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Tiroler Zukünfte

Das Dorf als Serviceeinrichtung für Touristen, als lebensfähiges Soziotop, als Ansammlung von Zweitwohnsitzen vermögender Personen oder als alpine Brache, die wieder der Natur übergeben wird? Eine Polemik aus Empathie. Von Arno Ritter

Prolog

Ich bin einer von zahllosen Zuwanderern in Tirol, lebe seit 1995 in Innsbruck, lese mittlerweile täglich die Tiroler Tageszeitung und zunehmend auch die Todesanzeigen, wurde in Wien geboren und werde trotzdem im folgenden Text über Tirol aus einer Wir-Perspektive schreiben. Denn seit meinem 5. Lebensjahr habe ich ein empathisches, aber auch ambivalentes Verhältnis zu diesem Land, und das kam so: Bereits meine Großmutter mütterlicherseits kam als junge Wienerin Ende der 1920er Jahre nach Obertilliach auf Sommerfrische. Meine Mutter und Tochter der besagten Großmutter spielte ab 1936 als Kind einige Sommer in Tilliach und ich, Sohn meiner Mutter und meines angeheirateten Vaters, fuhr ab 1970 fast jedes Jahr in den Sommerurlaub nach Obertilliach zur ehemaligen Spielgefährtin meiner Mutter, nämlich zu Berta, mittlerweile verheiratete Lugger, vulgo Niederster, nach Bergen 6. Für mich als Stadtkind aus dem 3. Bezirk waren diese zwei Wochen die reinste Idylle, „all inclusive“ mit Familienanschluss: vom gemeinsamen Essen aus einer Schüssel, über die eigene Kuh im Stall, die ich täglich molk, die Mitarbeit bei der Mahd und das Heueinbringen auf den Bergwiesen, bis hin zu meinen Gummistiefeln, die ich am Ende des Aufenthalts weinend in ein Plastiksackerl steckte, dieses luftdicht verschnürte, um den Geruch des Sehnsuchtsorts danach am Klopfbalkon in der Dapontegasse 7 riechen zu können. In kindlichen Konfliktfällen mit meiner Mutter drohte ich angeblich immer wieder nach Tilliach auszuwandern, da es dort viel besser und schöner sei. An die Worte kann ich mich nicht mehr erinnern, an das Gefühl schon. Später, als im Fernsehen das eigenartige Sendeformat „Wetterpanorama“ flimmerte, schaute ich oft nach Osttirol, vor allem wenn es in Wien nebelig und ungemütlich war. Ein Ritual, das meine Mutter bis heute aufrecht hält, wobei sich ihr Blick mittlerweile mehr nach Innsbruck richtet.

Eigentlich wurde ich in eine bürgerliche Familientradition der Sommerfrische – auf 1.500 m Meereshöhe! –
hineingeboren, sah infolge dessen erst mit 12 Jahren das Meer (in Holland), war aber glücklich mit diesem alpinen Zufall, da es für mich damals gut war. Zu jener Zeit, als ich das Meer bei Scheveningen zum ersten Mal sah, entstanden kleine Risse in der Beziehung zu meinem antiurbanen Fluchtpunkt, zuerst schleichend. Erst später, mit etwa 15 Jahren, als ich die ersten Anzeichen der Pubertät spürte, wurde mir bewusst, dass die realen Verhältnisse in Obertilliach mit meiner Wiener Prägung und Lebenseinstellung nicht mehr kompatibel waren. Dieses Gefühl entstand nicht aus aktiver Analyse, sondern verfestigte sich während der Gespräche mit Sepp – dem Sohn von Berta – am Söller. Denn nachdem wir die Stallarbeit erledigt hatten, landeten wir in diesem Raum zwischen Heu und Landschaft, zwischen seinem Alltag und meinem urban geprägten Blick als Gast. Er war Anfang zwanzig, sollte den Hof von seinem Vater, dem Tate, übernehmen, war Schiliftwart im Winter, Holzfäller für andere im Sommer und von seinen Eltern abhängiger Jungbauer in seiner Freizeit. Im Gegensatz zum Tate, der das tat, was zu tun war und es seit Generationen so gemacht wurde, dachte Sepp in einem anderen Verständnis. Er wollte in Zukunft nur mehr das tun, was er gefördert bekommen würde, sonst „zahle“ es sich nicht aus. Die Bergwiese, die der Tate noch wegen der Qualität des Heus – er nannte es Medizin – mähte, wollte er nur wegen der Prämie, aber nicht wie der Vater mit der Sense, sondern mit dem Balgenmäher schneiden. Gleichzeitig schilderte er mir seine Konflikte mit der väterlichen Autorität in Bezug auf seine Träume als zukünftiger Bauer und seine Liebschaften – damals vornehmlich aus dem bundesdeutschen Sprachraum. Letztere nahm er zwar nicht ernst, aber die Reaktion seines Vaters in beiden Fällen machten ihm die Differenz ihres Denkens, in seinen Augen zwischen Tradition und Zeitgeist, bewusst. Für mich war damals die Haltung des Tate unverständlich, obwohl ich ihn verehrte, und die von Sepp auch nicht ganz nachvollziehbar. Heute würde ich sagen, dass beide recht hatten und ich sie nun verstehe. Der Tate starb 2004 und Berta vor drei Jahren. Sepp lebt heute, verheiratet mit der Tochter des direkten Nachbarn, als Schiliftwart im Winter und geförderter Biobauer mit drei Kindern in Obertilliach, in Bergen 6 b.

Die Zukünfte

Eigentlich hätten wir alle ganz gerne eine klare Zukunft, eine in Einzahlform, die verbindlich und so sein soll, wie man sich diese vorstellt und letztlich will. Heute bastelt sich fast jeder seine eigene Zukunft, nicht selten auf Kosten der anderen, und erwartet sich, dass die anderen diese akzeptieren und sie sogar politisch unterstützt wird. Wir wollen die eigene Zukunft mit dem Kollektiv nicht teilen, mit einer Perspektive der Mehrzahl, die vielfach ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt. Wir wollen eine individuelle Zukunft, aber mit kollektivem Sanctus. Denn als Kinder der Moderne sind wir es gewöhnt, dass das Licht der Aufklärung und des Fortschritts den Weg in die Zukunft leuchtet und diese eindeutig besser ist. Aber die Moderne hat sich als ambivalentes Projekt, auch als intellektuelle wie emotionale Kompensationsstrategie herausgestellt und eine ihr inhärente Dynamik führte zu selbstverschuldeten Krisenphänomenen, mit denen wir uns heute global auseinandersetzen müssen. Ihre Versprechungen, die leider sehr oft zu Ideologien mutierten, führten zu großen Enttäuschungen und herben Verlusten. Eine radikale Moderne fraß nicht selten ihre Kinder und im Namen des Fortschritts ihre eigene Geschichte – und das ohne Pardon. Aus mir unerklärlichen Gründen hat es die Moderne nicht wirklich geschafft, ein kollektives Denken der Ambivalenz zu etablieren, das darin gipfeln würde, dass man die Spannung des „Sowohl-als-auch“ aushält und daraus noch dazu einen Mehrwert zieht, der produktiv wird. Doch in Anbetracht der heute öffentlich verhandelten Themen – vom Klimawandel bis hin zu den sozialen Verwerfungen rund um die Welt – scheint mir eine Übergangsphase – „Sattelzeit“ – zu einer Epoche des komplexeren Denkens und einfacheren Handelns angebrochen zu sein. In Reaktion auf ein System, das uns global an den Rand des Abgrunds manövrierte, die Entsolidarisierung betrieb und auf der Ausbeutung von Mensch und Ressourcen aufbaute, etablieren sich alternative Denkmuster, die daran orientiert sind, Lösungsansätze zu formulieren und zu leben, die global nachhaltig gedacht sind.

Vom Melkschemel zum Naturschutz

Tirol reibt sich seit Jahren ideologisch an einer Zukunftsstrategie und erkennt nicht, dass es eigentlich viele parallele und sehr verschiedene Zukünfte haben wird, die aufgrund der regional sehr unterschiedlichen Geschichten vorprogrammiert sind. Eigentlich ist Tirol ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender, gesellschaftlich ambivalenter Raum, der sich innerhalb von zwei Generationen dynamisch verändert hat, mental urbaner wurde, gleichzeitig aber seine rurale Imprägnierung nicht aufgab.
Parallel zur technischen Modernisierung des Landes, seitdem sich die Dynamik der Veränderungen sichtbar beschleunigte, existieren auch Gegenbewegungen, die konservativ und progressiv waren, weil sie einerseits „Werte“ erhalten, andererseits unzeitgemäße gesellschaftspolitische Änderungen wollten. Der Heimatschutz war eine dieser Kräfte, die eine differenzierte Haltung gegen den „gedankenlosen“ Fortschritt und die Zerstörung von Orten, Bauten und Landschaften einnahm. Die Protagonisten kamen aus dem städtischen Umfeld und waren nicht prinzipiell gegen die Moderne, sonst hätten sie nicht mit Architekten wie Lois Welzenbacher und Clemens Holzmeister zusammen gearbeitet. Im Zuge der Renationalisierung der Gesellschaft und der reaktionären Wende kippte der Heimatschutz in Tirol und Österreich – im Gegensatz zur Schweiz – ins rechte Eck und verlor seine anfängliche Ambivalenz.
Als in den 1970er Jahren europaweit Protestbewegungen gegen die Atomkraft, die Kulturpolitik, das ökonomische System etc. entstanden, die zugleich für den Naturschutz eintraten, schwappte diese Welle auch auf Tirol über. Eine konservierende Perspektive auf Kultur, Natur und Landschaft leitete den Protest, zuerst langhaarig und politisch verzopft, später grün und bürgerlich bewegt, immer zwischen den Spannungsfeldern Konservativismus und Progressivität. Die „alternative“ Sicht auf die Natur war, dass diese nicht mehr nur genutzt, geformt oder ausgebeutet, sondern auch sich selber überlassen werden sollte. Diese urban geprägte Haltung ist von den direkten Zwängen der Natur befreit wie entfremdet und ermöglicht daher die Ästhetisierung der Natur zur Landschaft, steht aber im Gegensatz zum ruralen Blick, der traditionellerweise durch ein Bearbeitungs- und Nutzungsverhältnis bestimmt ist. Für einen Bauern ist die Landschaft nicht „schön“ und die Natur keine Idylle, er ringt ihnen mühsam seinen Lebensunterhalt ab und steht in widerständiger wie zähmender Beziehung zu ihnen. Erst der Blitzableiter machte den Herrgottswinkel überflüssig und das Gewitter zu einem ästhetischen Schauspiel.

Die Familienaufstellung von Tirol ist in diesem Sinne seit Jahren von einer internen Spannung geprägt, die sich grob folgendermaßen beschreiben lässt: Zwischen den Polen technischer Fortschritt und Naturschutz, gesellschaftspolitische Progressivität und Wertkonservativismus läuft die Diskussion. Ich schätze diese Spannung, halte sie manchmal zwar nur schwer aus, wenn die Debatten entweder heimattümlich, modernistisch oder anderweitig ideologisch werden, sehe darin aber ein Potenzial, das genutzt werden müsste. Letztlich münden alle Diskussionen und Analysen im Politischen, wo das Ziel der Ausgleich zwischen den widerstrebenden Interessen im Sinne des Gemeinwohles sein sollte.

Im Folgenden möchte ich aus meinen Beobachtungen seit 1995 Szenarien von möglichen Zukünften der Raumentwicklung Tirols skizzieren, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, analytische Dichte oder gar dar-
aus abzuleitende politische Handlungsanweisungen.

Das Bschlabs-Symptom
oder der Mythos des Glasfaserkabels

In der letzten Ausgabe von Quart wurde die Situation von Bschlabs beschrieben, doch Bschlabs steht für ein Symptom, das im ganzen Alpenraum weit verbreitet ist – die Abwanderung. Zwar nimmt die Bevölkerung Tirols nominell zu, jedoch sind vorwiegend ländlich strukturierte Regionen und Gemeinden, aber auch touristisch geprägte Orte zunehmend mit dem Phänomen konfrontiert, dass vor allem die Generation der 20- bis 30-Jährigen, gut ausgebildet und mobil, abwandert und damit demografisch ein soziales Ungleichgewicht entsteht, das politisch nur schwer auszugleichen ist. Trotz vorhandener Infrastruktur wie Straßen und Gemeindeamt, traumhafter Landschaft und öffentlichen Förderungen scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, dass wir zukünftig in Tirol mit der Selbstauflösung von Orten als soziale und ökonomisch lebensfähige Gemeinschaften rechnen müssen. Auch der Ausbau des Glasfasernetzes wird daran nicht viel ändern können, da diese technische Fortschrittsstrategie alleine nicht ausreicht, um den geänderten gesellschaftlichen Lebensvorstellungen gerecht zu werden, da es zum Leben mehr braucht als eine schöne Landschaft mit Anschluss ans Worldwideweb. Diese Orte werden vielleicht zu Projektionsflächen von Liebhabern, die es sich leisten können, dorthin zu ziehen, wo nichts ist und davon nicht leben müssen. Schlimmstenfalls entwickeln sich alpine Brachen, die der Natur wieder übergeben werden oder Dörfer, die zeitweise benutzt, erhalten, aber nicht mehr durchgängig bewohnt werden.
Die Natur schlägt zurück oder der Mythos des technischen Fortschritts

Über Jahrhunderte wurde der alpinen Landschaft Lebensraum abgerungen, die Bergwelt erschlossen und die Natur mit Schutzbauten gezähmt. Doch aufgrund des globalen Klimawandels und der prekären öffentlichen Haushalte scheint diese Strategie langsam an ihr Ende zu kommen. Wir können zwar noch immer mit technischen wie baulichen Einrichtungen den Naturgefahren trotzen, aber mit der faktischen Erderwärmung, der prognostizierten Zunahme an Wetterextremen, wie dem nachweisbaren Ansteigen der Permafrostgrenze, werden wir es uns in naher Zukunft sowohl ökonomisch, ökologisch wie letztlich auch ästhetisch nicht mehr leisten können, alle Siedlungen oder Straßen vor Lawinen, Steinschlag oder Hochwasser zu sichern. Vergleicht man die Zonenpläne aus den 1980er Jahren mit den aktuellen, so ist erkennbar, dass die rot eingefärbten Flächen in Tirol massiv zugenommen haben. Wir sollten uns daher darauf vorbereiten, in Zukunft mit der mentalen Kränkung leben zu müssen, dass wir Personen absiedeln, Siedlungen aufgeben und Flächen der Natur zurückgeben müssen, um ein ökonomisches wie ökologisches Gleichgewicht in unserem Lebensraum zu schaffen.

Das lebensfähige, aber prekäre Soziotop
oder der Mythos der Eigenständigkeit

Es gibt sie noch, die Gemeinden oder Dörfer, die aufgrund ihrer Geschichte sozial und ökonomisch breit aufgestellt sind, weder unter einer massiven Abwanderung leiden, noch existenziell mit großen demografischen oder ökonomischen Problemen kämpfen. Diese Kommunen haben meist eine Biografie, in der zwar auf den Tourismus gesetzt wurde, aber nicht ausschließlich, die Betriebe angesiedelt haben, aber im kleinen Maßstab, die noch immer landwirtschaftlich strukturiert sind, aber zunehmend im Nebenerwerb, und Geburtenzahlen aufweisen, die den Betrieb von Kindergärten und Schulen ermöglichen. Die meisten dieser Orte sind zwar mit dem Auspendeln konfrontiert, aber diese Arbeitenden kommen jeden Abend wieder und beteiligen sich am kollektiven Leben, von den Vereinen bis hin zur Kirche. Auf politischer Ebene ist ein ständiges Austarieren dieser Soziotope und ihrer Bewegungen notwendig, es werden gesellschaftspolitische Entscheidungen erforderlich, die meist jenseits traditioneller Muster liegen, da sonst die Gefahr besteht, dass die differenziert aufgestellte Gemeinschaft und der soziale Kitt brüchig werden. Die Herausforderungen reichen von einer zeitgemäßen Frauen- und Familienpolitik (von der Kinderkrippe bis zur Altenbetreuung, um auf die geänderten Lebensentwürfe und Arbeitsverhältnisse zu reagieren) über alternative Mobilitätskonzepte und eine funktionierende Nahversorgung bis hin zu einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen Landwirtschaft, Gewerbebetrieben und Landschaft. Ungeachtet der Steuerleistung vor Ort sind diese Gemeinden von Geldflüssen aus dem Finanzausgleich oder von Förderungen des Landes und der EU angewiesen, da sie aus eigener ökonomischer Kraft die vielfältigen Aufgaben nicht erfüllen können. Solange diese Umverteilung gesellschaftlich getragen und ökonomisch leistbar ist, die Gemeinden kollektiv erarbeitete Strategien entwickeln, um den neuen Herausforderungen begegnen und ihre Biografie fortzuschreiben zu können, werden diese Dörfer lebensfähige, aber prekäre Soziotope bleiben.

Die Tourismusindustrie
oder der Mythos des Wachstums

Betrachtet man Fotografien aus den 1950er Jahren von heute touristisch geprägten Orten, so kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Entwicklung vom Melkschemel zu dermaßen urbanisierten Strukturen (bis hin zur U-Bahn in Schigebieten) vonstatten gehen konnte. Es waren meist Einzelpersonen, Familien oder kleine Gruppen, die, von einer Idee beseelt, sowohl die Einwohner wie auch die Landespolitik davon überzeugten, Gletscher zu erschließen, Lifte, Hotels, Pensionen sowie Straßen zu bauen, um eine bessere Zukunft zu haben. Diese Kraftanstrengung führte dazu, dass sich Tirol zu der touristischen „Weltmacht“ entwickelte, die 2013 mehr Nächtigungen hatte als London oder die Metropolen Paris, Berlin und Wien zusammen. In keinem anderen Land der Erde fallen pro Einwohner mehr Nächtigungen an als im „heiligen Land“, nämlich rund 61. Jede Nacht könnten sich theoretisch 340.000 Gäste gleichzeitig zur Ruhe begeben, da so viele Betten zur Verfügung stehen. Mit einer Bruttowertschöpfung von 4 Mrd. Euro und einem Anteil von ca. 16 % des BIP von Tirol mutierte der Tourismus zu einem das Land und die Landschaft prägenden ökonomischen wie gesellschaftspolitischen Machtfaktor. Einerseits blieben damit viele Regionen lebensfähig, andererseits führte diese Dynamik des Massentourismus auch zu Monokulturen, die soziale wie ökonomische Verwerfungen nach sich zogen. Wurde in den Anfänge des Tourismus den Gästen für ihren Aufenthalt das Kinderzimmer zur Verfügung gestellt, kann man heute erkennen, dass in einigen Gemeinden die Tendenz besteht, den Ort zur Gänze den Touristen zu übergeben. Damit verschiebt sich der Wohnort und das Alltagsleben der „Einheimischen“ in die Speckgürtel, da Grund und Boden im Zentrum so teuer wurden, dass man lieber in den Tourismus investiert, als selber dort zu wohnen. Das Dorf als Kulisse, als von außen servicierte Kubatur, das aufgrund des monokausalen Handels immer mehr an Alltags- und Lebensqualität verliert und in eine Spirale der Selbstaufgabe gerät. Zwar sind diese Orte und Regionen ökonomisch reich, verarmen aber zunehmend in ihrer Struktur. Denn diese Entwicklung einer monofunktionalen Urbanisierung lässt die Balance zwischen Ökonomie und weichen Faktoren (wie etwa Lebensqualität) zugunsten des Kapitals kippen, geht mit Verlusten an Identitäten und Kollektivitäten einher, die zur Verödung der Orte und zur Abwanderung führen.

Das Dorf ohne Einwohner
oder der Mythos des Reichtums

In einer gewissen Nähe zu dem oben beschriebenen Szenario lässt sich in einigen Regionen Tirols die Zunahme des Phänomens der „kalten Betten“ beobachten. Meist im Windschatten touristischer Destinationen entwickeln sich Orte und Landschaften zwar baulich ausufernd, aber langfristig in eine soziale wie ökonomische Sackgasse, da fast ausschließlich Zweitwohnsitze von vermögenden Personen errichtet werden, die im Odeur des Geldes für wenige Tage im Jahr ihre Freizeit dort verleben. Es entstehen Siedlungsgebiete, die sich durch heruntergezogene Jalousien und Leblosigkeit auszeichnen. Ähnlich wie in den Tourismuszentren hat diese Dynamik zur Folge, dass die Grundstückskosten und Immobilienpreise explodieren, damit ein Verdrängungsprozess breiter Bevölkerungsschichten, eine Gentrifizierung ganzer Landstriche einhergeht, die zu Freizeit-Monokulturen und zur Verödung kollektiver Strukturen führen. Zwar steht die Kirche noch im Dorf, aber es gibt keine Einwohner mehr, die sie besuchen. In Relation zur Baumasse leben nur mehr wenige „Einheimische“ in diesen Dörfern, es gibt kein öffentliches Leben und damit auch keine öffentlichen Räume der Kommunikation. Abgesehen davon, dass diese Ferienwohnungsbesitzer in der Regel kein Interesse am Gemeindeleben haben, bringen sie den Kommunen nur geringe Steuereinnahmen, die in keinem Verhältnis zu den öffentlichen Infrastruktur- und Erhaltungskosten des Siedlungsraumes stehen. Zwar versucht man das Verhältnis zwischen der Einwohnerzahl und den Ferienwohnsitzen zu regeln, um das Kippen der dörflichen Strukturen zu verhindern, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass es in manchen Regionen Tirols schon zu spät sein könnte. Grundsätzlich sollten wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob wir mit einer systemimmanenten Logik einverstanden sind, wonach Gewinne privatisiert, die Verluste oder infrastrukturellen Aufwendungen dagegen kollektiviert werden und ob wir uns zukünftig die Interessen des privaten Kapitals öffentlich noch leisten können und /oder wollen?

Die Stadt als Anziehungspunkt
oder der Mythos der Grenze

Tirol hat so genannte zentrale Orte und Ballungsräume, die eine Sogwirkung ausüben, stetig wachsen und sich verdichten. Ihre Dynamik macht ihren Reiz aus, schafft aber wieder Probleme, denn was anziehend und begehrenswert ist, wird in unserem ökonomischen Systemdenken langfristig teuer und führt letztlich zur Gentrifizierung und zur Verdrängung urbaner Qualitäten wie sozialer Durchmischung. Nehmen wir zum Beispiel die fiktive Stadt I, jener kleine Wasserkopf Tirols, der stetig wächst, da es Ausbildungsstätten, Universitäten, Kultureinrichtungen gibt, wo die Verwaltungseinrichtungen und wichtige Wirtschaftsbetriebe existieren, weswegen sowohl Tiroler, Studenten aus allen Ländern (vornehmlich aus dem deutschen Sprachraum), und Gastarbeiter (vornehmlich aus dem deutschen Sprachraum) zuziehen, um am breiten Angebot an Ausbildungs- und Arbeitsstellen wie an der Lebensqualität partizipieren zu können. In politische Verwaltungsgrenzen unterteilt und mit beschränkten Flächenressourcen fürs Wohnen und Arbeiten ausgestattet, wird der Lebensraum zunehmend verdichtet, da Grund und Boden teuer ist. Wer es sich nicht mehr leisten kann, zieht an die Peripherie, in die wuchernden Speckgürtel der Ballungsräume, um in der vermeintlichen Idylle zwischen Thujenhecken daran mitzuhelfen, dass diese Regionen immer mehr veröden und der Individualverkehr zunimmt. Könnte man, wie man sollte, müsste man das überkommene Denken der Kirchturmpolitik, vor allem im steuertechnischen wie raumplanerischen Sinn, über Bord werfen, um den realen Verhältnissen begegnen zu können. Denn Tirol hat sich zu einem subtilen Geflecht entwickelt, das nicht mehr über das Planen und Handeln in Verwaltungsgrenzen lenkbar ist. Die Macht des Faktischen erzeugt räumliche Absurditäten und steuertechnisch getragene Entscheidungen, die langfristig unseren Lebensraum zerstören und uns noch dazu volkswirtschaftlich teuer zu stehen kommen werden.

Die Landschaft und die Natur als Kapital
oder der Mythos der Erschließung

Letztlich münden alle von mir skizzierten Szenarien in der Frage, wie wir in Zukunft die räumliche Entwicklung von Tirol so gestalten können, dass diese nach Kriterien der Gemeinwohl-Ökonomie und nicht nach Einzel- oder Lobbyinteressen erfolgt, und wie wir es schaffen, die gesamte alpine Region als mittlerweile urbanes Beziehungsgeflecht zu denken, damit ein wesentliches Kapital des Landes erhalten bleibt: die Landschaft, die Natur und damit unser Lebensraum. Denn dieses geerbte Kapital ist in Gefahr, zwischen den unterschiedlichen Kräften und Einzelinteressen zerrieben zu werden. Daher benötigen wir langfristig angelegte integrale Strategien, die im Sinne des Gemeinwohls und in Anbetracht der globalen Entwicklungen – von denen wir uns nicht abkoppeln können – eine nachhaltige Synthese zwischen den Wirkkräften anstreben, über Legislaturperioden hinausreichen, vor allem aber öffentlich und partizipativ ausverhandelt werden.

Um den Klimazielen gerecht zu werden, wird der Fokus des zukünftigen Denkens und Handelns auf der Vermeidung des CO2-Ausstoßes liegen müssen. Der Umbau unseres gesamten Denksystems auf eine komplexe Nachhaltigkeit wird dazu führen, dass wir Tirol als verflochtene Stadtlandschaft, als eine Art Netzstruktur, verbunden mit europäischen bzw. globalen Entwicklungen erkennen werden und sich damit die realitätsfremde Teilung in „die“ Stadt und „das“ Land sowie in die darin gezogenen Verwaltungsgrenzen sukzessive auflösen wird müssen. Diese mental und begrifflich noch getrennten Systeme werden sich auspendeln und lebensweltlich angleichen. In Zukunft werden auch die Landschaft, die Landwirtschaft und die Mobilität eine andere Bedeutung erhalten, da der „CO2-Fußabdruck“ unserer Lebensweise eine zentrale Richtschnur des politischen Handelns sein wird und „neue“ Bewertungskriterien und „Werte“ eine Rolle spielen werden – denn letztlich geht es um unsere Lebensqualität und die Zukünfte uns folgender Generationen.

 

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