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Stille Post
Landvermessung
No. 4, Sequenz 5
Von Sterzing weiter südwärts

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen ins Trentino führt. Andrea Winkler fährt von Sterzing nach Klausen, um von dort aus Barbian bzw. Bad Dreikirchen kennenzulernen, und macht schlussendlich einen Abstecher nach Meran. Dabei begnügt sie sich mit dem Anblick schroffer Bergspitzen, verwandelt sich in einen Gecko und hört Musik, die wie ein Gruß aus der Ewigkeit klingt.

Kein Zweifel, ich reise. Der Bahnhof, an dem ich kehrtmache, wird mir für lange Zeit als der schönste, den ich die letzten Jahre entdeckt habe, in Erinnerung bleiben, und der Geruch des Zuges, in dem die Reisenden die Fenster noch selber öffnen dürfen, wird mich tiefer in den Sessel sinken lassen. All das bedeutet übrigens so wenig wie das Gras, das überall neben Schienen wächst wie aus steinigem Boden, und das, gleichviel wo, die seltsamsten Empfindungen in mir weckt. Plötzlich, von einer Sekunde zur andern, wiegt es nichts mehr, dass Züge von da nach dort fahren, und Reisende schwere Koffer hinter sich her rollen, Koffer voller austauschbarer, beiläufig erworbener Dinge, die bei einigen falschen Bewegungen sich über Gehsteige und Vorplätze ergießen. Und was ich vergessen will, wiegt auch nichts mehr, wiegt noch weniger als das, was ich mitnehme, einen einzigen Satz im Notizbuch: Mit der Schnelligkeit des Blitzes durchschlage den linden Frühlingswind. Wovor soll sich fürchten, wer im Augenblick der Gefahr derartiges zu sagen weiß? Wolken ziehen vorüber, vermehren, verdichten und verlieren sich wieder, und wo auch immer ich aus dem Zug steige, regnet es und im Handumdrehen wird der Platz, die Straße, der Waldweg von Menschen leer gefegt sein, so leer, wie Orte es sein können, durch die eine Gasse mit Geschäften zieht, wo verkauft wird, was überall in der Welt verkauft wird, unter dem gleichen Namen und einer unerschütterlich gewordenen Gesetzmäßigkeit. Wenn sich die Verkäuferinnen aber auf der Schwelle an die Eingangstür der Läden lehnen und hinausschauen, werden die Kleider hinter ihnen durchsichtig und wollen alle gleichzeitig von ihren Bügeln rutschen, um als luftige, freie Gestalten eine Karawane zu bilden, die im Chor HUNGER ruft, DURST, MÜDIGKEIT. Hat jemand etwas anderes zu verrichten als seine tägliche Arbeit, dieses Warten auf Kunden und Gäste, dieses Tragen und Laufen und Verrechnen? Nur gibt es jetzt nirgends warme Küche, und das Gasthofzimmer schaut so traurig in den Korridor, dass die Kellnerin fragt, ob alles in Ordnung sei. „Hier ist es nämlich immer so, tagaus, tagein. Ich wohne im gleichen Zimmer einen Stock höher. Lange Zeit habe ich nicht begriffen, wie man so leben kann, aber mit einer Nachttischlampe geht es. Sie haben die Ihre nicht gefunden? Nehmen Sie Ihre Hand zu Hilfe und tasten Sie die Holzleiste über Ihrem Bett ab, Sie werden den entscheidenden Schalter nicht verfehlen. Wenn der Herbst kommt, fahre ich nach Hause, drei Länder weiter Richtung Osten. Erstaunlich, nicht wahr, dass der Herbst doch noch kommt? Immer wieder glaube ich es nicht.“

Wenn das wirklich geschieht (und es geschieht so sicher, wie sich das Gras neben den Schienen beugen muss, wenn der Wind weht), folge ich im Regen dem Wegweiser, der durch eines der Tore aus der kleinen Stadt hinausführt. Gehen werde ich, gehen, gehen, gehen, und wenn ich nicht weiß, wohin, werde ich mir sagen, egal, ganz egal, denn ein Mensch kann, wo immer er sich aufhält, eine Tür öffnen und gehen, auch wenn er bleiben muss. Wie soll sich ihm dann nicht ganz von allein Naheliegendes in Fremdes und Unbekanntes verwandeln und die Bewegung sich einstellen, die zu bewachen nicht mehr nötig ist? Irgendwo führt sie immer hin, auch wenn sie fehl geht. Da! Der Vogel, der sich in dem hohen Gewölbe der Kirche verirrt hat. Schlägt sein Kopf etwa an die Decke? An die Wand? Die Frauen in den vorderen Reihen sprechen in ihrem schläfrigen Rhythmus die Gebete, die kaum einer versteht, und Simon hilft Jesus das Kreuz tragen. Allerdings kann er nicht anders, man hat ihn gezwungen. Von da, wo ich sitze, sieht es aus, als würde die halbe Kraft der beiden ausreichen, um das Gewicht zu tragen. Simon blickt zur Seite, als verstünde er nicht, und die Hand öffnet und hebt er, als wollte er aus der Luft empfangen, was fehlt. Hat Simon immer noch Hoffnungen? Der Regen verstummt, das Auf und Ab der Gebete zieht sich zurück, das schwere Tor schließt beinah lautlos. Und weiter geht es in ein kleines Dorf, wo aus dem Hahn, der sich in den schönen Dorfbrunnen neigt, kein Tropfen Wasser kommt. Wie viel fauliges Laub auf seinem Grund schwimmt! Da senkt sich ein anderer Hahn ins Bild, ein Hahn, der sich kürzlich aus der Wand eines Museums weit über das Becken unter ihm hinausbeugte, sodass sein Wasserstrahl immer danebenging. Wenn das Wasser nie in sein Ziel strömt und sich nirgendwo sammelt, was ins Leere rinnt, kann ich getrost, am Friedhof vorbei, zurück in den Gasthof gehen, mich an die Bar setzen und mir vorstellen, dass plötzlich ein alter Bekannter hier auftaucht. Und wenn nicht hier, dann drei Städte weiter. Und falls auch da nicht, schicke ich Post, mit Nachdruck an die falsche Adresse: Mir sind seit geraumer Zeit ganz und gar die Hände gebunden; wie es kam, weiß ich nicht. Morgen trinke ich auf dem Platz vor dem südlichen Tor einen Kaffee mit Milch, und bestimmt wird es irgendwann wieder regnen, vielleicht sogar hageln. Sollte ich nichts Bedeutsames erleben, außer den Anblick einer schroffen Bergspitze, nimm es mir bitte nicht krumm. Mir genügt das nämlich lange schon. Wobei es auch sein könnte, dass ich einen Baum treffe, der alle Nadeln verloren hat und doch aussieht, als stünde er inmitten von Grün. Aber das Grün kommt von der Haselnussstaude, die sich um ihn rankt. Nur dass du Bescheid weißt. Jetzt gehe ich schlafen.

Und wieder rollt der Koffer, Obstplantagen fliegen vorbei, Türme, Dörfer, ein Fluss, hohes Gras, Kirchen in der Ferne, Berge und Abhänge, ein Stein. Sitzt ein Reisender aus alten Zeiten darauf, um über den Lauf der Welt nachzusinnen und zu keinem glücklichen Ende zu gelangen? Trotzdem singt er, stetig und wach, und gibt sich am Ende zufrieden, wenn seine Wehrufe im Universum verklingen. Irgendwo, ich wiederhole mich, kommt einer immer an. „Wie viele Stationen sind es noch bis ans Ziel?“ – „Herzlich willkommen, seien Sie, wo immer Sie auch aussteigen, herzlich willkommen. Wandeln Sie durch die Stadt wie ein Toter, wie ein vollkommen Toter, und dann machen Sie, was recht ist.“ In der Mittagshitze, in der alles schläft, schlage ich zuerst die falsche Richtung ein und gehe aus der Stadt hinaus, obwohl ich in ihrem Zentrum wohne. Arbeiter sitzen im Schatten neben den Straßen, die sie ausgraben, und Mütter schieben an ihnen vorbei ihre Kinder und telefonieren. Ein Busfahrer hupt, ein Autofahrer schreit. Nur die Vögel klingen hier anders, lauter, drängender, und, dies wahrnehmend, werde ich mich erinnern, dass ich hier schon einmal war, zumindest im Traum. Ich lief durch die Stadt, lief und lief, als suchte ich jemandes Wohnung, ohne zu wissen, wo sie lag. Ich lief und lief, und eine alte Dame, die so groß war, dass sie fast die Wolken berührte, schüttelte lächelnd den Kopf, als sie an mir vorüberging. Da verwandelte ich mich in einen Gecko und glitt die Hausmauern entlang, nur Gasthöfe, einer nach dem andern, nicht ein einziges Haus, in dem einer wohnen konnte, der nicht auf Durchreise war. Weiß jemand, wo der wohnt, den ich suche? Mir war der Name jäh entfallen, aber kaum, dass er namenlos geworden war, stand ich ganz sicher vor seinem Haus, mit beiden Beinen auf fester Erde. Nur hörte ich es von überall her NEIN rufen, NEIN, NEIN, NEIN. Ich wurde davon so müde, dass ich mit einem Schlag nichts mehr wollte, und schlug eine andere Richtung ein und ging, als bewegte ein anderer meine Gliedmaßen und zwar so, dass mir nichts mehr zu tun blieb. Macht das Sinn, dass ich in einem Vergnügungspark endete, auf einer Bank, wo ich einschlief? Bis heute begreife ich nichts davon.

Aber gleichviel, denn kaum, dass ich durch das Stadttor biege und etwas vom Rauschen des nahen Flusses ahne, verschwindet der letzte Wunsch zu verstehen in seinen Wellen. Etwa nicht? Darüber hinaus wird es mich beruhigen, dass das dunkle Zimmer des Hotels auf eine Gasse mit einem Lokal schaut, in dem ein einziger Gast seinen Kaffee umrührt. Und wie erst der Wind, der die Vorhänge in den höher gelegenen Stockwerken aufbläht, während die Rezeptionistin, die neben mir hergeht wie eine Erinnerung an mich selbst, zu mir spricht: „Wenn Sie nach zehn Uhr abends kommen, nehmen Sie den Hintereingang. Das Schloss klemmt, aber kein Problem für Sie. Rütteln Sie einfach ein wenig an den Gitterstäben, dann springt die Tür sogar von allein auf. Dann überqueren Sie den Parkplatz und schließen mit dem Zimmerschlüssel den zweiten hinteren Eingang auf. Sehen Sie die Dame die Stiegen hinaufgehen? Dort ist es. Wenn es so dunkel ist, dass Sie es schwer haben, den Lichtschalter zu finden, nehmen Sie Ihr Telefon zu Hilfe und erhellen Sie das Stiegenhaus mit ihm. Sie haben doch immer eins bei sich?“ Kann sein, aber wahrscheinlicher ist, dass ich es vergessen werde. Wozu es brauchen, wenn ich vor dem Tulpenbaum stehe, auf dem eine einzige Tulpe blüht? Wozu es brauchen, wenn die alte Frau, die den Rollator vor sich herschiebt, mich grüßt, als wäre ich, wenn ich nur wollte, die Person, deretwegen sie jeden Tag auf den nächsten wartet? Ich werde die Augen schließen, weil ich es nicht bin, und auf die Figur deuten, die in der Steinrosette an der Wand der alten Kapelle auf dem besten Weg ist, aus ihrer Mitte hinauszugehen, und zwar so, dass sich die Rosette selbst mitdreht. Dass sie nichts weiter als eine mit der Zeit entstandene Verfärbung ist, ändert nichts daran, dass sie sich eben jetzt aus dem Kreis hinausbewegt, hinaus aus dem Zentrum, in dem sie stillsteht, so vollkommen wie ein Baum an einem Sommertag, an dem sich kein Windhauch regt. Das verstehe einer, am besten der, der nicht einmal zufällig zur Tür hereinkommt! Ich flüstere, am Fluss sitzend, in sein stetes Rauschen stille Post, auf dass an seinen Ufern, wo alles verboten ist, was Menschen Freude macht, Unkraut aus dem Rasen wächst. Seit einiger Zeit verstehe ich noch weniger als zuvor, und ich möchte immer noch weniger verstehen. Das wird allerdings noch so lange dauern wie der Tulpenbaum Zeit braucht, um in vollkommener Blüte zu stehen, was, wie ich mir sagen habe lassen, hierzulande kaum jemals geschehen kann. Tatsächlich wachsen hier Maulbeer- und Granatapfelbäume. Auch das verstehe ich nicht, finde es aber sehr schön. Ich möchte sprechen wie ein Zirkusdirektor, der weiß, dass er an einem Ort gastiert, wo nie auch nur ein einziger Besucher hinkommt. Die leeren Sesselreihen sind ihm die größte Freude, wenn er das Mikrofon zur Hand nimmt und den Elefanten ankündigt, der seinen Rüssel in die Höhe streckt und in den Sand taucht. Wie schön, dass alle Kunststücke so belanglos geworden sind wie dieses hier und seine Stimme sich in Gärten überträgt, wo keiner sich aufhält. Ausgestorben sind alle Orte, die er bereist, und leer sind die Bahnhöfe, die zu den Orten gehören. Aber mich macht die Tatsache, dass er, angekleidet wie eh und je, im Sand steht, vollkommen glücklich. Welche Fragen soll diese Handlung denn hervorrufen? Wen soll sie erschüttern? Ich sollte ins Hotel und schlafen.

Fest steht nämlich, dass auf diesen Tag ein anderer folgt und ich aufwachen werde, schon allein, um einen Weg zu gehen, den jeder geht, der hier durchreist. Er führt an Bäumen vorbei, die aussehen, als trügen ihre Zweige Perücken, die wie buschige Staubwolken um sie herum schwirren, und an Hinweisen, die niemand je vergisst: Halten Sie inne, Werden Sie ruhig, Genießen Sie die Ansicht der Berge, Danken Sie dem Stifter dieser Bank, Besinnen Sie sich, Tanken Sie Kraft. Die Sessel des Lifts, der an meinen Augen vorüberzieht, schaukeln im Wind, und in einem von ihnen werde ich mich wiederfinden, damit es so sei wie in den Träumen, wo die Zeit zu kurz ist, um eine Entscheidung zu treffen, ehe man einsteigt. Ich will fortan nur noch solcher Übung wegen reisen, und reisen wie einer, der sich in alles fügt, was geschieht, sogar in Verbotsschilder, die keinen Sinn ergeben, und Wegweiser, die in die Irre führen. Ich werde es singen, summen, pfeifen und trällern und mich dabei nur noch an niemanden wenden, mit solcher Konsequenz, dass der Boden davon Risse bekommt. Was für schöne Erinnerungen sich da auftun! An Menschen, die von Zuhause aufbrachen, mit nichts in der Hand als einem Beutel voller Dinge, die verloren gehen, und ein paar Liedern, die alle Jahreszeiten überdauern. Wie unbemerkt sich ihre Zukunft zwischen Augenblicken sammelte, in denen nichts sich drehte als das Rad, über das im Fluss Wasser lief, und wie entschieden ihre Gegenwart nichts anderes war als stetes Tropfen von der Dachrinne. Wie sollte von da ein Weg nachhause zurückführen? Darum weiter und vorbei an salbeiblättrigen Zistrosen und Schwänen, die fauchen, weil man ihre Ruhe gestört hat, und vorbei an einem Hang-Spieler, der auf dem Platz vor der Kirche den Verkauf von Trüffeln begleitet. Aber er weiß davon nichts, er weiß von allem um ihn herum nur, dass es da ist, ob er will oder nicht. Er weiß, dass zwischen Morgen und Abend fünf Dutzend Koffer über den Platz rollen und zwischendurch einer stehenbleibt und sich auf den Koffer setzt und die Beine überkreuzt. Der will nicht mehr mehr, jetzt nicht und später nicht. Aber da sitze ich schon an der Promenade unter dem Schirm und sehe Mütter ihre Wägen schieben und telefonieren und Kellnerinnen Brot und Wein zu Tischen tragen. Und weit und breit keiner, der an den Ufern Verbotenes tut, und keiner, der die Füße ins klare Wasser hängen lässt. Aber ein Herr kommt und lädt mich ins Casino ein, nur muss ich dankend abwinken, denn ich würde nicht entsprechen. Wie schön, dass es Dinge gibt, die derart zweifelsfrei sind! Lieber verständige ich mich, wenn es Zeit ist, mit dem Nachbarn aus dem Haus gegenüber. Er beugt sich, wenn alles schläft, aus dem Fenster und raucht, und die Rauchwolken bilden und verlieren sich so zart wie die Worte, die ich regelmäßig an niemanden mehr richte. Wenn meine Zeit hier zu Ende geht, möchte ich, dass alles klar geworden ist, vollkommen klar. Stell dir vor, eine solche Einigung! Die vergangenen Jahre werden wie Zitronenfalter durch die Lüfte schwirren und der Liegestuhl, der alle Entrümpelungen überdauert hat, wird im Garten als ewige Einladung stehenbleiben. Es wird der Zirkusdirektor darin einen Vortrag über den wechselnden Lauf der Zeit halten, und die Musik, die in kleinen Orten von einem zum andern Ende ertönt, derart, dass man nicht weiß, wo sie herkommt, weshalb man nicht anders kann, als in ihr einen Gruß aus der Ewigkeit zu hören. Allerdings wird der Zirkusdirektor im Liegestuhl nicht ein einziges Wort sagen, sondern den Hut lüften und ihn, mit einer angewehten Jasminblüte versehen, auf das Dach des Schuppens legen. Zum Dank würde ich mich nicht verneigen und auch nicht applaudieren, sondern fortfahren zu tun, was ich gerade tue, allerdings so, als würde es von jemand anders für mich getan. Ich glaube, dann wäre es Zeit.

Zeit, den Bahnhof als den schönsten zu rühmen, den ich seit langer Zeit entdeckt habe, so schön, dass ich sehr viel länger als nötig die Milch in der Kaffeetasse umrühre. Die Flaschen und Gläser hinter der Ausschank leuchten gelb und grün in den Raum, genauso, wie es hier sein soll, und die Kellnerin beschreibt mit ihrer Hand einen Berg und schüttelt den Kopf. „So weit hinauf, mit diesem Rucksack? Hier kommt jeden Tag zur selben Zeit Hugo vorbei. Hugo, rufe ich dann, ein Glas Wein? Und Hugo antwortet, er wolle kommenden Sonntag auf den Berg steigen, denn die Wetteraussichten stünden gut, und wer weiß, wie lange er noch lebe, und er könne doch an seinem Ende nicht nie auf diesen Berg gegangen sein. Darum warten Sie doch auf Hugo und nehmen Sie ihn mit. Sie sehen mir ganz danach aus, Sie sehen so freundlich aus!“ Schade, dass ich sie enttäuschen muss, denn ich trage den Rucksack nicht den Berg hinauf, sondern ziehe seine Räder heraus und rolle ihn hinter mir her in den Zug, wo die Reisenden die Fenster noch selber öffnen können und es nach trockenem Staub und Sommer riecht, derart, dass ich mich daran erinnern werde, während ich alles andere vergesse. Dann werde ich nichts denken, nichts, nur dass ich hier sitze und in den Garten schaue, als wäre der Garten die Welt, und der Vogel, der vor meinen Augen hin und herüber streicht, ein Wanderer, dem ich bald zu folgen habe. Soll ich den Fuß in eine alte Gasse, auf einen holprigen Gehsteig oder einen Waldweg setzen? Sprechen werde ich so gut wie nichts, außer hie und da ein entschiedenes JA, zum Beispiel, wenn einer, der sich, ohne es zu bemerken, als Indianer verkleidet hat, den Speisewagen betritt und fragt, ob er hier richtig sei. „Ich fahre zu einem Konzert in die Hauptstadt, habe allerdings keine Eintrittskarte. Gerne möchte ich jetzt essen und bestelle darum Suppe, Hauptspeise, Nachspeise. Den ganzen Tag habe ich im Haushalt geschuftet, jetzt ist Feierabend. Die Kellnerinnen hier sind sehr hübsch, aber nicht die schnellsten. Soll mir recht sein.“ Was für ein Jubel, wenn einer wie dieser auftaucht! Es singt wie das Gartentor, das an den Zaun schlägt, und es pfeift wie das Signal, das den Zug ankündigt, der alle zweieinhalb Stunden durch den Ort fährt. Der Weg zum Bahnhof führt über eine Brücke und die Brücke führt über einen Fluss, in dem winters wie sommers Schwäne dahinziehen; und auf der Steintreppe kann ein jeder innehalten, die Füße ins Wasser hängen und den Traum der letzten Nacht vergessen: grundlos eingesperrt in einem Land mit der übelsten aller Regierungen zu sitzen und auf die Gunst der Freunde zu warten, die, hoffen wir es, keine Mühe scheuen, um den Irrtum aufzuklären. Wer möchte da nicht lieber hier sitzen und den Augenblick erwarten, in dem der Streifzug der Vögel zwingend wird? Ich will nichts mehr tun, bevor es Zeit ist. Lieber soll der Wind in den Blättern rauschen und die Fliege ums Kerzenlicht summen und die Vogelscheuche ihren Dienst tun, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden.

 

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