotzdem blieb er während der ganzen Zeit in der Heimat … und fühlte Deutschland den Puls. Eines Tages wird er versuchen, die Krankengeschichte niederzuschreiben.“
Was klingt daran lustig, möchte man fragen. Gleichwohl, Kästner hält bis an sein Lebensende an dieser Selbststilisierung fest. In den von ihm verfassten Kurz-Viten entsteht der Eindruck, er habe zwölf Jahre nichts publiziert, nicht einmal im Ausland. Zweimal wurde er von der Gestapo verhaftet, seine Anträge um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer wurden abgelehnt, vom Rückgang seiner Produktivität kann indes nicht die Rede sein. Gerade in den ersten Jahren nach Hitlers Machtergreifung erscheinen einige seiner bis heute beliebtesten Bücher, Das fliegende Klassenzimmer kann sogar noch in Deutschland verlegt werden, alle übrigen Werke im Ausland. Darunter das Kinderbuch Emil und die drei Zwillinge, die Unterhaltungsromane Drei Männer im Schnee und Der kleine Grenzverkehr sowie die Sammlung unpolitischer Gedichte mit dem Titel Dr. Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Ferner erscheinen während der zwölf Jahre Diktatur insgesamt 26 Übersetzungen von Kästner-Büchern. Als er tatsächlich mit Schreibverbot belegt wird, liefert er unter Pseudonym Theatertexte und Filmdrehbücher für die Unterhaltungsindustrie des Dritten Reichs. 1942 schreibt er als „Berthold Bürger“ das Skript zu Münchhausen, Goebbels persönlich hatte dies genehmigt.
An Kästners Regime-Gegnerschaft gibt es keinen Zweifel. Er hing an einer Kette von Fehleinschätzungen, das wurde ihm früh bewusst. Auch die enge Bindung zu seiner Mutter dürfte ihn zum Bleiben veranlasst haben. Aber nicht zu Unrecht nennt ihn Paul Flora in seinen Erinnerungen eine ambivalente Persönlichkeit. Andere gehen härter mit ihm ins Gericht, werfen Kästner Opportunismus vor, heißen ihn einen Moralisten mit doppeltem Boden. Walter Benjamin will in ihm schon in den frühen 1930er-Jahren einen Satiriker erkennen, der sich vor „wirklichen Problemen“ gedrückt habe, Ruth Klüger folgert: „Daß Kästner in Kinderbücher auswich und sich dann gewissermaßen zum Präzeptor eines jungen Deutschland stilisierte, war wohl kein Zufall.“

Dreharbeiten in Mayrhofen: „Die Kamera surrte, die
Silberblenden glänzten, der Regisseur befahl, die Schauspieler agierten, der Aufnahmeleiter tummelte sich, der Friseur überpuderte die Schminkgesichter, die Dorfjugend staunte. Wie erstaunt wäre sie erst gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass die Filmkassette der Kamera leer war. Rohfilm ist kostbar. Bluff genügt. Der Titel des Meisterwerks, Das verlorene Gesicht, ist noch hintergründiger, als ich dachte.“
Hinter das Gesicht ließ sich Erich Kästner nie blicken. Auch in Notabene 45 nicht. Einmal mehr erweist er sich als begnadeter Selbstdarsteller: „Ich war eine Ameise, die Tagebuch führte. Ich notierte, was ich im Laufen sah und hörte. Ich ignorierte, was ich hoffte und befürchtete, während ich mich tot stellte“, heißt es im Vorwort. Seine Arbeitsmethode erklärt er so: „Meine Aufgabe war, die Notizen behutsam auseinanderzufalten. Ich musste nicht nur die Stenographie, sondern auch die unsichtbare Schrift leserlich machen … Ich musste das Original angreifen, ohne dessen Authentizität anzutasten.“ Wie soll das gehen? „Ich habe den Text geändert, doch am Inhalt kein Jota.“ Und an anderer Stelle: „Ich habe nicht daran gerührt. Denn ich bin nicht vom Verschönerungsverein. Vom Selbstverschönerungsverein schon gar nicht.“
Notabene 45 widerspricht, die gedruckte Fassung weicht mitunter deutlich vom Original-Tagebuch ab, das Kästner ab 1941 führte, es wurde erst Jahre nach seinem Tod im Nachlass entdeckt. „Kunstgriffe wären verbotene Eingriffe“, postuliert er im Vorwort und wendet sie sonder Zahl an. Die letzte Eintragung in Berlin: „Ich klebe hier fest wie eine Fliege an der Leimtüte“, die erste in Mayrhofen: „Die Fliege klebt nicht mehr an der Tüte. Es hat ihr jemand aus dem Leim geholfen. Eine Art Tierfreund? Der Vergleich hinkt.“ Auf diese Art baut er immer wieder an der Dramaturgie des Buchs – und wenn ein Vergleich hinkt, warum ihn bemühen?
Zudem zieht Kästner eine Kommentarebene ein, die mit Sicherheit erst vor Abdruck von Notabene 45 entstanden ist. Im Original: „Hitler ist in Berlin gefallen.“ In der gedruckten Version: „Hitler liegt, nach neuester Version, nicht im Sterben, sondern ist ,in Berlin gefallen‘! Da man auf vielerlei Art sterben, aber nur fallen kann, wenn man kämpft, will man also zum Ausdruck bringen, dass er gekämpft hat. Das ist nicht wahrscheinlich. Ich kann mir die entsprechende Szene nicht vorstellen. Er hätte dabei mit Ärgerem rechnen müssen … und dieses Spektakel konnte er nicht wollen. Ergo: er ist nicht ,gefallen‘.“
Nicht nur in dieser Passage unterläuft Kästner die im Vorwort behauptete Authentizität. Manche Eintragungen lässt er in der gedruckten Fassung vorsorglich weg, etwa: „Am besten hat sich noch Goebbels aus der Affäre gezogen, der Intellektuelle, als er mit seiner Familie gemeinsam Schluss machte.“ Andere aber fügt er beflissen hinzu, wie: „Gestern warnte mich jemand. Die SS, das wisse er aus zuverlässiger Quelle, plane, bevor die Russen einzögen, eine blutige Abschiedsfeier, eine ,Nacht der langen Messer‘. Auch mein Name stünde auf der Liste. Das ist kein erhebender Gedanke.“ Ist es wahrlich nicht, aber Kästners Selbsteinschätzung wird offenbar. Auch dass er die „Achillesferse“ in Mayrhofen gewesen sei, ist unglaubhaft. „Wir können nur hoffen, dass die örtlichen Amts- und Würdenträger meinen Namen nie gehört oder längst vergessen haben.“ Die Enttarnung der Dreharbeiten als Posse hätte Gauleiter Hofer als Grund gereicht, Maßnahmen zu ergreifen. Ob ihm an solchen noch gelegen sein konnte, bleibt fraglich, er paktierte längst mit den Alliierten.
Zweifelsohne will Kästner mit Notabene 45 zumindest in Anflügen jenen Zeitroman ersetzen, mit dem er seine innere Emigration legitimierte. Aber die Rückblenden auf die zwölf Jahre der Diktatur wirken an vielen Stellen übermotiviert, Kästners Pointen-Jagd bricht mancher Peinlichkeit Bahn. Beispielsweise wenn er die Geschehnisse in Deutschland und während des Krieges in Film- und Theatermetaphorik einwebt, Hitler spiele Dramen nach, „die Österreicher haben eben Theaterblut.“
Unter dem Aspekt der Überzeichnung auch seine Darstellung der „Ostmärker“. Stets hat Kästner ein Aperçu parat, das den nüchternen Duktus des Originals erschlägt, ein Bonmot jagt das andere. Beispielhaft dafür die mich einst packende Passage von der Überbringung der Todesnachricht: Die Mutter reißt das Hitlerbild von der Wand, hängt es am nächsten Tag wieder auf, vor der schwarzumrahmten Fotografie des Gefallenen ein Teller mit Gebackenem. Dass Kästner ein Gedicht für die Sterbeanzeige des Johann Steiner verfasste, findet weder im Tagebuch noch in anderen Ausgaben Erwähnung. Kein besonders gutes Gedicht, aber es zeigt einen unmittelbaren Autor. „Tagebücher präsentieren gewesenes Präsens“, offensichtlich misstraut er seinem Diktum, will mehr aus dem Erlebten machen. Das ist ihm gelungen. Schmälert es den Wert von Notabene 45?
In der Zillertaler Heimatstimme aus dem Jahr 2005 die Überschrift: Dr. Erich Kästner fand eine schützende Bleibe in Mayrhofen. Der Artikel beginnt mit Kästners sprichwörtlicher Moral: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Es folgt eine frisierte Kurz-Vita in Kästner’schem Sinn, dann die Beschreibung seines Aufenthalts „an der Schwelle vom Krieg zum Frieden“. Wie Österreich über diese „Schwelle“ tritt, erfahren die Leser mit keinem Wort. Nicht nur ihnen sei Kästners Journal anempfohlen. Es ist ein ambitioniertes Buch, ein früher Schritt, den Alltag im Dritten Reich zu dokumentieren. Freilich, wie beim Film, der mir den ersten Kinobesuch meines Lebens bescherte, handelt es sich auch bei Notabene 45 um ein Remake.

 

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