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Die Möglichkeitsform der Bilder

Axel Hütte hat für diese Ausgabe von Quart fotografiert – am Umschlag und auf den folgenden Doppelseiten sind seine Arbeiten zu sehen, die der in Japan lebende Leopold Federmair vorab zu Gesicht bekam, um den nachstehenden Text zu verfassen:

1
Sich halten ans silberne Band, an den Wasserlauf, der den natürlichen Weg zeichnet, der nicht immer geeignet ist für jedes Tier, jeden Menschen, jeden Wanderer, der sich frei zu bewegen glaubt. Anders als Viehsteige, es gibt keine Geländer, keine Gewohnheiten. Ist man das Wegstück gegangen, dreht man sich um, wendet den Kopf, nicht den Körper. Was zu Tal sprang, ist erstarrt, bleibt außerhalb der Zeit, der Sekundenläufe, für immer, zurück. Die sprühenden Tropfen, unzählige Teilchen, sind eins geworden und werden bleiben. Das Band suspendiert die Bewegung. Wir können uns daran halten. Wir gehen weg, das Band bleibt. Es schimmert, wenn wir nicht hier sind, im Mondlicht.
An diesem Punkt des Wegs gibt es noch Einzelheiten. Strähnen und Fransen, Zweige und Äste, gefallene Steine. Bewegung zum Licht, Bewegung in die Tiefe. Zwei Gesetze, unbekümmert um einander. Was lebt, hat eine Geschichte, die uns berührt, und will sie erzählen. Erzählt sie, ob sie gehört, gesehen wird oder nicht. Was lebt, wehrt sich gegen die Form, die es einsperrt. Es fügt sich und fügt sich nicht. Der Blick bringt das Lebendige zur Vernunft, indem er beharrt. Was er feststellt, wäre lieblich, ließe er es nicht erstarren. Der Blick zieht den Einzelheiten ihre Form ab und hält sie ihnen vor: Das seid ihr, das bist du und du – gewesen. Aber die Dinge wollen nichts wissen, sie bleiben bei sich, fahren fort mit ihrer eigenen Erzählung, die wir für einen Augenblick, der kürzer gewesen sein wird als ein Lidschlag, vernommen haben.
Der Blick hat das unübersehbar Vereinzelte dem Chaos entrissen, der Zusammenhanglosigkeit. Er schafft die Ordnung, die er dort vorfindet. Er geht den Linien nach, simuliert und überzeichnet sie. Es sind Schichten, die auf eine Geschichte verweisen, aber die Geschichte ist versunken, die Erzählung verstummt. Stufen, auf denen wir gehen könnten, wären wir Riesen, aber wir sind keine Riesen, oder nur in Gedanken, riesenhaft durch Gedanken. Hebungen oder Senkungen, durchschnitten im Fall, der lotrecht wäre, wehte da nicht ein Wind (den wir nicht sehen). Hebungen? Senkungen? Welches Gesetz gilt? Jetzt dieses, jetzt jenes. Mit dem ersten Betrachter betrachten wir, immer noch verharrend, die Landschaft und können uns nicht entscheiden; werden bald erhoben, bald niedergedrückt. Nebel bricht ein, wir gehen zu Boden. Das Naturtheater ist in unsere Phantasie ausgewandert, dort wähnen wir uns frei.
Die Landschaft ferngerückt, sie rührt uns nicht mehr. Kein Vorder-, kein Hintergrund, kein Dazwischen. Wir sind auf uns selbst verwiesen. Wie alt ist die Erde? Älter als wir? Man begann die Natur erst zu begreifen, als man sie nicht mehr begriff. Sie war jetzt das Andere, ungerührt und teilnahmslos. Versteinerungen von Blättern, Nadeln, Tropfen, Steinen, Formen. Was uns nahe kommen und nahe sein könnte, in unüberwindliche Fernen gehoben. Wasser steigt als Dunst, der Fall ist beendet, auch wenn er weitergeht. Das andere dort, jenes Verharrende, hat keine Sinne, um uns aufzunehmen, es erwidert nicht unseren Blick, vernimmt nicht den Ruf – falls jemand ruft. Wir bleiben außerhalb und versteinern, diese Lektion haben wir mit dem ersten suspendierten Schritt gelernt.

2
Wir gehen weiter, höher und weiter. Das Lebendige ist zurückgeblieben. Hier stört nichts mehr, wir befinden uns vor dem Bereich des Idealen, der uns ausschließt – die Distanz wäre so oder so unüberwindlich. Die ideale Form ist das Dreieck: die Schwere läuft in der Spitze zusammen, wird leicht, löst sich auf in Nebel, Dunst, Luft. Nicht ideal, die hier verwirklichten Formen. Aber die mehr oder minder geraden, nur leicht gebogenen Umrisslinien streben zum Ideal. Abweisende Glätte, am reinsten verwirklicht vom Gletscher, der jedoch eigene Formen hervorbringt, die an das Organische erinnern, weil sie sich danach sehnen. Das Leben des Schnees und des Eises, Schichten und Kristalle, Lagerungen über dem abweisenden Stein, in den keine Stimme dringt. Sehnsucht nach Erlösung, Verwandlung. Der kleinste Wandel ist der Beginn der Erlösung. Unser Auge sucht vergebens nach Anzeichen. Es sucht, immerhin, immerzu. Der bohrende, schmelzende, abgewiesene Blick soll sich auf der Suche verlieren.
Nichts stört. Die Formen verweisen auf nichts, sie genügen sich selbst. Natur ist Kunst um der Kunst willen: das beginnen wir einzusehen, nachdem unser Blick verloren ist. Was oben währt, das Unstoffliche, erweist sich als identisch mit der künstlerischen Materie, die man uns reicht: Weiß, Papier, Rechteck. Oben und außerhalb endet das unschuldige Spiel der Dreiecke, Trichter, Pyramiden. Es ist nur noch dieses An-sich. Also mehr als nichts (immerhin) und weniger als nichts (leider).
Zum Unstofflichen geleitet uns, nein: geleitet sich der Wasserdunst, der Nebel, das Pneuma. Es handelt sich um eine Art Übergang, also reine Bewegung, unmerkliche Verwandlung: Das Etwas ist und ist nicht mehr; es ist nicht mehr und ist. In lieblicher Landschaft, viel weiter unten, sähen wir Rauch, dieses Zeichen von Reinigung, Vergehen und Werden, und wir wären erleichtert über die Störung im Bild, sei es auch nur, weil wir daran dächten, dass jemand, ein menschliches Wesen, Feuer gemacht hat, um sich zu wärmen oder zu nähren oder beides, es ist ja dasselbe. Welche Anmut, nur weil wir Menschliches ahnen und sehnen dürfen. Dagegen erhaben ist das Unmenschliche. Es vernichtet uns, indem es der Reihe nach alle Attribute vernichtet. Nicht nur unsere eigenen, sondern die Attribute von allem, was wir wahrnehmen und wahrnehmen könnten.
Der Rauch zieht eine Spur durch das Bild, aber der Nebel verschleiert nach und nach alles, wie auch der Schnee (der Schnee ist der irdische Schleier). Das Blatt Papier stellt diesen Schleier dar. Licht und Schatten, auf dem Blatt festgehalten, stellen das Verschleierte dar. Was dunkel war, das Irdische, von Bändern durchzogene und gebundene Irdische, erscheint nun geblendet und blendend. Aber auch gedämpft, ruhig, still. Die Zeit vergeht nicht, wird nie mehr vergehen. Es gibt kein Vor- und kein Nach-diesem-Bild. Die ideale Form ist das Dreieck: Trampolin der Unendlichkeit.

3
Wir gehen zurück und weichen zur Seite, es ist ein Schrumpfungsprozess. Vielleicht haben wir uns, unseren Geist, zu sehr ausgedehnt. Er strebte danach, seiner Bestimmung gemäß, sich über alles zu legen. Wir hatten uns uns vor die Bilder gestellt. Jetzt weichen wir, es ist ein Effekt ihrer Herausforderung. Und so beginnen wir neu zu sehen. Wir lernen zu sehen, das ist der Effekt. Im Paradies der idealen Formen erschließen sich uns die Einzelheiten, die Spuren des Menschlichen, eine Art Rauch. Ja, da ist sogar eine Hütte. Und dort ein Kreuz, ganz oben, wie es sich gehört, und etwas darunter, wie es ins Bild gehört, eine Hütte. Der Schemen der gekreuzten Striche und der dunkle Fleck im Weiß sind etwas, sie verweisen nicht mehr auf sich, sondern auf etwas anderes: ein Ziel, eine Mühe, eine Ebene. Etwas Fernes. Etwas Nahes und Fernes.
Von oben könnte jemand herabschauen. Es gibt wieder oben und unten! Es gibt Aufstieg und Fall! Der Gegenblick könnte erfolgen. Der Ruf. Das Echo. Der Raum könnte ausgeschritten, ausgemessen, sogar ausgefüllt werden. Könnte: der hartnäckige Konjunktiv. Es ist nur eine Vorstellung, die Rückkehr der Phantasie. Tatsächlich zeigt sich, dass alles Mögliche eingesprenkelt ist in die unberührbaren Flächen, die unvollkommenen Rechtecke, die schiefen Ebenen, von denen irgendwann – es gibt ein Irgendwann! – etwas rutschen und schließlich fallen könnte. Es sind sogar Bäume, die stehen, aufrecht, wenngleich verschneit, eingeweißt. Es ist ein Raubvogel, oder ein Flugzeug, oder ein fahlblaues Dreieck in der Wolkendecke hinter dem Nebel. Die Harmonie dieser, nicht unserer, Sphäre zerbricht (immer schon), die Risse legen Schichten frei, es ist nicht alles so anders, wie wir denken wollten. Am Ende gibt es das Andere nicht, das Bild war Illusion.
Also ist da doch etwas zu sehen, sogar ziemlich viel, unendlich viel. Nur ist dieses Viele einmal zu fern, als dass wir es unterscheiden und also aufnehmen könnten in unseren Geist, in unsere Phantasie und weiter in unser Sehnen. Und es ist zu nahe, so dass wir den Gletscher mit seinen Stufungen für die Scheibe eines Baumstamms mit seinen Jahresringen halten können oder für das Gewimmel eines Haufens von Ameisen mit ihren endlosen Wegen oder für ein nächtliches Traumbild oder ein Kaleidoskop, dessen Teile und Fügungen jederzeit umspringen könnten (Konjunktiv). Das Blendendweiß und Nebelgrau zeigt sich auf einmal farbig, waldgrün, nachtbunt. Zu nahe, zu fern. Jetzt zu nahe, jetzt zu fern. Kein Vordergrund und kein Hintergrund, kein Mittelgrund, kein Auseinander. Sondern einmal das, dann wieder das, und nur das. Ein Verwirrspiel, Zitterspiel, aber kein Ausgleich, keine Harmonie. Unordnung und Harmonie, jetzt und jetzt und jetzt. Kein Raum tut sich auf, daher keine Wanderung, jede Geste bleibt suspendiert, auch und besonders die großen. Im Naturtheater sind wir am Ende und Anfang der Geschichte. Die Berührung von Anfang und Ende wird – wenn überhaupt etwas – gespielt. Mit Spuren menschlicher Nebendarsteller. Kollateralphänomene.

4
Der gewichene und trotzdem (deshalb) beharrende Blick lässt los, was es loszulassen gibt. Zunächst, am Anfang des Endes, schnellt das silberne Band in den Raum – nicht des Bildes, fürs erste, sondern in den Raum zwischen Bild und Betrachter: gleich einer Zunge, die leckt und sich wieder zurückzieht, wie an der Küste, zwischen Festland und See. Der Mann auf seinem Posten am Gegenhang oder Gegenberg hat geduldig gewartet, bis der Nebel den im selben Vorgang wiedergekehrten Bildinhalt eingekränzt hat, so dicht, dass das Hinweisende mehr Platz einnimmt als das, worauf hingewiesen wird. Dieses scheint also geschrumpft, doch in Wahrheit ist es hervorgehoben; nicht erhoben, sondern intensiviert, obwohl oder weil es sich vom Nebelkranz fast nicht abhebt. Die Schärfe wächst mit der Verfeinerung. Hingewiesen sei auf das, was sich wandelt, jetzt und hier, und auf mehr, das sich wandeln kann. Es reißt auf und macht zu. (Es = Welt = wir.) Es zeigt und verschließt sich. Es ist da, obwohl es nicht da ist, will sagen: Das Verborgene zeigt sich geborgen.
Das Erhabene entfaltet nun seine Anmut, es lässt sich bekränzen. Das Relief der Zacken, der Dreieckszähne, all dieses Reißerische, das sich dem Idealen, gar Himmlischen angebiedert hat wie der böse Wolf im Märchen, wird flach wie das Papier oder der Bildschirm, auf das oder den es gebannt worden war. Der Berg klappt herunter, die Berge, die Zacken, das ganze Gebirge klappt in unser Zimmer, weicht an die Wände, wo wir die Bilder der Reihe nach mit diesem Zögern und Zurückweichen, diesem Entziehen und Hindeuten, aufgehängt haben. So, von rechts oben nach links unten, von rechts unten nach links oben, erzählen sie doch noch eine Geschichte, werden laut, werden leise, flüstern. Der Berg begibt sich mitsamt seinem Gefolge, den Bäumen und Steinen und Quellen und Vögeln, durch die Öffnung des Rahmens, und gleichzeitig, wie kann es anders sein, schmilzt das Eis, wird Wasser, stürzt über Stufen, beruhigt sich im See. Und, fernerer Effekt, eine andere Geschichte: wird auch Holz, wächst als Baum, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Wasser wird Eis, gefrorene Tropfen auf Blättern. Nähe und Ferne spielen wieder ihr Widerspiel. Was so streng aussah, ist voller Nachsicht gegen die Störungen, aus denen Neues, Unerhörtes, Ungesehenes sprießt.
Die Blätter hängen an den Wänden. Der Nebel steigt oder sinkt. Der Wasserfall steht auf. Das Bild zieht uns aus der Blickschneise. Wir sind schon ganz in der Nähe. Wir müssen uns nicht ängstigen. Wir müssen nicht einmal resignieren, weil wir wissen, dass wir nie etwas besitzen werden, nicht einmal uns selbst. Wir müssen nicht müssen. Jedes Ziel ist gut, und es wird immer welche geben. Aber kein Endziel. Oder doch? Kümmern wir uns nicht darum! Selbst wenn wir uns heraushalten aus dem, was sich uns aufdrängt, kommen wir weiter. Neugierig geworden, halten wir uns ruhig heraus. Man kann das, was sich dort zu sehen gibt, nicht berühren, denn es entzieht sich, wenn wir das Auge, den Arm, die Fühler auszustrecken beginnen. Unberührbar sitzen wir im Theater, in unserem Zimmer, in unserer Welt. Wir leiden nicht Furcht noch Schrecken. Sondern ziehen, die Augen zu Fühlern geworden, eine warme Spur über glatte Flächen.

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