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Fließtext*
Von Marcel Beyer

Zehn vor acht, ich bin gerade in den Zug eingestiegen, schon steht der Rechner vor mir – auch darum freuen wir uns wohl auf den Monat in Belgrad: Man wird nicht permanent im Turbomodus laufen, laufen müssen. Gestern habe ich versucht, unsere Belgrader Adresse auf dem Stadtplan zu finden, nichts, völlig „hilflos“, ich weiß nicht einmal, was ‚Straße‘ auf Serbisch heißt, erkenne nur ‚dom‘, Haus der sportlichen Jugend oder so ähnlich, schon die Funktion des nächsten ‚dom‘ bleibt mir verschlossen – das ist gut, das macht langsam. Sonne, leichte weiße Schleier am Himmel, angenehm frische Luft – die beschlagenen Autoscheiben, die beschlagenen Glasflächen der Wartehäuschen: Man will unwillkürlich mit dem Finger über diese milchige Schicht streichen, um zu prüfen, ob es nicht den ersten Nachtfrost gegeben hat. Der könnte bald kommen. Und wie schmal die Vögel im Flug sind, hier am Bahnhof, die Taube, die zwei Nebelkrähen – sei es, dass sie sich schmal machen in der Kühle, sei es, dass ihre Silhouetten zusammenschnurren im Licht der über die Stadt steigenden Sonne. Jedesmal, wenn ich hier auf dem Bahnsteig stehe und noch eine Zigarette rauche, bevor der Zug einfährt, der Blick hinüber zur – verkehrstechnischen?, nach sechs Jahren habe ich das wieder vergessen – Hochschule, um zu prüfen, ob auf ihrer Dachkante Krähen aufgereiht hocken. Nein. Um sechs Uhr bin ich aufgestanden, es war noch dunkel, nach einer Viertelstunde kam, mit einemmal, im Küchenbalkontürenfensterausschnitt ein Lichtschimmer, eigentlich nur eine Blaugrauabstufung, im Winkel zwischen linker Eiche und Frölichstraßendächern zum – Vorschein. Dann eine Taube, und dann hockte, ganz still, eine junge Kohlmeise (eine der jüngsten Drillinge oder Vierlinge) auf dem Futterhausdach und schaute herein. Es ist zu kühl, um die Balkontür offen zu halten, und gestern Abend haben wir in der Küche ein bisschen geheizt. Jetzt setzt sich der Zug in Bewegung, drei Minuten nach acht, und außer mir sitzt noch eine einzige Reisende in diesem Waggon – die morgendliche Stunde bis Leipzig, ich kenne sie. Dunstschimmer über den seltsam vor sich hin verrottenden Werkhöfen und Fabrikresten Richtung Elbe (seltsam, weil diese Stimmung mittlerweile anachronistisch wirkt: Erst tat sich fast ein Jahrzehnt nichts, nachdem sich jahrzehntelang ohnehin nichts getan hatte, doch in den vergangenen zwei Jahren wird am Rand der Friedrichstadt renoviert, gebaut), noch immer riesige Pfützen nach den starken Regenfällen bis vorgestern („Über den Lidls / Über den Lidl-Baracken“). Cotta, gleich Kemnitz, dann Cossebaude, bald muss der Katzenfriedhof kommen, den ich allerdings in meinem Leben nur einmal und dann nie wieder gesehen habe. Die Vegetation überall noch, wie sagt man: sehr üppig, Sträucher, Gräser, Kräuter, Baumkronen. Tau. Ein Wegweiser zum Tierheim. Ein Reitplatz. Dresden Stetzsch, nie gehört. Ein flacher Haufen roter Äpfel auf dem Boden. Junge Birken auf den Dächern von Wohn-, Arbeitscontainereinheiten, das habe ich lange nicht gesehen. Als ich nach Dresden, als ich in den Osten kam, gehörten Birken auf den Dächern zum Stadtbild so selbstverständlich wie die Satellitenschüsseln und die bläuliche Beleuchtung der Fenster bei Nacht, deren Sinn ich nie begriffen habe: für die Kakteenzucht auf der Fensterbank? Jetzt haben wir die Elbe überquert und fahren auf Radebeul zu und der optische Reiz schwindet. Ein ganzes Buch, das ausschließlich aus Beschreibungen von Landschaftsabschnitten, Geländedraufsichten bestünde – wäre es reizvoll zu lesen, zu schreiben? Die Kunst würde zum einen darin bestehen, zu wiederholen, ohne sich zu wiederholen, und zum anderen darin, sich nicht den zahllosen Ablenkungsmöglichkeiten hinzugeben: Tiere, Menschen. Aber: Man kann kein Gerald Manley Hopkins sein. Bücher solcher Art kennen wir, kommt mir wegen Hopkins in den Sinn, nur in Form von Diarien, Forschungs- und Beobachtungstagebüchern. Das stille Bild, die Folge von stillen Bildern wird in einen Verlauf gebracht, und dieser Verlauf besteht aus der Abfolge von Daten: Morgens stehe ich auf und schaue. Am folgenden Morgen stehe ich wieder auf und schaue. Aha, Friederike Mayröcker und die Erzählformen: „Lection“ – Roland Barthes: „Lection“, seine Antrittsvorlesung von 1977; „cahier“ – Paul Valéry: „Cahiers“. „etudes“ – dazu fällt mir nur Chopin ein? Das deutschsprachige Pendant – auch das Pendant in der Klavierliteratur? – zu den „etudes“: „Vorschule“ und „Schule der Geläufigkeit“: Das ist ja schon eine irre Behauptung, wenn man auf ein so viele Jahrzehnte zurückreichendes Schreibleben schaut. Doch genau hier liegt das Moment („momentum“, äh): Den Blick NICHT zurückzuwerfen – Orpheusbildlichkeit. Wende dich um, und jemand wird sterben. Aus dem – an sich doch lächerlichen – Grund, dass du dich umgewandt hast. Aber unsere Schrift läuft eben nun einmal von links nach rechts, reicht in das Kommende (das zu Sehende, das zu Hörende: das zu Schreibende) hinein, in die Zukunft, unsere Schrift hört und sieht: den noch leeren Teil des Blattes, die kommenden, die zu füllenden, die weißen Seiten des Hefts. (Hier auch: Derrida, wie er einen volle zwei Tage dauernden, vom Papier abzulesenden Vortrag vor Augen hat, wenn er die Seiten mit Wörtern füllt – aber eben ja: nicht mit Wörtern, sondern mit einer Bewegung.) Wie lange dauert „cahier“? Vor Riesa, bevor wir die Elbe erneut überqueren, der Blick nach rechts, in die sonnenbeschienene Landschaft: Dort hinten war Claude Simon (und er hat keine Spuren hinterlassen, und niemand hier weiß davon, und die Landschaft weiß nichts davon, und die Landschaft kümmert es nicht). Immer noch, immer wieder unglaublich. Fünf nach halb neun. Jetzt Peter Handke lesen, „Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.“ Leipzig. Derzeit – um Leipzig herum wird das Schienennetz erneuert oder so – nimmt der Zug auf Leipzig, in sehr langsamer Fahrt, eine andere Route: optisch schöne, „ansprechende“ Gegenden der Stadt, eben weil ich sie nicht kenne, wohingegen ich auf der gewohnten Route nichts mehr „sehe“, wenn ich aus dem Fenster sehe. Wir hielten kurz auf einer Überführung, mit Blick auf ein Eckhaus unten, das mich anzog: wie aus einem französischen oder belgischen Comic, das in der Zwischenkriegszeit oder der Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt (Tardi), roter Ziegel, schmale Fenster, niedrige Etagen, vom Erdgeschoß mit seinem – leeren – Ladenlokal abgesehen, Blick aus dem dritten Stock über Gartensparten und eben diese Bahnbrücke. Ich sah mich aus dem Fenster sehen.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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