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Tradition, Manierismus und Experiment

Zitate und deren unbewusste Ironisierung, die Entdeckung des Gefühls für Landschaft und das Haus mit dem Kometen über der Eingangstüre. Anmerkungen zum Bauen in den Bergen. Von Gabriele Reiterer

In den neunzehnhundertsiebziger Jahren entstand im Tiroler Raum plötzlich ein Faible, das vehement um sich griff. Die seltsame Grille des architektonischen Zitierens mit Fragmenten alpin-bäuerlicher Geschichte fiel in die Zeit der größten Ignoranz des traditionellen, autochthonen Bauens. Alte Bauernhäuser wurden abgetragen und Teile davon an anderer Stelle wieder aufgebaut. Eine weitere Spielart war der Einbau von altem Interieur, etwa eine ganze getäfelte Bauernstube, in ein neu errichtetes Haus.
Bei diesem Phänomen handelte es sich um eine spezielle Inszenierung regionaler Geschichte. Der unbekümmerte Umgang mit traditioneller Vergangenheit spiegelte ein an Lächerlichkeit grenzendes gestalterisches anything goes, das zwischen kultureller Ignoranz und gleichzeitiger Sehnsucht nach Herkunft, Identität und Ausdruck oszillierte. Eine urban ausgerichtete Schicht inszenierte so ihr gestalterisches Spiel zwischen moderner Gegenwart und romantisierender Bezugnahme auf die regionale Geschichte. Unbekümmerte Zitate paarten sich mit der völligen Aufhebung des genius loci. Es war eine Hinwendung zur Geschichte und deren unbewusste Ironisierung zugleich.
So entstanden im Tiroler Raum in den neunzehnhundertsiebziger Jahren seltsame Mischungen von alt und neu. Sie führten zu wilden Manierismen. Der freimütige Umgang mit dem bäuerlich-regionalen Erbe war eine kurzlebige, aber intensive Erscheinung des Zeitgeistes. Zitate und manieristische Spielarten waren allerdings in der Geschichte des Bauens im Tiroler Raum nichts Neues.

Das Bauen im europäischen alpinen Raum ist seit jeher Gegenstand hitziger Debatten. Es ist eine Geschichte von Polaritäten, Extremen und rückblickend fehlgedeuteten baulichen Spielarten. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird die Frage nach angemessenem Bauen in den Bergen gestellt. Ging es damals eher um den entsprechenden Stil, stehen gegenwärtig auch Technologie und ökologische Verträglichkeit im Vordergrund. Die formalästhetische Frage ist jedoch damals wie heute Anlass zu oftmals ideologisch aufgeladenen Debatten. Seit nahezu einem Jahrhundert wird vehement der Verfall der autochthonen Baukunst beklagt. Bei näherer Betrachtung stellt sich das Feld vielschichtiger dar. Neben eklektizistischen und eigenwilligen Typologien entstanden in den letzten hundert Jahren auch bemerkenswerte Beispiele herausragender Architektur. Manierismen des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben ebenso wie reformistische Spielarten und Typologien der klassischen Moderne die architektonische Besiedelung geprägt. Auch individuelle, abseits von Stilen und Trends liegende Ergebnisse formten die Geschichte und Gegenwart des Bauens in den Bergen. Ein Blick auf das letzte Jahrhundert ermöglicht ein besseres Verständnis und zeigt, dass nicht nur der Verlust traditioneller Bauweisen zu beklagen ist.

Gefühl, Natur und Landschaft

Die Geschichte der Architektur im Tiroler Raum ist zugleich eine Geschichte der Wahrnehmung der Natur. Bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verblasste ein vormals ideales Bild, an dessen Stelle trat eine zunehmend malerische Wahrnehmung. Die „Entdeckung“ des Gefühls für Landschaft und Natur löste mit eine reformistische Bewegung aus. Der scheinbar rasenden Geschwindigkeit eines technokratischen Fortschritts wurde zivilisationskritisch die Reinheit der Natur gegenübergestellt. Allen voran lag England, da hier die Industrialisierung früh eingesetzt hatte.
Auf dem Kontinent übte die Architektur noch einen distanzierten Umgang mit der Landschaft. Die Grenze zwischen außen und innen war aufrecht. Die Natur bildete eine Kulisse, ein abgezirkeltes und kontrolliertes Bild. Das historistische alpine Grandhotel glich einem in die Natur versetzten städtischen Mikrokosmos.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Alpen jedoch immer populärer. Zunehmend erschloss eine breitere Schicht die als heilsam erachtete Kraft der Berge. Die Architektur zeigte erstmals interessante Ergebnisse abseits eines eklektizistischen, historistischen Formenrepertoires. Die „kubischen“ Häuser der Jahrhundertwende zeigen eine progressive Auseinandersetzung mit symmetrischen Ordnungen und Regelsystemen. Vorbild war unter anderem das englische Haus, das gleichsam Symbol der Kritik gegen den Historismus war. Im alpinen Raum entstand eine spezielle typologische Ausdrucksform, die manieristisch mit dem Formenvokabular der Geschichte und der traditionellen Umgebung spielte. Noch heute lehnt die Architekturgeschichtsschreibung diese Ausprägung sehr undifferenziert als leere eklektizistische Bauweise ab. Dabei handelt es sich bei genauerer Sicht um eine Spielart reformistischer Architektur, die gezielt mit Zitaten arbeitete. Ein herausragender Bau findet sich in der Südtiroler Kurstadt Meran.

Das Haus des Kometen

Als der preußische Generalmajor Carl Weste entschied, in Meran ein Wohnhaus für sich und seine Familie zu erbauen, beauftragte er 1909 den Freiherrn Wilhelm Richard Elimar von Tettau mit der Planung. Das Haus mit dem Hinweis auf den Kometen Halley über der Eingangstüre ist ein eindrucksvolles und bis heute unverändertes Bauwerk. Es fällt nicht vordergründig auf, im Gegenteil, eine gewisse respektierliche Zurücknahme ziert den Bau. Name und Werk des Architekten, Wilhelm Richard Elimar Freiherr von Tettau, werden in der Geschichte der Architektur nur mehr an Eingeweihte weitergereicht. Der klare, kompakte Baukörper mit Zeltdach, Erker, Putz und besonderen Details nimmt mit seiner einfachen Raumaufteilung intelligent und auch ein klein wenig ironisch Bezug auf den kulturellen Kontext. Zugleich spricht die Villa Niedersachsen die bürgerlich-kosmopolitische Sprache des begabten Architekten und seines Auftraggebers.
Von Tettau vermied alpenländische Klischees, die an Häusern in der Nachbarschaft zu beobachten sind. Tettau reagierte ironisch-spielerisch auf den ländlichen Bezug, er setzte satirische Gesten, wie schmiedeeiserne Herzen in den kleinen quadratischen Fenstern, die an der Fassade einer seltsamen (Un)Ordnung, gehorchen. Die asymmetrische Fassade der Straßenseite ist gleichhin das Markenzeichen des Hauses. Tettau versetzte dem schlichten, auf angenehme Weise unauffälligen Haus einige ordentlich verdrehte Züge. Die gleichsam achtlose Durchbrechung der Symmetrie an den empfindlichsten Stellen geißeln das Auge. Da einem Architekten von seinem Range – Tettau verfügte damals bereits über einen Namen und gehobene Auftragslage – sicher keine Fehler unterlaufen waren, stellt sich demnach nur eine Frage: Was bezweckte der Freiherr mit den, im Übrigen äußerst gekonnten Brechungen und Beugungen?
In jenen Jahren zeigte sich in den Bauaufgaben für das Bürgertum ein großes Interesse am architektonischen Experiment. Die Suche nach Identität der neuen sozialen Schicht spiegelte sich in baugestalterischer Form. Das liberale Bürgertum strebte nach Reform und in seinen Wohnhäusern nach adäquatem Ausdruck.
So finden sich demnach vor allem in den Einfamilienhäusern jener Zeit Manierismen der Gestaltung. Im virtuosen Umgang mit Zitaten und historischen Anspielungen ging es nicht um eine Nachahmung von Stil, sondern um eine gestalterische Botschaft. Der Freiherr von Tettau brachte es hierin zur Meisterschaft. Ulrich Maximilian Schumann, der in seiner hervorragenden Studie Leben und Werk von Tettaus erforscht hat, schreibt vom inszenierten Wahrnehmungsspiel, das Ordnung und Unordnung in ein und demselben Werk unmittelbar nebeneinander thematisiert. Er erkennt in der künstlerischen Überstilisierung einer auf den ersten Blick malerischen Architektur einen Manierismus.
      
Neue Tendenzen und klassische Moderne

Neue Tendenzen der Architektur im alpinen Tiroler Raum zeigten sich zuerst im Privathaus. Lois Welzenbachers Haus Settari (um 1919 in Bad Dreikirchen, Südtirol, gebaut) ist die Inkunabel einer neuen Architektur in den Bergen. Das Haus ist das Ergebnis eines nahezu magischen Verständnisses für den Bauplatz und die umliegende Natur. Die Grenzen zum Außen sind aufgehoben, die Natur ist keine Kulisse mehr. Der Grundriss und die räumliche Aufteilung richten sich panoramatisch zur atemberaubenden Bergwelt. Typologisch mutet das Haus seltsam an. Die Einheimischen tauften es zu Recht die Kaffeemühle, die Gestaltung des Hauses Settari erscheint willkürlich und formalästhetisch schräg. Es ist der radikale und konsequente Schritt in eine Gestaltung, die ihre Vorgaben ausschließlich aus den topographischen und topologischen Gegebenheiten begriff. Lois Welzenbacher selbst war eine authentische und gestalterisch-charismatische Persönlichkeit, dessen Werk sich einer methodischen Zuordnung im positivsten Sinne entzieht.
Ab jenen Jahren verband sich das Bauen im alpinen Raum untrennbar mit der Geschichte des Tourismus. Mit Ende des Ersten Weltkrieges gab es in Europa eine Verschiebung der sozialen Schichtung. Den adligen und großbürgerlich nobel distanzierten Gast im luxuriösen Grandhotel in den Bergen löste der Sporttourist ab. Neue Auftraggeber kamen aus der Hotellerie. Diese unternehmerische Elite war offen für eine entsprechende Architektur. In den folgenden Jahren wurde der Ausbau der touristischen Infrastrukturen intensiv vorangetrieben, der neue Sporttourismus bildete einen zunehmend wichtigen Wirtschaftsfaktor. Der Tourismus galt als ein äußerst fortschrittlicher Bereich, dessen innovativer Geist ein neues ästhetisches Vokabular der Architektur begrüßte. In diesen Jahren entstanden in Nordtirol Hotelbauten der klassischen Moderne in regionaler Ausprägung. Franz Baumann und Siegfried Mazagg zählten zu den Protagonisten. Typologisch scheinen diese Bauten nahezu ex novo und konnten kaum auf Vorgänger zurückgreifen.
Es folgten die großen infrastrukturellen Erschließungen der Berge, wie der Bau der Nordkettenbahn in Innsbruck und ein geplantes Großprojekt, das nie zur Ausführung kam. Der ehrgeizige Plan zum Bau der „größten Seilbahnanlage der Welt“ und einer umfassenden touristischen Erschließung des gesamten Dolomitengebiets des Mailänder Architekten Gio Ponti wurde vom italienischen Fremdenverkehrsministerium und durch die faschistische Partei unmittelbar unterstützt. Gebaut wurde vom Großprojekt 1935 einzig ein Hotelbau im Südtiroler Martelltal nahe der Grenze zur Schweiz. Das Hotel Paradiso ist ein formensprachlich beeindruckendes, von österreichischen Architekten wie Franz Baumann und Lois Welzenbacher beeinflusstes Bauwerk. Zugleich zählt es aufgrund seiner brisanten politischen Geschichte zu einem höchst enigmatischen Bau der alpinen Architektur. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg erreichte die regionale Ausprägung der Moderne einen Höhepunkt. Ausdruck und Form der klassisch modernen alpinen Architektur vereinen auf höchstem Niveau traditionelle Bauweise mit modernen Elementen. Der Ausbruch des Krieges unterbrach eine fruchtbare Entwicklung.

Genius loci und Lebensraum

Ab den neunzehnhundertfünfziger Jahren befasste sich eine architektonische Debatte zunehmend mit psychologischen Implikationen von Architektur. Ab diesem Zeitraum entstanden neue Gedanken zum Begriff der Landschaft. Ein Ort wurde als Raum mit einem bestimmten, eigenen Charakter betrachtet, der genius loci sei der Geist, der an einem Ort herrscht. Dessen konkreter Realität steht der Mensch in seinem täglichen Leben gegenüber. Architektur bedeutete, so die zeitgeistige Architekturtheorie, demnach Visualisierung des genius loci. Die Aufgabe des Architekten sei es daher, sinnvolle Orte zu schaffen, durch die er den Menschen zum Wohnen verhelfen kann. Ort und Raum werden als Lebensraum im Sinne existenzieller Sinngebungen angesehen. Eine überaus wichtige Rolle spielte das Denken des Philosophen Martin Heideg-
ger. Im Werk Sein und Zeit von 1926, sowie in der legendären Schrift Bauen Wohnen Denken von 1951 erfasste der Philosoph grundlegende humane Voraussetzungen und Bedingungen des Bauens und Wohnens. Heidegger sprach vom Geviert als eine Art mythischen Raum in einer sinnhaften Totalität, mit Beziehungen, die weit über eine Berechenbarkeit hinausreichen. Dieser zutiefst existentielle Zugang zur Architektur, den die klassische Moderne eher ausgeschlossen hatte, belebte die Debatte um das Bauen in den Bergen neu. Das Phänomen des Ortes, Wesen und Struktur bildeten nunmehr ein Zentrum der Auseinandersetzung. Auch der Gedanke der direkten Erfahrung, der phänomenologischen Annäherung an Objekte, Räume und Orte anstelle des abstrakten Denkens des Philosophen Maurice Merleau-Ponty war wesentlich.
Ein Beispiel aus jenen Jahren bildete Edoardo Gellners Feriensiedlung Corte di Cadore in der italienischen Provinz Belluno nahe Cortina d’Ampezzo. 1958 für den italienischen Energiekonzern ENI erbaut, ist es als hervorragendes Beispiel für Bauen in den Bergen und als Tourismusarchitektur in die Geschichtsschreibung eingegangen. Auf einem über zweihundert Hektar großen Areal konnten über dreitausend Gäste in 252.000 Kubikmeter verbautem Volumen beherbergt werden. An dieser Bauaufgabe schulte Gellner die Hervorbringung eines architektonischen Prototypen bis zur Perfektion und befasste sich in einem offenen und experimentellen Prozess mit Materialien, Farben, konstruktiven Möglichkeiten und unterschiedlichen Grundrissen. Regionale Baustoffe und ein zu jener Zeit noch neuartiger Umgang mit ökologischen Themen kennzeichnen die Siedlung.

Der Gedanke prototypischer Präfabrikation vereinte sich mit einer autochthonen Haltung, die Gellner über eine differenzierte Auseinandersetzung mit Region und Landschaft erreichte.

Massentourismus, Krise und Wende

Mit den frühen neunzehnhundertsiebziger Jahren begann eine ambivalente Zeit. In diesen Jahren des Massentourismus überzog eine Flut der Unarchitektur die Landschaften. Viele Nord- und Südtiroler Regionen erfuhren in jenen Dekaden einen zerstörerischen Umgang. Das Erbe aus jener Zeit sind nicht nur gestalterische Bausünden, sondern drastische Folgen eines mangelnden Bewusstseins für den Umgang mit Landschaft und Natur. Zu den offensichtlichen architektonischen Verfehlungen, die bis heute andauern, stellt sich eine, vielleicht provokante, Frage. Jene Bauwerke, die vor einem guten Jahrhundert als stilistische Entgleisungen gewertet wurden, hat im Lauf der Geschichte eine milde Patina umhüllt, die sie in unseren Augen ästhetisch versöhnt. Mit dem entsprechenden zeitlichen und historischen Abstand neigt das Auge dazu, zu romantisieren. So könnte es durchaus sein, dass wir in einigen Dekaden manch alpine Architekturmelange der jüngeren Zeit weitaus milder beurteilen.
Die dramatisch aus den Fugen geratene Balance von Natur, Landschaft und Tourismus jener Jahre wird jedoch immer eine unverrückbare Entgleisung bleiben. Ein neues Bewusstsein für das sensible Gleichgewicht von Mensch und Natur entstand vor allem durch die Krise der Tourismusindustrie in den späten neunzehnhundertachtziger Jahren. Sie führte zum Umdenken und neuen Konzeptionen. In Ländern des Alpenraumes entstanden zunehmend wieder vorbildhafte Bauten, die formal als auch konzeptiv von einem neuen Gleichgewicht von Mensch und Natur zeugen. Die Trilogie Natur, Architektur und Tourismus scheint sich langsam wieder zu versöhnen.

Die Erschließung des alpinen Raums im letzten Jahrhundert fand ihren architektonischen Ausdruck in Experimenten und manieristischen Spielarten. Traditionelle autochthone Bauweisen wurden zurückgedrängt, genius loci und die Bedeutung des Geviertes im Sinne eines Gesamtzusammenhanges ging verloren. Veränderte gesellschaftliche, kulturelle und regionale Aspekte definierten ab der Wende zum 20. Jahrhundert neue Entstehungsbedingungen des Bauens in den Bergen und schufen gestalterische Handlungsspielräume. Eine neue soziale Schicht suchte ihre Ausdrucksform und Identität.
Den Weg vom autochthonen Bauen zu den neuen Voraussetzungen alpiner Architektur kennzeichneten konstruierte Landschaft, veränderte gesellschaftliche und kulturelle Befindlichkeiten sowie technologische und ökologische Bedingungen. Vom alleinigen Verlust der autochthonen Baukultur zu sprechen, wäre jedoch verfehlt. Auf die neuen Bedingungen folgten unterschiedlichste Lösungen. Die Ergebnisse sind nicht nur das Erbe der Massenarchitektur, sondern auch experimentelle und gelungene Spielarten des Bauens.

 

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