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Schlechte Karten

Eine Polemik gegen die weit verbreitete Meinung, für „die Kunst“ werde viel zu viel Geld ausgegeben, so lautete der Auftrag. Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister antwortet mit einer Analyse – zum Stellenwert kultureller Produktion im Zeitalter des Neoliberalismus.

Seit gut 25 Jahren orientiert sich die europäische Politik an jenen Leitlinien, welche von der (neoliberalen) Schule von Chicago entwickelt wurden – den ideologischen Hauptfeinden des europäischen Sozialmodells: Ent-Fesselung der Finanzmärkte, Bindung der Politik an Regeln (Maastricht-Kriterien, Statut der EZB, Fiskalpakt), Vorrang der Geldwertstabilität gegenüber der (Voll)Beschäftigung, Abbau des Sozialstaats, Senkung der Staatsquote, Deregulierung der Arbeitsmärkte samt Kürzung des Arbeitslosengelds, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit als „Allheilmittel“ etc. Wie in den 1930er Jahren haben diese Therapien in eine Depression geführt, ausgelöst von einer Finanzkrise.
Die Kürzung der Kulturbudgets ist Teil der Sparpolitik, welche in ganz Europa zur obersten Maxime der Politik geworden ist. Sie erscheint den Eliten angesichts hoher Budgetdefizite und steigender Staatsverschuldungen unausweichlich („Sachzwang“). Die theoretische Begründung von Sparpolitik und allgemein von Austeritätspolitik liefert die seit den 1970er Jahren zunehmend dominante Weltanschauung des Neoliberalismus. Demnach steuert „der Markt“ wie eine „unsichtbare Hand“ ökonomische Prozesse viel effizienter als bewusstes Handeln der Politik – sei Letzteres auch noch so gut gemeint. Dies gälte nicht nur für die Produktion rein privater Güter, sondern etwa auch für Bildung, Kultur oder Gesundheit. Den Schlussstein des neoliberalen Gedankengebäudes bildet der Begriff der Freiheit: Sie wird negativ begriffen als maximale Abwesenheit von (staatlichem) Zwang, ihr Wert steht über allen anderen Werten und Zielen.

Blickt man auf die Nachkriegszeit zurück, so erhebt sich ein Argwohn: Könnte es sein, dass der Neoliberalismus selbst und die daraus abgeleitete „Navigationskarte“ der Politik jene Krisen und damit „Sachzwänge“ produziert haben, welche Sparpolitik und Sozialabbau unausweichlich erscheinen lassen? Ist der Neoliberalismus jene Krankheit, für deren Heilung er sich hält? Vertieft der Lernwiderstand der „Therapeuten“ die Krankheit immer mehr, weil sie sich nicht als deren Verursacher wahrnehmen können? Ein Vergleich der Prosperitätsphase mit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte nährt diesen Argwohn.
Bis Anfang der 1970er Jahre ist die Staatsverschuldung (relativ zum BIP) stetig gesunken, genau in jener Zeit, als der Sozialstaat ausgebaut wurde. Generell war die Politik in dieser Phase bestrebt, gesellschaftliche Prozesse aktiv (mit) zu gestalten. Sie hat sich dabei an konkreten Zielen orientiert wie Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Preisstabilität, faire Einkommensverteilung, Förderung von Bildung und Kultur. Das theoretische Fundament war die keynesianische Wirtschaftstheorie, Ergebnis der Aufarbeitung der Weltwirtschaftskrise: Die Gütermärkte wurden liberalisiert, die Finanzmärkte blieben reguliert. Unter diesen Bedingungen konnte sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, das „Wirtschaftswunder“ war Folge dieser „realkapitalistischen Spielanordnung“. Dauernde Vollbeschäftigung stärkte in den 1960er Jahren die Gewerkschaften immer mehr, Streiks nahmen zu, eine Umverteilung zu den Löhnen wurde durchgesetzt, der Zeitgeist drehte auf „links“ und blies die Sozialdemokratie in Ländern wie Deutschland und Österreich an die Macht. Damit war die Stunde der neoliberalen Ideologen gekommen: Nur sie hätten immer schon vor Sozialstaat und Gewerkschaften gewarnt! In die Defensive gedrängt wandten sich die Unternehmer(vertreter) dieser Ideologie zu.
Die neoliberale Forderung nach einer Ent-Fesselung der Finanzmärkte ändert die Spielanordnung fundamental: 1971 wird das System fester Wechselkurse aufgegeben, der Dollar verliert zweimal massiv an Wert, darauf reagiert die OPEC mit den beiden „Ölpreisschocks“, welche zwei Rezessionen nach sich ziehen. Um 1980 wird das Ziel einer Stabilisierung der Zinsen aufgegeben, seither liegen sie in Europa über der Wachstumsrate. Darauf sowie auf die enormen Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen und Aktienkursen reagieren die Unternehmen mit einer Verlagerung ihres Profitstrebens von Real- zu Finanzinvestitionen, das Wirtschaftswachstum sinkt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen („finanzkapitalistische Spielanordnung“). Daraufhin verordnet die EU Anfang der 1990er Jahre eine permanente Sparpolitik, Deregulierung der Arbeitsmärkte und sonstige „Strukturreformen“. Diese Politik wird nach der Finanzkrise 2008 intensiviert, Europa schlittert in eine Depression.

Begreift man Freiheit sowohl negativ als Abwesenheit von Zwang als auch positiv als Entfaltungsmöglichkeit und somit als die Freiheit, unterschiedliche Lebensentwürfe realisieren zu können, so wird eine fundamentale Paradoxie kenntlich: In einer im Namen der Freiheit gestalteten Wirtschaftsordnung nimmt der Zwang zur Anpassung an „den Markt“ immer mehr zu (vom Sparzwang des Staates bis zum Zwang von immer mehr Menschen, jeden – auch prekären – Job annehmen zu müssen). Gleichzeitig werden die Möglichkeiten der Politik, das gesellschaftliche Leben zu gestalten, immer stärker beschnitten, ebenso wie die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger.
Im Sinne von Hegels „Die Wahrheit ist konkret“: In den 1950er und 1960er Jahren war die Freiheit der Politik und der meisten Bürger ungleich größer als heute. Dies gilt insbesondere für die positive Seite der Freiheit, also den Gestaltungsraum des gesellschaftlichen und individuellen Lebens. Die Freiheit der Vermögenden ist freilich stetig gewachsen: Je mehr durch „den Markt“ statt durch die Politik entschieden wird, desto größer ist ihr Einfluss. Denn am Markt wird mit „Geldstimmen“ abgestimmt, in der Demokratie gilt aber „one (wo)man, one vote“.
Dies verdeutlicht, warum neoliberale Ideologen mit einem negativen Freiheitsbegriff operieren und diesen weiter einschränken zu „Freiheit von staatlichem Zwang und sozialstaatlicher Bevormundung“. In diesem Sinne sind heute viel mehr Menschen „frei“ als vor 40 Jahren, sie sind insbesondere „frei“ von umfassender Existenzsicherung durch den Sozialstaat, egal ob durch das Gesundheitssystem, das Arbeitslosengeld oder die Altersvorsorge. Verwendet man (auch) den positiven Freiheitsbegriff, so wird klar: Mehr Entfaltungsmöglichkeiten des einen bedeuten meist weniger für den anderen. Denn die Produktion und (damit) die Gesamteinkommen sind ebenso beschränkt wie die natürlichen Ressourcen – letztlich also die „gesamtgesellschaftliche Freiheit“. Dieser Konflikt wird in einer realkapitalistischen Wirtschaftsordnung dadurch gemildert, dass der „Gesamtkuchen“ stetig wächst – der Finanzkapitalismus stellt hingegen (bestenfalls) ein Nullsummenspiel dar.

Seit gut 20 Jahren vertreten die beiden traditionellen politischen Lager, die christlich-konservativen und die sozialdemokratischen Parteien, neoliberale Grundpositionen. Durch Wahlen konnten sich daher die meisten Bürger nicht gegen Sparpolitik und Sozialabbau wehren, obwohl diese den Interessen der Mehrheit widersprechen. Werden die Opfer immer mehr, so formiert sich Widerstand, entweder in Form rechtspopulistischer Bewegungen, welche die Verbitterung der Deklassierten auf Sündenböcke lenken (mit medialer Unterstützung mancher Vermögender), oder in Form linkssolidarischer Bewegungen, welche die Lage der Schwächsten durch sozialstaatliche Maßnahmen bessern wollen wie in Griechenland und Spanien – erfolgreich trotz medialen Gegenwinds.
Damit wird offenkundig: Neoliberalismus und Demokratie sind in letzter Konsequenz nicht kompatibel, nur einer kann der Souverän sein, entweder die Bevölkerung, repräsentiert durch Parlament und Regierung, oder „der Markt“, repräsentiert durch die ökonomischen Eliten als die Deuter der „unsichtbaren Hand“. Dieser Fundamentalkonflikt wird umso klarer, je mehr sich die durch die neoliberale „Navigationskarte“ verursachte Krise zuspitzt. Er wird die gesellschaftliche Entwicklung in ganz Europa in den kommenden Jahren prägen, Griechenland und Spanien sind nur Vorläufer.
Die prinzipielle Unvereinbarkeit von Neoliberalismus und Demokratie hat Hayek als erster erkannt. Wenn im Parlament eine „Diktatur der Mehrheit“ ein Gesetz beschließt, welches die individuelle Freiheit einschränkt (etwa die Pflichtmitgliedschaft in einer sozialen Krankenversicherung), so soll eine Art Weisenrat („jury“) dieses aufheben können. Es war daher nur konsequent, dass Hayek Pinochet in Chile besuchte mit der Begründung: „Personally, I prefer a liberal dictator to democratic government lacking in liberalism.“
Mit der Forderung nach einem Primat des Markts über die Politik stellt die neoliberale Ideologie das Verhältnis von Subjekt und Objekt auf den Kopf: Nicht der Mensch bedient sich des Markts als eines Instruments zur Lösung ökonomischer Probleme, sondern „der Markt“ wird als Subjekt gedacht, dem sich die Menschen und insbesondere auch die Politik anzupassen hätten. Damit erweist sich der Neoliberalismus als das größte jemals umgesetzte Projekt der Gegen-Aufklärung. Statt des „Ausgangs des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) gegenüber Gott, Kaiser und Kirche im Sinne von „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“ (Brecht), bewirkt die neoliberale Ideologie eine neue Selbst-Entmündigung gegenüber „dem Markt“ als einem höheren Wesen, das die ökonomischen Geschicke mit „unsichtbarer Hand“ lenkt.

Bisher habe ich die Staatsausgaben für Kultur noch gar nicht erwähnt – Themenverfehlung? Nein, denn die Sparpolitik in den verschiedenen Bereichen ist eingebettet in den generellen „Sachzwang“ des Sparens. Einschränkungen für die kulturellen Aktivitäten wird man – wie in anderen Bereichen auch – nur dann erfolgreich bekämpfen können, wenn man zweierlei zeigen kann. Erstens: Der „Sachzwang“ der Austeritätspolitik wurde produziert, und zwar durch solche Änderungen in den ökonomischen Anreizbedingungen, die unternehmerische Aktivitäten systematisch schlechter stellen als Finanzalchemie. Nur auf diesem indirekten Weg konnten die machtpolitischen Hauptziele erreicht werden: Schwächung des Sozialstaats und der Gewerkschaften. Zweitens: Die theoretische Basis für diesen Systemwechsel lieferten die neoliberalen „master minds“, ihre Theorien legitimieren nicht die Interessen des Realkapitals, sondern des Finanzkapitals.
Allerdings: Der durch die neoliberale „Navigationskarte“ produzierte Sparzwang trifft nicht alle Bereiche staatlicher Aktivitäten in gleicher Weise. Er konzentriert sich auf jene Bereiche, in denen Sozialstaatlichkeit und Gewerkschaften (noch) relativ stark verankert sind, wo gesellschaftskritisches Denken (noch) gepflegt wird und wo die Widerstandskraft der Betroffenen gering ist. In ganz Europa wurde daher am meisten in der Arbeitslosenversicherung und im Pensionssystem gespart, des Weiteren in jenen Bereichen des Bildungssystems, deren „Output“ nicht ökonomischen Effizienzsteigerungen dient („Orchideenstudien“), und schließlich in der Kulturförderung.
Im ersten Schritt musste in der öffentlichen bzw. veröffentlichten Meinung ein „common sense“ über den Sparzwang durchgesetzt werden, dann wurde das „Florianiprinzip“ wirksam: Die einzelnen Gruppen versuchten, ihre Positionen zu verteidigen, und die „Sparpakete“ spielten die Gruppen gegeneinander aus. Unter diesen Bedingungen haben Kulturschaffende aus zwei Gründen besonders schlechte Karten. Erstens: Sie bilden nicht nur keine homogene Gruppe mit einer entsprechenden Interessenvertretung, sondern sind auf Grund ihrer Tätigkeit in hohem Maß Individualisten. Zweitens: Das Bild von Kulturschaffenden wird durch die mediale Präsenz von Stars geprägt, diese sind ohnehin „g’stopft“ und können ruhig mehr Steuern zahlen oder mit weniger Förderung auskommen.
Das „färbt“ auf alle Kulturschaffenden ab, auch wenn klar ist, dass „Stars“ ihrem Wesen nach nur die wenigsten werden können. Wie prekär die soziale Lage der allermeisten Kulturschaffenden ist, bleibt der Öffentlichkeit verborgen und wäre wohl auch dann kein Thema politischer Auseinandersetzungen, wenn es bekannt wäre. Schließlich haben die Künstler und die meisten anderen Kulturschaffenden viel mehr Freiheiten als („normale“) Arbeitnehmer …
Relativ besser ist die Lage der im Bereich der „Hochkultur“ Tätigen: Schließlich steigern Burg und Oper, die Salzburger und Bregenzer Festspiele etc. die Rentabilität der Tourismus-Wirtschaft. Die Förderung der „Hochkultur“ ist daher ökonomisch gerechtfertigt („rechnet sich“). Dass kulturelles Schaffen in seinen vielfältigen Formen einen Eigenwert darstellt und nicht primär auf Profit abzielt, wird in Zeiten der Ökonomisierung aller Lebensbereiche übersehen.

Erst nach einem grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird sich die Lage der Kulturschaffenden ebenso wie jene der „normalen“ Bürger nachhaltig verbessern können. Dafür bestehen zwei notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingungen. Erstens: Eine massive Vertiefung der Krise zwingt die Eliten in der EU, ihren Lernwiderstand zu überwinden und zu erkennen, dass die neoliberal-finanzkapitalistische Spielanordnung selbst sowie die ihr entsprechende (Spar-)Politik die Hauptursachen der europäischen Misere darstellen. Zweitens: Die Opfer der Krise verstärken ihren Widerstand, sei es durch Wahlen, durch Kampagnen der Zivilgesellschaft oder durch ein stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Kulturschaffenden – nach vielen Jahren „post-moderner“ Abstinenz.

 

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