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Satzspiegel*
von Bert Wrede

Während ich früher wahnsinnig viele Töne in eine Minute meiner Musik pressen konnte, bin ich inzwischen ruhiger und entspannter. Musik auf den Punkt zu bringen, also mit wenigen Tönen auszukommen, ist ebenso spannend wie anspruchsvoll. Denn nicht die Vielzahl der Töne macht es. Oft ist es genau das Gegenteil. Mozart war nicht sparsam mit Tönen und seine Musik ist wunderbar. Mozart funktioniert auch als Klingelton, total reduziert, als sound branding, zwar scheußlich, aber erkennbar. Und auch Venetian Snares, der Breakcore Spezialist aus Kanada, geizt nicht mit Kleinteiligkeit und ist gerade dadurch groß. Ich liebe diese mit vielen Tönen angefüllte Musik. In meiner Arbeit interessiert mich aber die Reduktion viel mehr als der Überfluss. Für mich muss Musik für Theater und Film eher eine Art unvollständiger Musik sein. Musik als Transportmittel, als Container für Gefühle und Stimmung. Besonders interessieren mich dabei eher ungewohnte und überraschende Ansätze. Wenn Musik oder Klang zunächst nicht zum inhaltlichen Kontext zu passen scheinen, plötzlich aber dem Ganzen einen Rahmen, eine neue Perspektive geben. Das erweckt mein Interesse doppelt. Gern arbeite ich mich langsam – wie ein Bildhauer oder Maler – an den Kern der Dinge heran. The least common multiple. Durch das Weglassen des nicht unbedingt Nötigen eine Redundanzfreiheit zu erreichen ist das Ziel. Genau deshalb ist es mitunter ein sehr schmerzhafter Prozess, zum gewünschten Ergebnis zu gelangen.
Zunächst nächtelange Qual. Am nächsten Tag vielleicht eine Erkenntnis. Manchmal gewinnt man diese Erkenntnis aber auch erst Wochen, vielleicht sogar Monate später. Doch plötzlich weiß man, was zu viel ist, was weg muss.
Und dann ist es da: Das Gefühl, etwas Einzigartiges gemacht zu haben. Musik, von der man selbst nach dem dritten und vierten Hören weiß: „das“ ist es, das ist unique, das ist „das“, wonach ich gesucht habe. Zufälle spielen dabei natürlich auch eine Rolle. Gerne probiere ich Extreme, um später zu interpolieren und wegzulassen. Ich stelle Fülle und Reduktion einander gegenüber und entscheide mich dann für die Reduktion, wobei die Reduktion ohne die Fülle zuvor meist gar nicht möglich gewesen wäre. Wenn ein musikalischer Gedanke stimmt und gut ist, dann weiß man das. Gefühle in Musik zu fassen ist schwer und leicht zugleich. Bei meiner Arbeit für Film und Theater geht es für mich darum, ein Gefühl weiterzutragen, nichts auszumalen, sondern einen Fantasieraum zu schaffen. Eben Geschichten mit Musik zu erzählen. Letztendlich spielt dabei die Weiterentwicklung der Instrumente eine große Rolle. Seit den 1990er Jahren hat sich durch die massenhafte Verbreitung von Computern und die damit verbundene Entwicklung von Musiksoftware sehr viel getan. Täglich gibt es neue Softwareinstrumente bzw. Klangbearbeitungssoftware. Notenpapier und Stift sind inzwischen dem Notenschreiben und der Arbeit am Rechner gewichen. Ich kenne beides und vermisse es natürlich, Noten mit der Hand zu schreiben. Aber die Möglichkeit, Musik zu machen, die dann wirklich so ist, wie man sie hören will, ist der Gewinn. Während ich früher im Studio saß und dem Toningenieur neben mir stundenlang zu erklären versuchte, was ich meine, kann ich diese Dinge nun selbst tun. Man muss trotzdem – oder genau deshalb – wissen, wonach man sucht und was das Ziel ist, sonst verliert man sich gnadenlos in der Überfülle der Möglichkeiten. Die Einflüsse kommen von überall. Sie sind omnipräsent. Alle Kunstformen, alles was man rezipiert, findet schließlich einen Weg in die Arbeit. Filme, Literatur, Ausstellungen, Theater, Nachrichten, die Beschäftigung mit Kunst, Begegnungen, Gespräche, Kultur und Gesellschaft sind dabei die Quellen. Überall finden sich Dinge, die eine bestimmte Richtung des Denkens anstoßen. Musik zu machen ist wie eine Reise, auf die man sich begibt. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Die Entscheidungen, die man auf diesem Weg trifft, führen zu den Ergebnissen, die man letztendlich zeigt.
Zurück bleiben „Schubladen“, angefüllt mit übrig gebliebenen, aussortierten Tönen.

— * Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert.
— Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln
und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

 

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