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Privater Vormärz im Elfenbeinturm

Hermann Broch schrieb „Die Verzauberung“ 1935/36 in Mösern nahe Seefeld. Der Tänzer Harald Kreutzberg lebte in demselben Zeitraum ebenfalls in Seefeld. Eine Nachforschung von Georg Payr, Collage: Carola Dertnig

Man kann sich einem Roman auch physisch nähern: zum Bücherregal hingehen, das mit allen dazugehörigen Begleiterscheinungen in die Jahre gekommene Ordnungssystem verwünschen, den gesuchten Buchrücken entdecken, den Roman herausnehmen. Da ist man ihm physisch ganz nahe. Man kann sich aber mit etwas mehr Aufwand und ohne Fluchen auch dem Schauplatz eines Romans nähern: Nach Davos fahren und manches wiedererkennen, was im Zauberberg an Örtlichkeiten eine Rolle spielt; nach Wien fahren und dort im 9. Bezirk die Strudlhofstiege besuchen und den gleichnamigen Roman von Heimito von Doderer ab dort regelrecht als Stadtplan verwenden; nach Dublin fliegen und feststellen, dass es stimmt, was James Joyce über Ulysses gesagt hat: „Ich möchte ein Abbild von Dublin erschaffen, so vollständig, dass, wenn die Stadt eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwände, sie aus meinem Buch heraus wieder aufgebaut werden könnte.“

Und Kuppron? Kuppron gibt es nicht, jedenfalls nicht in den Atlanten und auf den Straßenkarten dieser Welt. Nicht einmal auf ganz großmaßstäbigen Wanderkarten lässt es sich finden. Und trotzdem bin ich dort. „Hier also“, denke ich mir. Das „Hier“ ist Mösern, viereinhalb Straßenkilometer bzw. weniger als dreieinhalb Luftlinienkilometer vom weltberühmten Tourismuszentrum Seefeld entfernt. Mösern wird beherrscht von den Süd- und Ostwänden der gewaltigen Hohen Munde, aber diese Wände sind so weit weg, dass sie nicht die Kuppronwand sein können. Von dieser schreibt der Erzähler des Romans Die Verzauberung: „Die Kuppronwand, an deren Abhang mein Haus liegt, kann ich nicht sehen, auch nicht von den Fenstern der Rückseite aus, sie ist vom Wald verdeckt, aber ihr Vorhandensein ist immerzu spürbar.“ Ich versuche, dem nachzuspüren. Ich bin im Garten des Hauses des Erzählers. Oder ist es gar nicht das Haus des Erzählers, ist es nur das Haus, in dem der Schöpfer des Erzählers, Hermann Broch, lebte, als er den Roman schrieb oder vielmehr: um den Roman zu schreiben? Schließlich weiß ich ja, dass Autor und Erzähler immer auseinander gehalten werden müssen, aber ich will, dass das Haus, in dessen Garten ich stehe, das ist, in dem der Erzähler lebte. Von der Kuppronwand kann keine Rede sein, weder von der noch von irgendeiner, von keinerlei Wand kann die Rede sein. Das Haus steht an keiner Wand, erst recht nicht an der Wand der Hohen Munde, die viel zu weit weg ist, ungefähr sechs Kilometer sind es, die Haus und Wand trennen, zu viel, um das „Wasser, das über das Gestein der Kuppronwand tropfte und rieselte“, für den Erzähler im Haus gleichsam greifbar zu machen. Hat Hermann Broch die Hohe Munde und ihre Wände einfach hierher verpflanzt, ganz nahe an sein Haus, und sie zur Kuppronwand gemacht? „Die Kuppronwand, an deren Abhang mein Haus liegt.“ Ja, von einem Abhang, an dem das Haus liegt, kann die Rede sein, von einer Wand nicht. Es gibt sie ebenso wenig wie ein Ober- oder ein Unterdorf, obwohl es das geben müsste, denn der Erzähler wohnt im Oberdorf und arbeitet im Unterdorf. Eine Stunde Fußmarsch trennt die beiden Ortsteile voneinander, bergauf. Ist das Unterdorf Sagl? Bairbach? Oder gleich Telfs? Die Gehzeit von dort nach Mösern hinauf könnte diese eine Stunde betragen. Der Erzähler marschiert auf der Landstraße, die Trasse mag damals schon jene gewesen sein, die heute eine vor allem bei Motorradfahrern überaus beliebte Strecke ist. Im Winter fährt er manchmal mit den Skiern hinunter. Broch konnte das wohl nicht, was sein Erzähler kann. An seine Cousine Alice Schmutzer schreibt er am 7. Dezember 1935: „Im Übrigen ist es hier herrlich. Im November noch ein großartiger Nachsommer und jetzt Schneesonne und Sonnenschnee. Nur müsste man jetzt Ski fahren; jede andere Fortbewegung ist beinahe unmöglich.“ Vielleicht missdeute ich aber dieses „Nur müsste man jetzt Ski fahren.“ Immerhin steht kein „können“ dabei. Vielleicht konnte Broch ja Ski fahren und der Konjunktiv verweist nur auf die Unmöglichkeit des Es-auch-Tuns, aber aus anderen Gründen als dem, es nicht zu beherrschen. Broch war ja nicht zum Vergnügen in Mösern, sondern zum Schreiben, also zum Arbeiten. Das mit dem Wetter will ich aber doch überprüfen, ganz so, als zweifelte ich an dem, was Broch geschrieben hat. Also forsche ich nach. Der Erzähler in der Verzauberung brauchte eine Stunde vom Unter- ins Oberdorf, ich bin in fünf Sekunden im Internet. Die Karten aus dem fast hundert Jahre zurückreichenden Wetterarchiv einer Wetterseite sind rasch aufgerufen. Der November 1935 war tatsächlich ein insgesamt warmer, sonniger Monat und Anfang Dezember kam der Winter mit großer Macht.

Was soll das? Ich suche das Oberdorf und das Unterdorf, suche die Kuppronwand, suche eine spätgotische Kapelle, von der im Roman die Rede ist, und finde zumindest eine aus dem 19. Jahrhundert, ich schaue nach, ob das Meteorologische in einem Brief stimmt. Ich vermische Fiktion und Wirklichkeit, ganz anders, als es Broch getan hat. Mösern sollte ja nicht als Mösern erkennbar sein.

In einem Brief an die schottische Schriftstellerin und Übersetzerin Willa Muir schreibt Hermann Broch im März 1935, er habe sich nun endlich wieder zum Schreiben entschlossen und einen großen Roman begonnen. Zum Zwecke des Schreibens habe er sich nach Baden bei Wien zurückgezogen und dann nach Laxenburg und es wäre alles großartig, wenn er nur „diese flache Landschaft“ vertragen könnte. „Aber ich kann sie nicht mehr sehen, und so werde ich wohl bald wieder flüchten.“ Orkney schwebt ihm vor, aber auch Tirol. Und es wird Tirol. Es wird Kuppron, das er erfindet, hier lässt er Die Verzauberung spielen, in der sich ein Wiener Mediziner, des Wissenschaftsbetriebs, in den er eingespannt ist, überdrüssig (aber auch, wie man erst gegen Mitte des Romans erfährt, aus einem anderen Grund), als Landarzt niederlässt und eine nur mäßig gehende Praxis eröffnet.
Mösern gefällt Broch. Es ist der ideale Ort für die „Produktion“ des auf drei Teile angelegten Bergromans (auch Bauernroman oder Alpenroman nennt er ihn in Briefen), von dem nur der erste Teil, eben Die Verzauberung, fertig wurde. Habe ich wirklich „Produktion“ geschrieben? Ja, wirklich, aber wenigstens unter Anführungszeichen. Wieso „Produktion“? Broch war ja kein Aschenbach aus dem Tod in Venedig, jenes Alter Ego Thomas Manns, das (ich stocke: das? der?) sich ganz der Produktion des Werks hingibt, der diese Produktion gleichsam als Dienstauftrag sieht, als Dienstauftrag des Volkes, das er erziehen will und ästhetisch berühren. (In einem Kommentar zur Verzauberung schreibt Broch: „Meine Hoffnung bei all dem war: die erzieherische Wirkung ethischer Dichtung.“ Also doch ein bisschen Mann/Aschenbach?) Broch war auch kein Claudio aus Hofmannsthals Der Tor und der Tod, der das bäuerliche Leben, weit jenseits des Fensters in seinem Elfenbeinturm, aus dem er blickt, vollkommen verklärt, ohne ihm nahe sein zu können. Wie bin ich nur auf „Produktion“ gekommen? Ah ja, wegen der Stelle in einem Brief an Stefan Zweig, geschrieben in Mösern am 7. Juni 1936: „Ich sollte schon längst in England sein. Indes, noch immer sitze ich hier an diesem Buche, verhaftet der lebensunfähigen Kategorie des Ästhetischen und Artistischen.“ Diese Stelle brachte mich auf Thomas Mann. Und auf Hofmannsthal. Überhaupt auf den Elfenbeinturm. In einem solchen sitzt Broch in Mösern tatsächlich. Wieder an Stefan Zweig schreibt er: „Ich sitze nun schon seit Monaten hier, in strengster Abgeschiedenheit, allerdings auch in herrlichster Landschaft, und baue an einem Buch herum, das die Gestalt eines Romans hat, eigentlich aber etwas anderes ist und das mir zu glücken scheint (dies mit aller Vorsicht gesagt, denn in der Einsamkeit dieses Elfenbeinturms relativieren sich alle Begriffe und Anschauungen).“ Und an Daisy Brody, die Frau seines Verlegers Daniel Brody: „Vorderhand suche ich mich möglichst im Elfenbeinturm einzukapseln und einen privaten Vormärz herzustellen.“
Strengste Abgeschiedenheit, herrlichste Landschaft. Die Landschaft ist geblieben, die Abgeschiedenheit ist gegangen, wohl wegen der herrlichen Landschaft. Mösern hat inzwischen ein Fünf-Sterne-Hotel, drei Vier-Sterne-Hotels, acht Drei-Sterne-Hotels und fünf Zwei-Sterne- bzw. Ein-Stern-Hotels, dazu gewerbliche und private Ferienwohnungen sowie Privatquartiere in beachtlicher Zahl. Knapp 1.500 Gästebetten stellt es den Menschen, die sich von der herrlichen Landschaft angesprochen fühlen, zur Verfügung, fast 42.000 Gäste sind im Jahr 2013 dort angekommen und haben 180.000-mal übernachtet. Einen Satz wie „Mein Einsamkeitsbedürfnis ist ungeheuer groß, und wäre es nicht so, so würde ich nicht in Mösern sitzen“ könnte man heute nicht mehr so einfach schreiben. Broch konnte es in einem Brief an Willa Muir.
Im heute touristisch also voll erschlossenen Mösern gab es allerdings auch schon 1935/36, als Broch dort lebte, Fremdenverkehr, natürlich in bescheidenem Umfang. Trotz der 1.000-Mark-Sperre kamen Touristen und ermöglichten Möserer Bauern, die Fremdenzimmer vermieteten, einen kleinen Zuverdienst. Viel war es nicht, denn sie mussten ihre Gästebetten billig verkaufen, um überhaupt noch jemanden zu bekommen. Hermann Broch kann sich, weil er nach dem Verkauf der väterlichen Textilfabrik in finanzielle Engpässe gerät, keine teuren Unterkünfte leisten, weshalb ihm das günstige Mösern und dort das Haus Klotz gelegen kommt. „Mösern ist für mich noch immer das Ideal“, schreibt er im Mai 1937, also ein Jahr nach Beendigung seines Mösern-Aufenthaltes, an den österreichischen, im englischen Exil lebenden Schriftsteller Robert Neumann, aus dessen Feder übrigens eine Parodie auf Brochs Schlafwandler stammt. Die Unterkunft in Mösern sei „meist tadellos, nicht nur im Hause Klotz“. Auch andere Häuser seien empfehlenswert, „Sommerpreise S 1,50 pro Bett“. (Ein Schilling von damals entspricht etwa 3 Euro.) Allerdings werde das Ganze dadurch verteuert, „dass viele Vermieter im Sommer auf Verabreichung von Frühstück mit S 1,– pro Person bestehen“. Als Nachteil sieht Broch die Größe der Häuser. Neumann erfährt in diesem Brief, in dem Broch auf seine Frage nach einem österreichischen Arbeitsplatz antwortet, auch, dass ein Haus allein nicht zu haben sei. „Sie enthalten alle 5 bis 10 Zimmer, und während der Sommermonate hat man auf Nachbarschaft zu rechnen.“ Und wie schaut es mit den Parkmöglichkeiten für ein Auto aus? Broch schreibt: „Die Garagierung wird nicht leicht sein, denn darauf sind die Leute nicht eingerichtet, umso weniger, als ja die Straße nach Seefeld nur gegen spezielle Erlaubnis autobefahrbar ist.“ Auch zu den Gasthauspreisen äußert sich Broch: Vollpension im „sehr empfehlenswerten“ Gasthof Neuner: 7 bis 9 Schilling, in den „Nobelhäusern“ Menthof und Kasselhof zirka 12 Schilling. Neumann möge sich, sollte er wirklich die Absicht hegen, in Mösern zu arbeiten, an den jungen Schriftsteller Herbert Burgmüller wenden, der später Mitherausgeber der Münchner Literaturzeitschrift Die Fähre wird, die u. a. Texte der Exilautoren Musil und Broch veröffentlicht. Er, Broch, habe Burgmüller im Haus Klotz untergebracht, Burgmüller könne „genauen Bericht“ geben „resp. für Sie mieten“. Im Brief führt Broch auch ein paar weitere Tiroler Orte an, in denen er sich genau über die Unterkunftspreise erkundigt hat, und die er knapp charakterisiert. Nauders sei, wie Mösern, „herrlich gelegen“, jedoch seien die Unterkünfte „miserabel“, „sogar die Hotels!“ Im einzigen empfehlenswerten Haus, „nämlich beim Verwalter des Schlosses Nauders“, gebe es aber „kein W. C., nur ein Loch“. In Gries im Sellrain hält er nur den Gasthof Grieser Hof für akzeptabel, Pensionspreis 9 Schilling, „Aufstieg ins Kühtai etc.“ Von Wenns im Pitztal, wo er allerdings nur einen Tag gewesen ist, hat er „den besten Eindruck“. „Der Gasthof ‚Post‘ wird sehr gelobt“, schreibt er. „Alles sehr sonnig, hell, ein ausgesprochener Arbeitsaufenthalt.“ Im hinteren Pitztal, „das sehr eng, sehr düster, aber wunderschön ist“, findet er den Gasthof Wies. „Aber auch bei Bauern lässt sich dort im ganzen Tal wohnen, nur müsste man von Haus zu Haus suchen.“ Vom Stubaital („Fulpmes, Telfes etc.“) ist Broch „nicht begeistert“. Es sei „nicht sonderlich billig, zumindest nicht die Gasthöfe, die meistenteils ‚Post‘ heißen, hingegen höchst nazistisch“, was aber „nichts Besonderes“ sei. Am Ende des Briefs fragt Broch, warum er, Neumann, unbedingt nach Österreich wolle. „Warum nicht in das wesentlich billigere Jugoslawien? Oder nach Italien, d. h. ins italienische Tirol?“, fragt er. Immerhin werde gesagt, dass es „um Klausen herum wunderschön“ sei und „höchst billig“ dazu. „Ebenso der Gardasee.“

Während Broch also jemand anderem Tiroler Dörfer empfiehlt oder auch nicht empfiehlt, wird ihm selbst Mösern zu so etwas wie einer Heimat. Als er von einem Aufenthalt in München nach Mösern zurückkehrt, in „ziemlich mäßiger Verfassung“ ob der politischen Atmosphäre dort, bezeichnet er das als eine Fast-Heimkehr: „Ich weiß nicht“, schreibt er im Februar 1936 an Daisy Brody, „ob ich Ihnen in meinem letzten Brief schon gemeldet habe, wie deprimiert ich aus München hierher zurückgekehrt bin, fast könnte man schon heimgekehrt sagen.“
„Hier in Mösern habe ich es phantastisch schön. 1.250 m
hoch und 600 m über dem Inntal, das man mit all seinen Gebirgen viele Kilometer lang überschaut, denn der Berg, auf dem das Dorf liegt, ragt wie eine Halbinsel in das Tal hinein.“ So beschreibt Broch in einem Brief an Willa Muir die Lage Möserns und den viel gerühmten Blick ins Oberinntal. Wer diesen Blick kennt, kann es Broch nachempfinden, wenn er im selben Brief schreibt, dass er „vor lauter Aus-dem-Fenster-Schauen“ fast nichts arbeite. Trotz dieser berückenden Ablenkung ist das Bauernhaus Klotz für ihn aber „ein idealer Arbeitsplatz“, auch wenn er noch nichts über das Tempo, mit dem seine Arbeit voranschreiten wird, sagen könne. Er hofft nur „auf ein gutes Arbeitstempo“. Diese Hoffnung sollte sich nur teilweise erfüllen. An Alice Schmutzer schreibt Broch schon fast am Ende seiner Möserer Zeit, dass er mit dem Buch „ungeheuere Schwierigkeiten“ habe. Neun Kapitel seien druckfertig, es fehlten die drei letzten. (Es handelt sich hierbei allerdings um eine nie fertiggestellte zweite Fassung.) „Dabei ist all die Plage ein Irrsinn“, klagt er, und er klagt auch über die potenzielle Leserschaft, von der niemand etwas wissen wolle von den „Problemen der Architektonik eines Buches“, niemand wolle sich „mit der Hintersinnigkeit beschäftigen“. Und weiter: „Interessieren tut nur, ob die Leute miteinander schlafen oder nicht.“ Doch Broch gesteht: „Ich lese Bücher doch auch nicht anders.“ Trotzdem plage er sich weiter „mit dieser ganzen Stilistik, Architektonik und weiß Gott noch was herum“, und er brauche dazu „eine übermenschliche Konzentration“.

Broch schreibt aber nicht nur, er liest auch, zum Beispiel ein Romanmanuskript, das ihm Herbert Burgmüller zugesandt hat. Gabor ist der Titel, der Roman bleibt unveröffentlicht. Vielleicht deshalb, weil Broch, der sich intensiv mit dem Manuskript beschäftigt, kein gutes Haar daran lässt? Der „Hauptfehler“ des Buches sei, so schreibt er im April 1936 an Burgmüller, seine „gewandte Unpersönlichkeit, der Mangel jeglicher eigenen Note“. Wenn es Burgmüller nicht gelinge, dies abzustellen, sei „jede Mühe umsonst“. „Wenn man Ihnen ein Stück Gewandtheit und Routiniertheit und Belesenheit wegnehmen könnte, so wäre dies ein Glück.“ Er fordert Burgmüller auf, sich nicht selbst zu sehr zu kontrollieren, auch „auf die Gefahr hin, dass es scheinbar ein Schund wird“. Denn hinterher sei es keiner. Und er rät dem jungen Autor, William Faulkner und Thomas Wolfe zu lesen, und diesen Rat versieht er mit zwei Rufzeichen!! Auch wenn Faulkner „verengt sein mag in Grausamkeit“ und auch wenn Wolfe „vor Eindrücken manchmal ersaufen“ mag, es sei doch „etwas Großartiges“ in beiden. Wenn Burgmüller einigermaßen „dorthin gelangen“ könnte, dann wäre er „gesund“. Im selben Brief befasst sich Broch auch mit einem Gedicht, das ihm Burgmüller geschickt hat. Er geht damit hart ins Gericht. Zwar räumt er ein, dass er „als Fünfzigjähriger die Gedichte der neuen Generation“ womöglich nicht mehr verstehe, trotzdem sei er mit dem Gedicht „noch lange nicht einverstanden“. Denn „im Vorfrühlingsmittag spielt Ihnen Ihr einfühlendes unbewusstes Gedächtnis arge Streiche, da spuken Ihnen fremde Gedichtsphrasen wie Gassenhauer im Kopf herum“. Broch versucht, dem Gedicht Burgmüllers das Pathos zu nehmen (und bezeichnet diesen Versuch gleich als „Witz“, aber wohl nur, weil ihm das Ganze ein bisschen unangenehm ist und er nicht als der große Alleskönner erscheinen möchte), indem er ihm vor allem die Vergleiche nimmt („denn der Vergleich muss in sich ruhen“). Schade, dass das Original nicht vorliegt. Brochs Version jedenfalls geht so:
Widerschein vom müden Tage
sind die Fenster bleich entglommen
und mit einem Flügelschlage
ist die Dämmerung gekommen.
Weich und grau wird schon die Straße
strauchverdunkelt ist der Zaun,
aber alle Himmelsmassen
träumen türkisgrünen Traum
blassen zu den Trauerfernen
weißumwölkt des Mondes Stein:
und die trüben Gaslaternen
surren mild den Abend ein.

Der Brief endet mit „Schluss für heute. Ich dürfte überhaupt keine Briefe mehr schreiben.“

„Vom Kirchturm unten tönte es zehn herauf. Das Meer des Morgens war aus dem Tal gewichen, grün liegt das bebaute Land in der Tiefe, dunkler im Grün dort, wo die vielen Almbächlein zueinanderstrebend das Gefilde durchziehen, dunkler im Grün nun auch schon die Obstgärten des Unterdorfs und die waldbestandenen Höhen des jenseitigen Talufers, und von den verstreuten Gehöften klingeln die Kuhschellen herauf.“ Lässt sich an diesem Ausschnitt aus der Verzauberung der Inntal-Blick erkennen? Gewiss, wenn man will. Doch es ließe sich auch Fiss erkennen oder Stummerberg oder eine Landschaft im Wallis oder im Engadin. Eine fast vergebliche topographische Spurensuche im Roman. Auf den Wanderkarten sucht man erfolglos den Rauhen Venten. Vent gibt es in Tirol und manche Gipfel, die in ihrem Namen ein „Rauher“ führen. Und wenn Broch schon Wenns kannte, dann wird er sich dort den Venet als Namensgeber für den Kupproner Rauhen Venten ausgesucht haben. Oder auch nicht. Das Plombenter Tal findet man nur im Buch, auf der Karte dafür ein Mühltal, ein Köhlertal, ein Geiernest. Broch tat alles, um keine Verortung des Roman-Schauplatzes in der Wirklichkeit zu ermöglichen. Kuppron ist ein modellhaftes Pars pro Toto, als Besonderheit mag es den aufgelassenen Bergbau haben, natürlich auch etwas, was es in Mösern nie gab.

Wer Hans Leberts grandiosen Roman Die Wolfshaut kennt, weiß, wie sehr die Schilderung des Wetters eine Geschichte fast schon zu tragen vermag. Auch in der Verzauberung gibt es Wetter, das nicht nur ist, sondern das beschrieben wird. Und wer im Laufe eines Wetterjahres mehrmals in Mösern ist, wird vieles von dem wiederfinden, was im Roman steht: einen Himmel aus stählerner Seide, weiche, weiße Wolken, die sich an ihn schmiegen, weiche Wolkengebirge, zwischen denen die Sterne erscheinen, wenn der föhnige Septemberwind weht, Regen, der rasch wieder abflaut und bloß einen leichten Dunst zurücklässt, der in den Wärmestunden des Tages aufsteigt, das Grün der Berge verdeckt, die Kühle des Herbstes und seine Wärme, die herbstliche Trockenheit, des Herbstes Weichheit und sein Licht. Kein Winterwetter? Doch, natürlich auch Winterwetter: „Alles war vergessen. Der Schnee hatte es zugedeckt. Mit einem Schlag war der zurückgedrängte Winter wieder hervorgebrochen, mit einem Schneegewitter war er über die Kuppronwand, hinter der er sich verborgen gehalten hatte, wieder ins Tal herübergesprungen, zwei Tage und zwei Nächte fielen die Flocken, und als der Wind dann wechselte und von Norden blies, da strahlte die Sonne über einer Landschaft, in der auf silberweiß polierten Straßen die Schlitten Weihnachten zurückklingelten.“ Die Romanszenen sind in das Wetter eingebettet, kein Wunder, ist doch Mösern / Kuppron ein Ort, den sich auch ein professioneller oder auch nur ein passionierter Wetterbeobachter aussuchen würde für sein Schauen: freier Blick nach Westen, von wo in unseren Breiten das Wetter in der Regel kommt, ein weiter Horizont.
Die Suche nach topographisch in der Realität festmachbaren Schauplätzen des Romans scheitert, die nach meteorologischen Zuständen und Abläufen nicht (wie auch!). Finden wir in den Namen der handelnden Romanfiguren Ähnlichkeiten mit dem wirklichen Mösern? Dort heißen die Menschen Kratzer und Haselwanter, Neuner und Trois, Heidkamp, Putz und Klotz. Und wahrscheinlich auch Seelos, denn Seefeld ist nicht weit. Die Romanfiguren heißen Gisson und Lax, Suck und Sabest, Krimuß, Hulles und Johanni. Und Bergmathias, aber das ist nur ein Rufname. Ein Fremder, der eines Tages in Kuppron auftaucht, heißt Ratti. Er bringt das Unheil. Niemand in Mösern wird seine Vorfahren oder gar sich also wiedererkennen, auch hier hat Broch jedes Anstreifen am Tatsächlichen vermieden.
Ratti, Marius Ratti, bringt also das Unheil. Er ist einer von außerhalb, der, wie Broch in einer Inhaltsangabe der Verzauberung schreibt, in dieses „Primitiv-Dorf“ kommt, das aus der alten Knappensiedlung Ober-
Kuppron und dem Bauerndorf Unter-Kuppron besteht. Für die Unterdörfler sind die „Insassen“ (so Broch) des Oberdorfs minderwertige Menschen, denn Knappen können niemals richtige Bauern sein. Auch nicht die Nachkommen von Knappen können das. Marius Ratti werden anfangs keine Sympathien entgegengebracht, in seiner Schrulligkeit und wegen seiner pseudo-mystischen Ideen von der „Heiligkeit der Erde“ und von der „Bezwingung des Berges“ wirkt er, ganz im Gegenteil, abstoßend auf die Kupproner. Doch nach und nach bringt er sie auf seine Seite, ganz besonders die jungen sind zunehmend fasziniert von seinen Ideen, vor allem von jener, das aufgelassene Bergwerk wieder in Betrieb zu nehmen, weil aus dem Berg durchaus noch Gold zu holen sei. Darin, dass besonders die jungen Kupproner Ratti verfallen, folgt Broch, wie der Literaturwissenschaftler Bernhard Fetz feststellt, der „Realität faschistischer Jugendbewegungen“. Die „Verführungskraft demagogischer Heilssprecher“ wirke ganz besonders bei jungen Menschen. Genau so ein Heilssprecher ist Ratti, der mit der Zeit das ganze Dorf in seinem Bann hat. Auch die Älteren folgen Ratti, weil einige Großbauern aus dem Unterdorf, wenn sie ihn unterstützen, ihren eigenen Nutzen sehen. Nun beginnen in allen Kuppronern heidnische und mythologische Vorstellungen aufzubrechen, „alle sadistischen Triebe“, wie Broch schreibt, „brechen hervor“, denen die Gegenspielerin Rattis, eine alte und weise Frau, die die Prinzipien der Güte und Humanität verkörpert, zum Opfer fällt. Vom Geschehen lässt Broch seinen Erzähler, der, obwohl er anfänglich der größte aller Ratti-Kritiker ist, selbst dem allgemeinen Taumel verfällt, in Form von Tagebucheintragungen berichten, trotzdem ist der Roman kein eigentlicher Tagebuch-Roman, wohl aber eine Variante davon. Der Erzähler schreibt, sich zurückerinnernd, die Ereignisse bestimmter Tage eines gewissen Zeitraums nieder und stellt dieses Niedergeschriebene dann zu einem Buch zusammen. In zehn der 14 Kapitel des Romans wird jeweils das Geschehen eines einzigen Tages erzählt, in vier Kapiteln das von zwei Tagen.

„In dem Roman habe ich versucht, das deutsche Geschehen mit all seinen magischen und mystischen Hintergründen, mit seinen massenwahnartigen Trieben, mit seiner ‚ nüchternen Blindheit und nüchternen Berauschtheit ‘ in seinen Wurzeln aufzudecken, d. h. nicht abzukonterfeien, sondern es auf eine dichterisch einfachste Formel zu bringen, um solcherart das eigentlich Menschliche, wie es aus den Tiefen der Seele und ihrer Naturverbundenheit aufsteigt, zum Ausdruck zu bringen.“ So fasst Broch 1941 seine Intention, die er mit der Verzauberung verfolgt habe, zusammen. Das Kunstdorf Kuppron diente ihm dazu als Bühne.

Als Broch im Exil gefragt wurde, ob er Heimweh habe, meinte er: „Noch einmal im Leben möchte ich auf einer österreichischen Bergwiese liegen. Das ist das Einzige, was ich mit der Heimat verbinde.“

 

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