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Kaspar Hausers Powerbook

Kunst braucht den Ausnahmezustand – Mirko Bonné polemisiert über einen ausgiebig kolportierten Gedanken.

Ich will ein Reiter werden.
Georg Trakl

Nur indem ich schreibe, bin ich hellwach und auf eine auch mich verblüffende Weise unterwegs. Dann bin ich ein Reiter. Was mich tagtäglich zum Schreiben bewegt, ist eine Gelassenheit, die stets auf etwas zuhält. „Wide awake“, der englische Ausdruck ist ein herrliches Bild dafür. Wenn ich schreibe, fühle ich mich wach, weil es mich mitten hineinzieht in die offene Welt des Gestern, Heute, Morgen. Weit wacher als bei so vielen anderen Beschäftigungen bin ich, wenn ich dichte, erzähle oder übersetze, und bin eigentlich gar nicht beschäftigt. Ich bin bloß da, aber ganz und gar, ja, in meinem Element, und empfinde ja wirklich das Glück, in einem Wasser zu schwimmen, das mich nicht nur trägt, sondern mir auch alles übermittelt. Als wertvoll und zugleich wehrlos empfinde ich mich, wenn ich schreibe – denn das muss so sein. Was wertvoll ist, das ist auch wehrlos. Und umgekehrt.
Marie Luise Kaschnitz nennt diesen Zustand Langeweile, „eine lange Weile des Entlassenseins aus der Beschleunigung, dem Getriebenwerden, Gepeitschtwerden, einem persönlichen Lebensende, einem unpersönlichen, unter Umständen katastrophalen Weltende zu.“ Allerdings hinterfragt sie zugleich den Sinn. Wieso in dieser ganzen Hetzerei überhaupt schreiben, fragt sie, „doch nur um Ruhe zu finden, um entlassen zu werden aus der furchtbaren Beschleunigung, aber man wird nicht entlassen“.
Brauche ich den Ausnahmezustand, um schreiben zu können? Welchen? Die Droge, die Fremde, die Stille? Bietet das Fremde, das Stille oder der Rausch die dem Schreiben angemessene Bewusstseinserweiterung? Und wovon wäre sie eigentlich Ausnahme? Ist es nicht eher so, dass ich von einem Ausnahmezustand in den nächsten stürze und mich vor Impulsen, Ansätzen, Möglichkeiten, neuen, wiederentdeckten, zurückerkämpften gar nicht mehr zu retten weiß? Getrieben, gepeitscht, beschleunigt – Bilder für das Unwesen einer Leistungsgesellschaft, die sich alles leistet, solange es sie kein Involviertsein kostet, und die von den sehr wohl überlieferten Aufgaben der Kunst, der Musik, des Tanzes, des Schauspiels und der Literatur so wenig eine Ahnung hat, wie diese dem seichten Vor-sich-hin-Dümpeln noch etwas entgegenzusetzen wissen. Hilflos wie ausgediente Gespenster fliegen die Künste hin über ein plastikverseuchtes Meer, in dem Kadaver und Leichen treiben, und stellen bestenfalls die um sich greifende Panik vor der Sinnleere dar. Alternative? Keine. Wie die alte Utopie ist die postmoderne Alternative ein kontaminierter Begriff.
Vier Dinge braucht man, um ein Gedicht zu schreiben: einen Zettel, einen Stift, eine Tasche und den wachen Sinn. Immer wünschte ich, letzterer würde genügen, das Gedicht, das mir durch den Kopf geht und das mich wach bleiben lässt, bräuchte weder Niederschrift noch Speicher.
Doch der Schwarm Kapsturmvögel, den ich beobachtete, als ich in der Antarktis war, und bei dessen Blinken in Form eines changierenden Schachbretts mir augenblicklich ein Gedicht vorschwebte – einfach deshalb, weil ich so ein vorbeischwirrendes lebendiges Blinken noch nie gesehen hatte –, er bleibt ein Pulk Vögel, in dem vieles vorkommt, nicht aber ich, solange ich mich an dem Gedicht nicht versuche. Die Kapsturmvögel und ich: Oft scheint mir, nur wegen diesem „und“ schreibe ich noch Gedichte.
Wäre ich auf einer Insel gestrandet, auf der nichts ist, und hätte bloß Zettel und Stift sowie, um beides zu schützen, eine Tasche, es käme mir nicht in den Sinn, eine Erzählung oder gar einen Roman zu schreiben. Ich würde Gedichte schreiben, vielleicht wie John Keats seine Briefe schrieb: Jede Seite doppelt beschrieben, diagonal und über Kreuz, erst von rechts oben nach links unten, dann von oben links nach unten rechts.
Gedichte schreibe ich seit jeher von Hand, auf Blätter und Seiten, die bald kryptische Kritzelanordnungen sind, bevor ich sie zum ersten Mal abtippe, wenn auch nur um zu sehen, welche graphische Gestalt das Gedicht auf dem Bildschirm hat. Dann drucke ich die Vorstufe aus, aber bloß um auch sie mit schnell nur noch mir leserlichen Kürzeln, Pfeilen, Streichungen, Zeichen und immer winzigeren Wörtern zu überkritzeln. Ich will damit sagen: So wichtig der Inspirationsraum, der einen neuen Text bedingt oder vorgibt oder sogar eingibt (die Antarktis, die Fremde – die überall ist), und so wichtig darin die Bewegung, die dem Gedankengang, dem Lauf der Wörter, der Verse und Sätze zum Vorbild wird (die Kapsturmvögel, das Irritierende – das überall ist), genauso wichtig ist der Schreibprozess selbst, die Auseinandersetzung mit dem Vorgegebenen und Vorgefundenen („Material?“ – „Nein.“) und das Spüren des eigenen Körpers beim Schreiben – denn nur dann bin ich da, spüre was auf der Haut (und das macht Sinn), und bin nicht in jedem Augenblick bloß meine eigene Erinnerung. Und daher geht es wirklich um das Und, um den Zusammenhang, der zugleich Unterschied und die Membran ist, die zwischen den Erscheinungen („Erscheinungen?“ – „Ja.“) schwingt … und … und … daher geht es um die schwingenden Räume zwischen dem „wahrhaft“ und dem „wahrlich“ und dem „ernsthaft“.
„Er wahrlich liebte die Sonne …“ und „Er ernsthaft liebte die Sonne …“ und „Wahrhaft war sein Wohnen im Schatten des Baums …“ Oder war es „ernsthaft“? In der Fahne des erst nach seinem Tod erschienenen Gedichtbands „Sebastian im Traum“ änderte Georg Trakl die beiden Verse in seinem „Kaspar Hauser Lied“ hin und her, her und hin, wieder zurück und doch noch einmal neu. Wie liebt man die Sonne? Wie liebte Kaspar Hauser sie? Wie wohnte er, der die ganze Kindheit hindurch in ein lichtloses Verlies gesperrt gewesen sein soll? Ernsthaft, wahrhaft, wahrlich? Und in diesem Dunkel, wenn man da zum Spielen nur dieses eine kleine Holzpferd hatte, wer würde kein Reiter sein wollen?
Von meinen Erzählungen und Romanen gibt es dagegen so gut wie keine handschriftlichen Vorstufen, allenfalls einzelne Notizen zu Figuren, Orten oder Dia­logen. Als ich vor einiger Zeit eine Neuübersetzung von F. Scott Fitzgeralds Roman „The Beautiful and Damned“ las, notierte ich mir für ein eigenes neues Manuskript: „Drei Buchteile wie bei Fitzg.: 1. Eine Frage des … 2. Eine Frage der … 3. Keine Fragen mehr“. Die folgenden Notizbuchseiten sind dagegen vollgekliert mit Entwürfen von Versen und Strophen eines Gedichts über einen Nachmittagsspaziergang durch das sommerliche Buenos Aires.
Merkwürdig auch, dass jedes meiner längeren Prosamanuskripte mit einem anderen Gerät entstand. „Die Stunden des Flugbootes“, ein 600-Seiten-Roman, den ich mit 21 aufgab, schrieb ich noch mit Bleistift – wobei selbstgestecktes Ziel war, täglich zumindest ein Wort zu Papier zu bringen. Den Roman „Salomond“ tippte ich auf einer schwarzen Adler-Reiseschreibmaschine, deren „e“ nicht funktionierte, weshalb ich auf 220 Seiten ein jedes handschriftlich nachtrug. Die mit einiger Verspätung dem jungen Peter Handke nacheifernde Erzählung „Blaufuß“ (beendet mit 25, veröffentlicht nie), entstand auf meiner Großmutters olivgrünen Olivetti aus der Konkursmasse ihres Kolonialwarenladens, eine so schwere Maschine, dass man sie nur zu zweit tragen konnte – was immer schön war und heiter stimmte. Sie und die Adler standen später jahrelang einträchtig in ihren Kästen unter der Treppe, um erst vergessen und schließlich auf den Müll geworfen zu werden.
Als eine Art digitalen Manuskripteschrank erstand ich meinen ersten Computer, einen Apple Performa mit 4 MB Festplatte, und schrieb darauf mit geröteten Augen und entnervt von seinem Brummen meinen Debütroman „Der junge Fordt“. „Ein langsamer Sturz“ war der erste Roman, den ich auf einem Laptop schrieb, einem Notebook 1500, das mir chronische Schulterbeschwerden eintrug und dessen morgennebelgrauer Bildschirm bald für immer erlosch. Geliebt habe ich das 1800er Powerbook, auf dem ich fünf Jahre lang „Der eiskalte Himmel“ schrieb. Denn als mein Bruder, der Elektroniker ist, es durchgecheckt hatte, vertraute ich dem kleinen grauen Klappapparat blind und begann auch außerhalb meines Schreibzimmers zu schreiben, in Zügen, Hotels, auf Balkonen und in einem Wäschezimmer von der Größe eines Ballonkorbs. Leider gehörte das Gerät meiner damaligen Frau, und mit ihr verließ mich auch dieser treue Begleiter.
Wäre es anders gekommen, hätte ich dann weitere Romane auf dem Powerbook geschrieben? Wären sie die Bücher, die es heute gibt, oder sähen sie anders aus? Wer kann es sagen. Im Internet fand ich seinerzeit ein gebrauchtes iBook und nahm es wenig später in die Antarktis mit, um an Bord der „Bremen“ an „Wie wir verschwinden“ weiterzuschreiben. Nur schrieb ich dort in meiner Kabine mit Blick auf Weddellrobben, Kapsturmvögel und Schwarzbrauenalbatrosse kein Wort an dem Roman, der im heutigen Versailles spielt, aber zurückführt in das Dorf, in dem Albert Camus tödlich verunglückte. Stattdessen schrieb ich mit der Hand eine Handvoll Gedichte und tippte ansonsten einen Monat lang Beobachtungen in eine Datei namens „Antarktis.doc“, aus der sich mein Reisejournal „Antarktika, Antarktika“ entwickelte.
Ob Kaspar Hauser wirklich der um die Thronfolge gebrachte Erbprinz von Baden war oder doch bloß irgendein armer Mensch, spielte vielleicht für ihn und seine vermeintlichen Peiniger eine Rolle. Für die Wissenschaft ist er wieder zu einem Niemand geworden. Nur ist heute jeder ja Kaspar Hauser, tastet sich durch seine Unwirklichkeit und steht leicht wankend und stotternd da auf einem digitalen Marktplatz, um traurig staunend zu verkünden: „A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is!“ Noch Jahre nach der Flucht oder Freilassung aus dem unbekannten Kindheitskerker und dem Aufgegriffenwerden auf dem Nürnberger Unschlittplatz konnte Hauser bei tiefster Dunkelheit lesen, wird behauptet. Er soll botanische Zeichnungen von Pflanzen aus seinen Träumen angefertigt haben, „Blumen, die es auf derer Welt gar net gibt“, nannte sie seine Wirtin Klara Biberbach, die ihn am liebsten erdrosselt hätte für seine Sanftmut, sein Anstaunen noch der kleinsten Dinge und seine geliebten schimmernden Westen, mit denen er draußen umherschritt wie in einem Garten Eden, den nur er sah. Beim Blick aus dem Fenster soll Kaspar Hauser gemeint haben, die Welt komme ihm wie auf Glasscheiben gemalt vor, ein Eindruck, den ich schlagartig nachfühlen konnte, als ich die Stirn an die Sicherheitsfenster des Abenteuerkreuzfahrtschiffes presste und zwischen Tafeleisbergen hindurchfuhr, die größer waren als Hamburg oder Wien.
Sicher, durch den Computer hat sich mein Schreiben verändert, aber doch nicht stärker, als es immer aufs Neue geprägt wird von Menschen, Orten, Reisen, Geschichten, neuen Einflüssen und alten, vor allem aber vom Lesen und Betrachten. Mein Laptop ist Zettel, Stift und Tasche in einem, für Konvolute, die mir ansonsten die Nähte sprengen würden und in deren Papierflut ich Notizen für ein Gedicht nicht wiederfände. Von den vier Dingen, die ich brauche, um auf meine Weise mit der Welt in Kontakt zu bleiben, stellt er drei dar. Das vierte ist ein unerfüllbarer, aber gerade deshalb lebendiger Wunsch: Könnte der wache Sinn doch genügen.
Was mag Schiller wohl empfunden haben, wenn er den Duft der alten Äpfel roch, die er nur aus diesem Grund in sein Schreibpult legte? Eine armselige Vorstellung, dass der süßliche Geruch des beginnenden Vermoderns eine erhöhte Synapsentätigkeit in Friedrich Schillers Gehirn auslöste. Ich frage mich, welchen Obstgarten er vor sich sah, und in welchem Herbst er durch welche Felder lief. Wie jung ließ ihn der Apfelduft wieder sein? Wahrscheinlich stand ihm ein bestimmtes Licht vor Augen, ein Gold, ein Grün, ein Wind, ein Gras, ein Kleid.
Es ist nicht immer leicht, diese Öffnung der Welt in alle Richtungen und Zeiten auszuhalten, wie sie das Schreiben im besten Fall bereithält. Wenn Trakl einem Freund mitteilt, er habe seine Zuflucht wieder zum Chloroform genommen, so spricht er damit aus, was so viele Künstler nach ihm wortlos mitmachten (ja, mit-), auch deshalb, weil es sie selber verstummen ließ, nämlich hineinzurennen in eine anfangs beseligende, später nur noch fürchterliche Illusion. Wobei ich es für einen ebenso großen Trugschluss halte, Trakls Dichtung wesenhaft mit seinem Rauschmittelkonsum in Verbindung zu bringen. Jeder, der Drogen nimmt, um schreiben zu können, merkt schneller als ihm lieb ist, dass er lediglich einen immer gefräßigeren Automatismus füttert. So ist es nichts als ein Trinkerklischee, wenn man Fitzgerald nachsagt, er hätte „Tender is
the Night“ ohne Rotwein gar nicht schreiben können. Denn die Frage ist nicht, welchen Zustand der Dichter herstellt, damit er schreiben kann, sondern wie er dem ihn um den Verstand bringenden Reichtum tagtäglich standhält – und das mit einem Sensorium, das immer einsamer macht. Wer sich ans Schreiben macht, sagt Marie Luise Kaschnitz, versucht den Blick zu lenken auf die wunderbaren Möglichkeiten des Menschen, auf seine tödlichen Gefahren und auf die bestürzende Fülle der Welt.

 

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