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Anti-Ideologen-Ideologien, Sarkophag-Phobien und weitere WächterInnenperspektiven

Die in Berlin lebende Tiroler Theaterautorin Petra M. Kraxner wurde von der Redaktion in eine unweit von Innsbruck gelegene Großstadt geschickt, um dort der Frage auf den Grund zu gehen: „Wie verändert sich durch das wochenlange Hinschauen der Zugang zu zeitgenössischer Kunst?“ – Gefunden hat Kraxner drei Figuren, die den Durchblick behalten und – ey, common! – Wiedergeburt für möglich halten.

I KOLLEGIN P.ONTIAC FIREBIRD TRANS AM

10 Uhr Schichtbeginn. Wie seit bereits vier Monaten dieselbe Ausstellung: Wrack-Wiederauferstehung – unser Titel. So sehr dem Kollegen C., der heute schon wieder zu spät dran ist, die Särge und trüben Skulpturen auf den Magen schlagen, weil er sie extrem unheimlich findet, das Zarterl, so sehr gehen die mir am Arsch vorbei. Als hätte der Metallhaufen da drinnen irgendeine größere Bedeutung.

Eisen, Bronze, Messing, Gold – da muss man doch nur eins und eins zusammenzählen und man weiß, was es mit dem ganzen Klimbim auf sich hat: Ein überhebliches, aufgeblasenes Ego-Arschloch, das arg-schwer darunter leidet, dass es an nichts anderes als an sich selbst denken kann, geht ein paar Jahre lang in sich und kommt zum Schluss, dass sein Leid nur gedrosselt werden kann, wenn es nicht nur von sich, sondern auch vom Rest der Welt geliebt wird. Und das geht klarerweise am besten, indem man sich schmückt wie ein Vieh bei der Balz. Denn seit jeher gilt: je größer, je schräger, je schwerer und wertvoller – umso mehr Aufmerksamkeit bekommst du. Also karrt es ein paar Tonnen hochwertiges Metall zusammen und macht, damit es nicht so ausschaut, als würde es hier nur ums Materielle gehen, weil das mögen die ganzen Pseudolinken-Kunst-Gutmenschen nicht, einen verdammten Riesenevent daraus, poliert die Scheiße mit ein paar Geschichten und tiefgründigem Vokabular auf – und schon rennen ihm die ganzen anderen gestörten Deppen die Bude ein. So einfach ist das.
Also wie die das alle ernst nehmen können? Ich weiß nicht, das ist doch, wenn man genau hinschaut, so was von offensichtlich nicht unheimlich, dass ich mir wirklich Sorgen um den Kollegen C. machen darf.

Er sah schlecht aus, der Kollege C., die letzten Wochen. Er hat ziemlich übel gerochen, nach Schweiß und noch irgendetwas. Seit seiner Scheidung kann man ihm direkt beim Zerfall zusehen. Arme Haut.

Ob er säuft? Muss ja nicht gleich jeder saufen, der in Trennung lebt. Obwohl es mir ja so vorkommt.

Alles Säufer, alles Singles. Da wundere sich noch wer über die omnipräsente Resignation. Zurückhaltung auf allen Ebenen. Nur niemanden zu nahe kommen lassen. Nur nicht zu sehr involviert werden, in egal was.

Auf der anderen Seite: Die ganzen ekelerregend-übermotiviert Übereifrigen, zu denen definitiv die Kollegin F. gehört. Was die heut früh schon wieder für spirituelle Scheiß-Sprüche abgeliefert hat: „Jeder Dienstbeginn ist wie eine Wiedergeburt.“ Ob die das alles ernst meint? Oder ob sie sich doch ein bisserl über die Ausstellung hier lustig machen wollte? Ich befürchte ja fast, dass nicht. Immer gut gelaunt. Immer besserwissend. Immer einen Lösungsansatz auf der Zungenspitze. Optimistisch zum Erbrechen. Blutjung, zukunftsorientiert, erfolgszentriert.

Sie hat ihr Leben noch vor sich. Sie lässt keine Gelegenheit aus, mir das mitzuteilen.

Das hier, diesen Job hier, sieht die Kollegin F. als energiespendendes Projekt, als Geschenk, auf ihrem Weg nach oben, wo das Licht noch intensiver ist. Überhaupt hat es die Kollegin F. mit Licht. Jedes Mal, wenn eine Minute übrig ist, monologisiert sie über das Licht hier, in diesem Haus hier und überhaupt überwältige sie diese Kraft hier, die von diesem Ort ausginge, schon als ganz kleines Kind wusste sie, dass sie irgendwann in ihrem Leben, in einem von Energie durchtränkten Gebäude wie diesem hier viel Zeit verbringen werde, damit das konzentrierte Potential auf sie überginge. Aus dem Gemäuer / dem Kunstwerk hinaus, in sie hinein. Mir bleibt an dieser Stelle meistens die Spucke weg, was ihr nie auffällt, wie auch, sie labert so oder so weiter. Heut früh über Kraftorte wie dieses Museum hier – das Museum überhaupt. Münchens monumentale Bauwerke übten bereits als Kind im Mutterleibe große Reize auf sie aus. Ihre Mutter, die sonst eher ungerne ins Museum ging, fühlte sich während ihrer Schwangerschaft magisch von Häusern der Kunst, Kathedralen, Regierungs-, Universitäts- und Theatergebäuden angezogen.

Also ich fühle mich von nichts angezogen, in dieser Ausstellung schon gar nicht.


Gut, es gab schon mal das ein oder andere Bild, das ich recht ansehnlich fand, vor ein paar Jahren mal, ein Gemälde, richtig gut gemacht, richtiges Handwerk, eine Frau und ein Kind stehen an einer Lacke, die Farben eisig, der Himmel glitzert im See – blau, weiß, grau in hundert Schattierungen – echt gut gemacht, die Spiegelung vor allem – das Mädchen, die Wolken –
zerbrechlich, wie Eis …

Aber dass ich daraus gleich so ein Trara mach, so eine Ideologie konstruier, wie die Kollegin F., also ich –
sicher nicht.

Mein Gefühl ist immer das gleiche, wenn ich die Frühschicht bei den Wracks hab: Der Schritt zügig – durch den ersten Raum durch – vorbei am Guss, der ausschaut wie ein überdimensionaler, mit Rostnägeln durchzogener Maulwurfhügel, Hauptsache noch ein Hackerl aus Gold obendrauf – weiter durch den zweiten Raum, in dem der kopfstehende Dachboden, der ein Scheiß-Holzschiff – oder umgekehrt, das Scheiß-Holzschiff, das einen auf dem Kopf stehenden Dachboden darstellen soll, biege rechts in den Raum Nummer 12, wo ein paar Bücher auf Salzblöcken herumgammeln, an der Stelle kommt’s mir immer: „Bravo Herr Künstler, was für ein Meisterwerk Herr Künstler“, manchmal lach ich vor lauter Hohn laut vor mich hin, bevor ich im Raum 10 die Zinkguss-Kronen-Teile checke.

Da liegen sie, wie immer, wo sollte der Krempel auch hin verschwinden, obwohl, wenn ich nicht Wächterin, sondern Diebin wär, würd ich wohl am ehesten den vergoldeten Kühlergrill als Beute anvisieren.

„Hätte, wäre, würde sind Wörter, die Gedankengänge dummer, schwacher Menschen einleiten“, hat die Kollegin F. heut früh gesagt – das Gör hat die Weisheit nicht nur mit Löffeln gefressen, sondern von Geburt an aus der Scheißmilch ihrer Mutter gezuzelt.

Wurst. Das berührt mich nicht, sicher nicht, auf mich färbt kein Raum ab, kein Kunstwerk und kein Kollege. Mein Schritt ist fest. Links abbiegen. Eine Runde um den eingerosteten Springbrunnen – welthaltig, rätselhaft und total nichtssagend aussagekräftig, wie alles hier – unnütz, unschön und mir eh total gleichgültig. Job ist Job, also weiter in Raum 7, vorbei am 25-Tönner – „der größte nichtindustrielle Eisenguss der Geschichte“, da haben wir’s wieder, die Guinness-Buch-der-Rekorde-Mentalität – und wenn man ganz nüchtern draufschaut, liegt da einfach ein plattgestampfter Kuhfladen willkürlich im Weg herum.

Also wie bitte kann man so etwas unheimlich finden? Da muss man sich ganz schön in Zeugs reinsteigern. Der eine so, die andre so, obwohl’s die Kollegin F. anscheinend besser verträgt, das Hineinsteigern, als der Kollege C., der übrigens immer noch nicht aufgekreuzt ist! So geht das nicht weiter mit ihm. Irgendetwas muss ich da unternehmen. Nur was?

Wenn er zwischen 10.30 und 11.00 Uhr kommt, werde ich ihm eine Broschüre der Anonymen Alkoholiker ins Schließfach legen.

Die Tür öffnet sich.

Der erste Besucher.

Montag 10.11 Uhr und schon in der Reinkarnations-Hölle.
Schau ihn dir an, den hörigen Lulatsch. Wie er brav stehenbleibt, vor jedem Scheißschildchen. Wie er brav jeden Scheißhinweis liest. Wie er seine Fresse brav in das Scheiß-Ausstellungsheftchen steckt. Übel, mir ist richtig übel, Halsweh, fiebrig, vielleicht hat mich die Grippe erwischt. Die Chefin kommt. Wehe, der Kollege C. hat sich schon wieder krankschreiben lassen!

II KOLLEGE C.HRYSLER CROWN IMPERIAL

Sarkophag. Schwefel. Vogelleiche. Die halbe Nacht: Sarkophag. Schwefel. Einschusslöcher. Blut auf weißem Federkleid. Schwarze Schatten ziehen lange Gesichter. Wenn der Tag sich in die Nacht schleicht. Was passiert mit mir? Wo ist der Rest von mir hinverschwunden. Ich bin nur ein Bruchteil meiner selbst. Sie ist weg. Aus mir hinausgerissen. An ihrer Stelle eine goldene Kugel. Durch mich hindurch. Sie steckt im Schnabel. Fluss ohne Wiederkehr. Ich toter Ibis. Aufwachen. Aufwachen. Ich bin angekommen. Ich laufe durch den Flur. Ich bin hier. Ich bin zerstückelt. Ich bin lediglich ein Teil. Von mir zumindest.

Schichtbeginn.

Die Uhr hat Speed gezogen.
Fester Schritt aus Vaseline.

Was macht mein Körper? Wieder. Mir zuwider. Immer wieder. Folgt mir nicht. Steuert weiter. Vorbei am Wiederauferstehungseingang. Meine Schicht. Ich muss. Nein. Ich kann nicht. Vorbei. Nichts wie weiter. Richtung Projektion von Sigmund Freud, dem Maler. Vermeiden. Das Vermeiden meiden. Sich nicht allem aussetzen. Nicht länger verkraften. Verschwindet, ihr. Bilder. Schieß euch weg. Ein, zwei, drei Sekunden. Ruhe. Vorahnung. Zu mächtig. Zu mächtig seid ihr. Eine geballte Ladung Bilder bumerangt retour.

Schwanke ich? Bebt der Boden? Ich stehe. Ich habe es bis hierher geschafft. Ich bin aufgestanden. Ich habe mich angezogen. Ich bin mit dem Bus hierhergefahren. Ich weiß, dass ich zu spät bin. Aber. Ich bin hier. Alles ist gut. Ein Schritt folgt auf den nächsten Schritt. Montag morgen. Erste Schicht. Ich bin zu spät. Aber. Ich bin hier. Ich bewege mich fort. Ich konzentriere mich auf mich. Ich atme aus. Ich werde ruhiger. Die Ruhe im Chaos finden. Die Details wahrnehmen. Die Skizzen, die zarten. Hinter der Vitrine, versteckt. Die geöffneten Bücher. Die Buchstaben. Die Striche. Die Einfachheit. Schwarz auf weiß auf Salz.

Wenn ich mich auf das Einfache fokussiere, kann mir nichts passieren.
Es ist lächerlich. Es sind nur Dinge. Sie können mir nichts tun.
Sie umgeben mich.
Sie durchdringen mich nicht.

Es ist lächerlich. Ich muss Sicherheit ausstrahlen.

Ich bin aus Fleisch / durchdringen / mich nicht.
Durchlöchern. Kugel aus Gold.
Ein Schuss.

Nein. Bitte nicht.

Stehen bleiben. Umdrehen. Stehenbleiben. Weitergehen.
Die Hände tropfen von mir ab.

Pulsgalopp.
Ich kann nicht. Ich ertrage das nicht.
Diese Bilderwucht.

Heute ertrage ich sie nicht.
Tauschen. Ich muss die Schicht tauschen. Die Projektion lockt, das Modell auf Freuds Couch, Goldkettchen am Fußgelenk. So tun als ob. Kollegin F. soll sich um die Sarkophage kümmern. Zu schwer die Bilder. Bis in den Traum verfolgt. Eisen, Blei, Messing. Tod durch Symbol-Überdosierung. Kupfer sticht durch mich durch.

Erschossener Vogel
bleib wo du bist!

Meine Füße wissen, wohin sie gehen. Ganz unbewusst. Dr. Freud wie immer zur Stelle. Vertieft in seinen Block. Lieblingsbild im Treppenhaus. Schritt festigen. Im Augenwinkel die Chefin. Schweiß tropft. Weitergehen. Nicht umdrehen. Sie ruft. Nein. Sie brüllt meinen Namen.

Stehenbleiben.

Nicht schwanken.

Hände falten gegen’s Flattern.

Was will sie? Sie sagt etwas. Wörter prasseln ab an Salzblöcken, die sich fiebrig vor mich schieben.

Ein Vogel-Kreischen ist alles, was durchdringt. Ich nicke. Nicke ich? Sie klapst mir auf die Schulter.
Sie macht kehrt. Sie geht. Sie geht!

War sie real?

Freud wie ist die Diagnose?
Therapieerfolg in Sicht?

Ich liege Ihnen zu Füßen, während mein Überbleibsel die Stiege hinaufrinnt.
Er schlussfolgert für mich die Erkenntnis:

a) Die goldene Kugel wird aus mir herausfallen.

b) Ich werde die Kugel werden.

c) Aus den Löchern wächst salziges
Gras drüber.

Egal. Nicht egal!

Es wird besser? Irgendwann. Wie lange?

Warten. Aus dem Weg gehen. Abstand. Grenzen ziehen.

Bin ich richtig? Meine Füße wissen den Weg. Auf meinen Körper ist (noch) Verlass. Kollegin F. starrt mich an. Sie schaut erstaunter als normalerweise. Normal. Was ist normal?

Die Einsamkeit frisst mich von innen auf. Ich bin hohl. Jede Sekunden könnte ich zerfallen.

Ich artikuliere: Tauschen, bitte. Es ist wichtig. Lebenswichtig. Sie hält kurz inne. Setzt zum Sprechen an. Ihre Stimme Honigfluss. Beruhigung bahnt sich an. Sie räumt den Platz. Hinsetzen. Endlich. Zur Ruhe kommen. Kein Besucher in Sicht. Den Blick geradeaus. Eine Stelle fixieren. Keine Bewegung. Kein Schwefel. Keine Bronze. Kein Blei. Kein Sarkophag. Kein erschossener Vogel im Gestrüpp. Grenzen ziehen. Traum. Realität. Trennung. Realität. Körper. Sarkophag.
Bitte nicht wiedergeboren werden.

Bitte nicht.

Wunden lecken. Irgendwann wieder stehen können. Halt unter den Füßen. Irgendwann wieder. Bitte. Ein bisschen weniger von allem.

III KOLLEGIN F.ORD CROWN VICTORIA

Mein Kollege riecht so unsagbar abgestanden, aus dem könnte man Geruchsmunition gewinnen. Guter Spruch, ist ein guter Spruch, könnte ich posten. Nein. Zu diffamierend. Ist aber so. Hat total durch ausgesehen, irgendetwas von Sarkophag gefaselt, dass ich ihn verstehen würde. Klar, wenn die Haut zu dünn, dringt der Schwefel durch. Das Mächtige ist nichts für Schwache. Ist so. Guter Spruch. Könnt ich posten. Nein. Geht nicht. Macht mich unbeliebt. Die ganzen Neider. Nur die, die an die Grenzen gehen, verstehen. Der Spruch mit dem Geruch war besser. Da lässt sich was daraus machen. Ich – als Jean-Baptiste Grenouille des Hauses – mache mich auf die Suche nach dem Geruchs-Elixier: Anti-Alles. Ein Tropfen von diesem Duft und die Dämonen bist du los. Ha! Schick ich Max, den Spruch. Und Ann.

Sich immer gut stellen mit den Kollegen, egal was kommt, auch wenn sie die totalen Loser sind. Reicht, wenn ich ihnen meine Meinung am letzten Tag stecke. Oder auch nicht. Manche haben meine Meinung nicht verdient. Zu kostbar – ein Gedanke.

Außerdem steht dieses Ungleichgewicht zwischen ihnen und mir. Nur, dass mir das völlig klar ist.
Ich, die Jüngste im Team, kann – aus ihrem eingeschränkt / verbrauchten Blickwinkel heraus – nichts besser wissen. Alles, was ich für sie sein kann, ist eine Besserwisserin.

Altklug – auch schön.

So gesehen ist es pure Zeit- und Energieverschwendung, bei einer Person wie Kollegin P. auf ihre offensichtlich paradoxe Einstellung bezüglich Ideologie, die sie wie besessen bei mir, wie bei allen anderen auch, wittert, zu reagieren; ey total typisch für diese total ideologischen Anti-Ideologen, die vom kulturellen Background zu gefühlten 99,9% fette Portionen Ideologie mit sich herum karren und diese so vehement abwehren, dass sie genauso vehement agieren und argumentieren. Ha! Darüber sollte ich eine Seminararbeit schreiben, gute Idee. „Die radikale Ideologiekritik der Nicht…“ – wie war das noch? „… der Passivmenschen“. Ha! Das ist mein Titel. Sehr genialer Spruch. Remixed. Mein Spruch, könnte ich posten, nein, der ist zu gut, wird mir nur gestohlen. Aber notieren. Unbedingt notieren.

Neue Nachricht von Max: Bist auf Arbeit? Hast wegen Freikarten gefragt?

?(…)? Was wollte ich? Notiz. Ideologiekritik der Passivmenschen. Also. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin es nicht, die Wörter, deren Bedeutung total facettenreich sind und zur Diskussion anregen, auf eine Gehobene-Zeigefinger-Mahnung reduziert. Ich werde nie involviert, nur belehrt. Bleiben die Jüngeren immer unwissende Kinder in den Köpfen der Älteren? Warum dieses ständige Überstülpen von Erkenntnissen? Ideologie ist ihr Trip, nicht meiner. Sie macht ihr Thema zu meinem Thema. Und das witzigste dabei: Sie behauptet, dass egal wofür ich mich begeistere (als müsste ich mich bei ihr für meine Begeisterungsfähigkeit entschuldigen, soweit kommt’s noch – ha – ich lach mich tot!) ideologisch sei, oft auch zischt sie mit dem Wort spirituell, wenn ich irgendetwas, um die allgemeine Stimmung zu heben, erzähle, es ist schließlich nicht so, dass ich freiwillig mit den ganzen Runterziehern kommuniziere – das ist für mich pure Überlebensstrategie. Sie wiederum – und jetzt kommt’s – ha! – legt ihre Eigenverantwortung permanent in die Hände des Schicksals! Und ist sich dessen nicht mal bewusst. Wenn es um wichtige Angelegenheiten … wie z. B. … den Dienstplan geht, zieht sie es vor – ha! – die Münze entscheiden zu lassen. Kopf oder Zahl. Hallo?! Noch besser: Einmal hat sie es tatsächlich von der „Besucherzahl bis 12 Uhr 15“ abhängig gemacht, ob sie mit mir die Spätschicht tauscht oder nicht. Wie irrational ist das bitte? Logisch, dass man es mit solchen Strategien zu nichts bringen kann, im Leben.

Außerdem kann ich nichts dafür, dass sie ihr Studium abgebrochen und sich mit diesem Job / diesem Leben abgegeben hat. Selbstaufgabe ist das abscheulichste überhaupt. Dafür habe ich kein Verständnis. Wenn ich ihr das sagen würde: Explosion! Ha! Das wäre eine total spektakuläre Performance. Diskussionsexplosion, ey, ihr Pessimismus hat durchaus Potential. Hatte mal was von Adorno geshared: Wo Qual ist, wächst Genuss.

Dennoch: Für Menschen, die sich dermaßen kleinmütig verhalten, sehe ich schwarz. Kohlenschwarz. Bei denen wird nichts explodieren, weil kein Funke, kein Feuerchen mehr da ist. Alles verpufft. Schließlich verlangt die Qual nach konsequent haltlosem Leiden, nicht nach Resignation. Nein. Das wird mir nicht passieren. Definitiv nicht. Alle Türen offen.
Hereinspaziert.

Sie schaut grimmig drein.

(Es muss schwer sein, sie zu sein. Wie gut, dass ich ich bin.)

Was ich hier mache?

(Euphorie verbreiten, das hasst sie am meisten. Die personifizierte Misanthropie.)

Den Kollegen ersetzen.

Wieso ersetzen?

Wir haben getauscht.

Ob das die Chefin wisse; wann genau er angekommen sei.

Was das zur Sache tut?

(Dieser Hang zum Einmischen. Total erbärmlich!)

Sie setze sich um zum Kühlergrill, ist weniger los, ihr wäre nicht wohl, eine Erkältung bahne sich an. Überhaupt kein Problem. Wie sie wolle. Ich bin überall gerne. Hier ist jeder Quadratmeter von Energie durchtränkt. Mir öffnet sich jeden Augenblick eine neue Perspektive, weil ich es zulasse.

Pst!

(Ermahnt sie mich jetzt etwa auch noch? Zuerst belehren, dann ermahnen. Total total erbärmlich!)
Drei Besucher im Raum, ey, common!

Was für ein vernichtender Blick.

Dennoch: Sich immer gut mit den Kollegen stellen, egal was kommt. Ich biete die Besorgung von Kräutertee und Vitaminpräparaten sowie frischem Obst an. Sie wehrt ab. Nichts anderes war zu erwarten. Sie solle sich melden, wenn sich ihre Situation verschlechtere. Da geht sie hin.

Sie und ich. Wir werden keine Freunde werden. Jeder Staubkrümel in diesem Raum hat ein positiveres Karma. Auch ein guter Spruch, könnte ich posten: Wenn Krümel mehr Karma als Menschen haben, sind die Philosophie der einen Generation auf den gesunden Menschenverstand der nächsten getroffen. Nein, das ist wirr, total zusammenhangslos und unverständlich, so ein Spruch bringt keine Likes.

Etwas Schönes wäre gut. Etwas Imposantes. Wie graviertes Messing im Messingrahmen. Im Zentrum ein Kreis, Stern im äußeren Drittel der Galaxis. Schnitte wie Strahlen. Gespiegelte Skulptur im Hintergrund. Ha! Jetzt weiß ich, was ich poste: Ich, gespiegelt im Messingbild. Sonnengöttin. Total genial.

Zwei neue Nachrichten:

Mama: Liebes. Melde dich doch bitte, wenn du Zeit findest. Es ist wichtig. Drück dich. Mama.
//

Ann: krass. schon gesehen – deine ex hat ein neues profilbild ≥ total-omg!!!

?(…)?
Was wollte ich? Handykamera starten. Kein Besucher im Raum. Niemand sonst in Sicht. Mein Kopf nimmt den Platz der Sonne ein. Einen Schritt nach vorn, ein paar Zentimeter nach links, Schöpfung oder ich im Hinter- oder Vordergrund? Immer schön den Kopf zentrieren. Heiterer Blick. Ernster Blick. Euphorischer Blick. Denkerblick. Wahnsinnsblick. Skeptischer Blick. Denkerblick. Definitiv Denkerblick. Schritte nähern sich. Mist. Mich dezent in den Hintergrund ziehen und so tun als wäre ich mit Leib und Seele ganz ausschließlich nur Museumswächterin: unsichtbar und wachsam – passioniert wie keine andere. Neues Profilbild total OMG? Einloggen. 5 neue Nachrichten. 9 Benachrichtigungen. 3 Veranstaltungseinladungen. Eine Markierung zur Freigabe. Sie hat ein Bild von UNS – von ihr und mir – als neues Profilbild? Öffentlich! 98 Menschen gefällt das? Jetzt dreht sie durch. Total. Bin ich denn der einzige Mensch auf diesem Planeten, der den Durchblick behält?

Höchstwahrscheinlich.

Gott sei Dank habe ich diese Person verlassen.
Ey, jede Trennung wie eine Wiedergeburt.

 

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