Ohne Zweifel: Die Werte der Aufklärung erleben eine Renaissance. Aber sind wir aufgeklärt?
Zwischenruf von Philipp Blom
Es ist vorbei. Mehr als ein Jahrzehnt verkündigten Politiker und Intellektuelle die Neue Welt, eine Welt der Freiheit und der Demokratie, der liberalen Ideale und der freien Märkte. 1989 war der letzte diktatorische Block zusammengebrochen, der Kommunismus hatte seinen historischen Bankrott erlitten und die Entwicklung der Welt schien überall auf dem Globus unaufhaltsam auf liberale Gesellschaften westlichen Zuschnitts zuzueilen.
Dass es nicht so kommen wird, ist spätestens seit 2008 klar. Das siegreiche System des Westens taumelte plötzlich von innen heraus, seine eigene Dynamik brachte es an den Rand des Zusammenbruchs. Mitten in einer Periode von beispiellosem Frieden und Wohlstand in der westlichen Welt wurde plötzlich deutlich, dass der fessellose Markt die Saat seiner eigenen Zerstörung in sich trägt.
Ein neuer Riss zieht sich seitdem um den Globus, zwischen Gesellschaften und mitten durch sie durch. Wenn früher rechts und links, Kapitalismus und Kommunismus gegeneinander kämpften, so bildet sich jetzt immer deutlicher ein Bruch zwischen liberalen und autoritären Ideen heraus. Auf der einen Seite stehen westliche Gesellschaften, auf der anderen eine amorphe und fließende Koalition, die von Pegida bis Putin reicht, von Marine Le Pens Front National zum Vlaams Belang, von den Evangelikalen in den USA bis zu von ihnen missionierten Schwulenhassern in Kenia, von Boko Haram bis ISIS.
Was diese neuen Feinde der westlichen Welt gemeinsam haben, ist ihr Hass auf die Aufklärung und ihre Werte. Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, Säkularismus und Wissenschaftlichkeit sind ihre erklärten Feinde. Boko Haram, das hauptsächlich in Nigeria die Bevölkerung tyrannisiert, hat seinen Bildungshass zum eigenen Namen erhoben: Bücher sind unrein. ISIS zerstört Kulturdenkmäler und inspiriert terroristische Einzeltäter, die auf Karikaturisten, Filmemacher und Autoren schießen oder sie auf offener Straße zerhacken. Rechte Ausländerhasser bedrohen ostdeutsche Politiker mit dem Tod, weil sie Flüchtlingen Asyl gewähren wollen. Besonders Mädchen werden bedroht und angegriffen, wenn sie in die Schule gehen wollen, sei es in Pakistan, Afghanistan oder Nigeria.
Je suis Charlie?
Bei so viel Hass auf die Aufklärung und so viel Angst vor ihrer Wirkung ist es nur verständlich, dass sich westliche Gesellschaften stärker auf ihr Erbe besinnen. Jahrzehntelang galten die Philosophen der Aufklärung bestenfalls als naiv und schlimmstenfalls als geistige Väter von Massenmord und Unterdrückung, jetzt perlen ihre Gedanken und ihre Namen wieder von den Lippen der Politiker in ganz Europa, als beste Waffe gegen die Barbarei. Wir sind die Aufklärung, je suis Charlie.
In einer konsumgetriebenen und ideenarmen Gesellschaft hat das Attentat auf Charlie Hebdo die Aufklärung wieder sexy gemacht. Freie Meinungsäußerung, Toleranz und Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeit, sondern die Resultate eines über viele Generationen andauernden Kampfes, der in der Aufklärung gipfelte. Ihr Leitgestirn ist Voltaire, der Autor von Candide und dem Traité sur la tolérance, das in den letzten Wochen in Frankreich zum Bestseller wurde.
Gleich neben Voltaire steht Kant im Regal, der Vordenker der Gerechtigkeit. Der Königsberger ist weniger sexy (ein Philosoph, nach dessen Spaziergang man seine Uhr stellen konnte, ein Mann, der abends lachte, nur weil es gut für seine Verdauung war), aber genau darin liegt seine Stärke. Einerseits sind seine langen Texte so unerbittlich wie undurchdringlich, sodass man als Leser versucht ist, seine Schlussfolgerungen einfach zu übernehmen und von da ab als Wahrheiten zu behaupten. Andererseits kann er, selten, wunderbar anschaulich formulieren, wie in seiner Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“, die vielleicht kürzeste und beste, die je gegeben wurde: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Ohne Zweifel: Die Werte der Aufklärung erleben eine Renaissance. Gegen die religiösen und antidemokratischen Dunkelmänner, deren Botschaft immer neue, begeisterte Konvertiten findet, erscheint das Licht der aufgeklärten Vernunft (Enlightenment auf Englisch, Lumières auf Französisch) als natürliche Antipode. Aufklärung steht für die Freiheit, Entscheidungen über das eigene Leben (und Denken) zu treffen, für die Gleichheit aller vor dem Gesetz und vor dem Anspruch, des eigenen Glückes Schmied zu sein, Brüderlichkeit, die inzwischen auch und sehr dezidiert Schwestern mit einschließt, ist immer noch ein Aufruf zur Solidarität mit Frauen, mit Minderheiten, mit Schwulen, mit Flüchtlingen. Wie sagt man in Frankreich? On connait la chanson.
Leider haben sowohl Geschichte als auch Politik die Angewohnheit, sich nur sehr bedingt nach unseren Idealbildern zu richten. Die Aufklärung hat tatsächlich die Welt revolutioniert und bei Weitem nicht nur die westliche. Sie bestimmt auch heute noch unser Denken. Aber wissen wir auch wie?
Die dunkle Seite der Aufklärung
Denken und Leben der Aufklärungsphilosophen bieten nicht nur Lösungen für heutige politische Probleme an, sie sind immer auch Teil des Problems. Nehmen wir Voltaire. Seine Verteidigung der Freiheit hielt sich in gewissen Grenzen, die vor allem durch eines markiert wurden: durch Geld. Denn dieser moderne Sokrates war reich, so reich, dass er auf Schlössern lebte, sein Vermögen im großen Stil an Aristokraten verlieh und im Überseehandel investierte.
Der alte Herr in Ferney machte sich von vorneherein keine Illusionen. Er schrieb darüber, dass an jedem Sack Zucker, der aus den Kolonien kam, Blut klebte, aber er investierte in Plantagen und wusste, wie sein Geld sich vermehrte. Er war sich bewusst, dass die Compagnie des Indes, in der er erhebliche Investitionen hatte, ihre enormen Profite auf dem Rücken von afrikanischen Sklaven erwirtschaftete, und er hatte Argumente parat, diese Praxis zu rechtfertigen: „Wir kaufen ausschließlich Neger als Haussklaven. Man wirft uns diesen Handel vor. Ein Volk, das seine eigenen Kinder verkauft, ist noch verdammenswerter als der Käufer. Dieser Handel zeigt auch unsere Überlegenheit; derjenige, der einen Meister akzeptiert, wurde geboren, ihn zu haben.“
Selbst schuld, befand der Philosophenkönig bei Durchsicht seiner Dividenden. Sklaverei war ein Unglück, gewiss. Er selbst hatte in seinen Romanen Zadig und Candide bewegend darüber geschrieben. Wirklich tragisch aber war es eigentlich, wenn es Weiße betraf, denn: „Ich sehe Menschen, die mir den Negern weit überlegen scheinen, wie diese Neger es den Affen gegenüber sind, und die Affen gegenüber den Austern …“
Voltaire, der Rassist? Es war im achtzehnten Jahrhundert durchaus nicht ungewöhnlich, an eine Hierarchie der Menschenrassen zu glauben und daraus moralische Berechtigungen abzuleiten. Enttäuschend ist nur, dass sich der Schutzpatron der Menschlichkeit nicht darüber hinwegsetzte. Nicht anders als Kant und Hegel nach ihm schrieb er mit dem größten Selbstvertrauen über Kontinente, die er noch nie, elegant beschuht, betreten hatte und deren Sprachen und Kulturen er nicht kannte.
Europäische Kolonialisten hatten diese Argumente in ihrem geistigen Gepäck, als sie sich mit den „primitiven“ Indigenen auseinandersetzten und sie kurzerhand der westlichen mission civilisatrice unterwarfen, von der man in Frankreich so gerne sprach. Alle Menschen seien Brüder, schrieb Voltaire, Kinder desselben Gottes. Nur waren eben nicht alle Kinder ebenbürtig. Die Natur mochte sie gleich gemacht haben, die Gesellschaft aber machte sie ungleich: „Auf unserem armseligen Globus ist es unmöglich, dass Menschen, die in Gesellschaften leben, nicht in zwei Klassen geteilt sind: eine der Reichen, die kommandiert, und die andere der Armen, die dient.“
Säubern, Homogenisieren, Beherrschen
Die Aufklärung ist unentwirrbar verstrickt in die Geschichte der kolonialen Unterdrückung und damit in die Geschichte der Länder, die jetzt unter dem Gewicht einer als religiöse Bewegung getarnten antimodernen Rebellion zusammenbrechen. Aufgeklärte Verwalter implementierten, was sie in Europa gelernt hatten: den Aufbau von Nationalstaaten mit einem Volk, einer Sprache, einer Geschichte. Schon in Europa waren im Zuge dieser Entwicklung Randgruppen ausgegrenzt, Dialekte verboten und verfolgt, Erinnerungskulturen ausgelöscht worden. Jetzt zogen aufgeklärte Männer Grenzen mit dem Lineal durch Stammesgebiete und jahrhundertealte Traditionen. Sie erfanden stabile Stämme, wo früher nur fluide Traditionen gewesen waren, sie designierten Herrscher, offizielle Sprachen, Gesetze und Machtstrukturen. Heute bringen die Menschen besonders in Afrika und im Nahen Osten die blutige Ernte dieser aufgeklärten Neuordnung ein.
Aber auch innerhalb von Europa ist das Erbe des aufgeklärten Denkens ambivalent. Bevölkerungen wurden „gesäubert“ und homogenisiert (von der Sprachpolitik der französischen Revolution, die Dialekte bekämpfte, um aus Bauern, von denen weniger als die Hälfte Französisch sprachen, „Franzosen zu machen“, führt eine direkte Linie zum Holocaust und zur bis heute reichenden Ausgrenzung von Roma etc.). Voltaires robuste Rechtfertigung der Unterdrückung ließ sich ebenso auf Frauen, Kinderarbeiter, die Arbeiterklasse und auf Außenseiter wie Homosexuelle anwenden und Kant steuerte die Einsicht bei, dass es niemals gerechtfertigt werden kann, gegen eine bestehende Herrschaft zu rebellieren. Tugend war Gehorsam.
Die Realität der Aufklärung war die Herrschaft einer gebildeten und wirtschaftlich abgesicherten Elite, deren ökonomische Interessen mit Kolonialismus und kapitalistischer Ausbeutung zusammenfielen und die sich auf Kant und Voltaire berufen konnten. Nicht erst Marx erfand die Idee von Religion als Opium fürs Volk. „Das Christentum ist sicherlich die lächerlichste, absurdeste und blutigste Religion, die jemals die Welt infiziert hat“, schrieb Voltaire an Friedrich den Großen und fügte hinzu: „Ich sage das nicht zum Gesindel, das es nicht wert ist, aufgeklärt zu werden und dem jedes Joch passt, ich sage es unter Ehrenmännern, unter Männern, die nachdenken.“
Das gemeine Volk, so Voltaire, sei einfach moralisch zu schwach und zu dumm, um ohne Religion zu leben: „Der Mensch braucht immer eine Bindung und auch wenn es lächerlich ist, Faunen, Waldgöttern und Najaden zu opfern, ist es doch vernünftiger, diese fantastischen Bilder anzubeten, als in den Atheismus abzusinken.“ Ecrasez l’infâme? Später vielleicht.
Als junger Mann hatte Voltaire drei Jahre in England verbracht. Dieser Aufenthalt war schlüsselhaft für ihn. Auch wenn die englische Küche ihn kalt ließ, war er tief beeindruckt von der herrschenden relativen Meinungsfreiheit, von der konstitutionellen Monarchie, von der Börse, die er als den eigentlichen Tempel des Landes beschrieb, von der oft durch Pessimismus gekennzeichneten Pragmatik der Engländer. Nur Wirtschaftswachstum konnte eine Gesellschaft offener, toleranter, liberaler und friedlicher machen, war er überzeugt. So konnte materielle Gier zum Motor des Wohlstands werden, der Markt funktionierte auch als soziales Korrektiv und belohnte die Tüchtigen. Kaufleute, nicht die Adeligen, waren die eigentlichen Helden der Gesellschaft.
Der erste Neoliberale
Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie solche Ansichten im absolutistischen und standesverliebten Frankreich gelesen wurden. Für heutige Leser allerdings ergibt sich eine bemerkenswerte Parallele zur neoliberalen Wirtschaftstheorie, die zwar an den Universitäten inzwischen aus der Mode gekommen, auf politischer und kultureller Ebene aber noch immer sehr stark spürbar ist. Wie sich die Bilder gleichen. Voltaire, der erste Neoliberale?
Die Ähnlichkeit ist kein Zufall, denn die Ideologie des freien Marktes ist ein Echo der rationalistischen, deistischen Aufklärung nach dem Zuschnitt Voltaires. Beide teilen Grundannahmen wie die Rationalität des Individuums, die individuelle Freiheit, die Toleranz des Marktplatzes, die selbstregulierende Kraft des rationalen Handelns und die meritokratische Elite, die politische und wirtschaftliche Geschicke ganzer Kontinente lenkt. Allerdings wird durch den Markt jeder dieser Werte ökonomisch interpretiert. Die Rationalität wird zur Rationalisierung, die Freiheit zur Deregulierung, die Elite zum Boardroom und Tugend zu wirtschaftlichem Erfolg – eine Parodie der Aufklärung.
Voltaire hat diese Entwicklung nicht vorausgesehen und er würde die Banker von heute wohl heimlich verachten, was ihn allerdings nicht daran hindern würde, Geschäfte mit ihnen zu machen. Vielleicht würde er heute diskret im Waffengeschäft investieren, solange die Produkte in obskure Bürgerkriege weit von Europa verschwänden.
Als großer Stilist bleibt Voltaire immens zitierbar und sein Genie dafür, Dummheiten aufzuspießen, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Seine Philosophie taugt aber nicht dazu, gegen die gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart anzudenken. Eine Toleranz, die nur die Gleichgültigkeit des Marktplatzes ist, eine Aufklärung, die einer Elite vorbehalten bleibt, ein Freiheitsbegriff, der die Schwachen für ihr Los verantwortlich macht, und eine Vernunft, die durch Aberglaube regiert, können weder im ideellen Kampf gegen religiöse Fundamentalismen noch für das Hinterfragen einer durchökonomisierten Gesellschaftsvision nützen.
Neue Aufklärung
Was ist geworden aus der Aufklärung als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“? Nicht viel, in einer Gesellschaft, in der Entertainment immer attraktiver ist als Verständnis und in der Konsum das erste Mittel ist, sich eine Identität zu basteln, einer Gesellschaft, die ihren Wohlstand noch immer auf Ausbeutung gründet, auch wenn die meisten Ausgebeuteten heute fast unsichtbar geworden sind und auf anderen Kontinenten leben, in einem Markt, der statt Freiheit Unsicherheit geschaffen hat, die nicht nur ihn selbst als System, sondern besonders auch die Marktakteure bedroht, die früher Bürger hießen und jetzt Konsumenten genannt werden, Konsumenten, die nur ein Existenzrecht haben, solange sie noch Kredit bekommen.
Wir haben die Unmündigkeit nicht nur als Imperialisten in fernen Ländern durchgesetzt, wir haben sie auch in unsere eigenen Gesellschaften integriert. Wer kann sich noch leisten, wirklich grundlegende Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen, ohne den Anschluss an die Transzendenz der Konsumwelt zu verlieren, die einzige Transzendenz, die wir noch haben?
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wir müssen tiefer graben, wenn wir die Aufklärung retten wollen. Wir brauchen nicht weniger als eine neue Aufklärung, um diese großen Ideale, den schönsten Traum, den die Menschheit je geträumt hat, vor sich selbst zu retten.