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Wer entscheidet, was passiert ist?

Das Dramatisieren von Romanen, eine an deutschsprachigen Bühnen häufig gepflegte Praxis, ist etwas, was man sich zu einfach macht, was man besser überhaupt nicht oder – wenn schon – dann anders machen sollte. Andreas Jungwirth tat es trotzdem, mit Sabine Grubers Roman Stillbach. Ein Bericht.

Ein Anruf. Sabine Grubers Roman Stillbach oder die Sehnsucht soll für die Bühne bearbeitet werden.
Ich kenne den Roman nicht.
Lies ihn!
Warum macht die Autorin es nicht selbst?
Sie ist keine Dramatikerin.
Wer wird Regie machen?
Das steht noch in den Sternen.
Worum geht es?
Um Südtiroler Dienstmädchen in Rom. Um drei Frauen, die alle aus Stillbach kommen.
Gibt es dieses Stillbach wirklich?
Nein, das ist ein fiktiver Ort.
Wann ist Premiere?
In einem Dreivierteljahr.
Eigentlich wollte ich nie wieder einen Roman dramatisieren: Ich gerate zwischen Roman und Regie, erfülle die Wünsche anderer, verliere meine eigene Stimme, trete die innere Flucht an und tue schließlich, was ich schon als Kind gut konnte: Aushalten.
Bist du noch dran?
Nach dem letzten vergleichbaren Projekt schrieb ich einen Zettel Nie wieder! und habe ihn mit einem Magneten an den Kühlschrank geheftet. Jeden Morgen, wenn ich Milch für den ersten Kaffee heraushole, stimme ich zu.
Wie lange darf ich überlegen?
Eine Woche.

Seit Jahren wabert durch das deutschsprachige Feuilleton eine Diskussion, warum auf den deutschen Bühnen so viele dramatisierte Romane gezeigt werden? Sie wird mit Wut, Vorwürfen und Entrüstung geführt. Diagnose: Eine Krise der zeitgenössischen Dramatik. Ich finde das lächerlich. Das Theater nimmt seit jeher, was es vorfindet und übersetzt es in seine eigene Sprache, für die es kaum noch Gesetze und Regeln gibt. Gut so. So kommt der Roman auf die Bühne, der echte Flüchtling, oder das Britney-Spears-Video. Dabei entstehen mitunter fesselnde, berührende und unterhaltsame Theaterabende. Was soll also die Aufregung? Oftmals nehmen Wut und Entrüstung und Vorwürfe Einzug in die Kritiken. Es sich zu einfach gemacht zu haben. Es überhaupt gemacht zu haben. Wenn schon, dann hätte man es ganz anders machen müssen. Während ich meinen Zettel am Kühlschrank anstarre, weiß ich im Rücken Mappen mit Kritiken zu Arbeiten mit Arno Geigers Es geht uns gut für die Wiener Festwochen oder Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend fürs Wiener Schauspielhaus. Ich dreh mich nicht danach um, weiß auch so, dass sie mich verletzt haben.

Ines war Claras engste Freundin aus der Schulzeit. Als sie in Rom stirbt, lässt Clara Mann und Tochter in Wien zurück und macht sich über Stillbach, ihren Heimatort, auf die Reise nach Rom. Beim Auflösen der Wohnung entdeckt sie ein Romanmanuskript, in dem Ines von ihrer Ferienarbeit im Sommer 1978 als Zimmermädchen in einem römischen Hotel erzählt. Und zugleich vom Schicksal einer anderen Stillbacherin, Emma Manente, die damals die Geschäfte führte. Emma, die 1938 ihre Heimat verlassen hatte, Emma, die mit ihrer Größe und ihrem Akzent auffiel, als es schon längst nicht mehr chic war deutsch zu sein. Die Begegnung mit den verborgenen Seiten ihrer Freundin erschüttert Claras Lebensgewissheiten. Zudem lernt sie den Historiker Paul kennen, einen alten Freund und Geliebten Ines’.*

Ich folge beim Lesen der Struktur des Romans: Die ersten achtzig Seiten spielen 2010. Sie lese ich im Café Jelinek. Die nächsten zweihundert Seiten, Ines’ Romanmanuskript, im Bett. Die restlichen achtzig Seiten, die die offene Klammer vom Beginn schließen, im Einser-Wagen der Wiener Linien. Der letzte Absatz funktioniert wie ein Filmabspann: Nach dem Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler am 31. Mai 2010 war Erich Priebke als Bundespräsidentschaftskandidat der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands im Gespräch. Emma Manente starb am 7. Jänner 2011 im römischen Altersheim. Sie liegt neben ihrem Ehemann Remo Manente auf dem Campo Verano, Roms größtem Friedhof.* Heißt das …? Ist Emmas Geschichte ebenso wahr, wie es die Angaben zu dem historischen Priebke sind? Obwohl ich weiß, dass Stillbach ein erfundener Ort ist, stelle ich an den Roman von Sabine Gruber Fragen, die Clara, Paul und Emmas Sohn Francesco an Ines’ Manuskript stellen: Ist das alles tatsächlich so passiert?
Die Sonne kommt heraus, ich setze mich auf eine Parkbank, lese Glossar und Danksagungen. Wenn ich die Arbeit annehme, erwartet mich ein Prozess, der nur im Zusammenspiel mit anderen funktionieren kann. Ich muss einen Entwurf machen, der Basis ist, eine Vision entwickeln, an der sich jemand reibt, bis ein Feuer entfacht wird. Nehme ich mein Nie wieder!-Gebot nicht mehr ganz so ernst, weil ich in letzter Zeit so viel alleine war mit meiner Hörspielarbeit? Ja. Vermutlich. Und mit dem Stück über Langholzfeld, den Ort, wo ich aufgewachsen bin, komme ich gerade auch nicht voran. Halte ich nicht schon länger Ausschau nach einer Ablenkung?

Die halbe Nacht lese ich in Stillbach kreuz und quer. Sabine Gruber inszeniert ein nach innen und nach außen gerichtetes Spiel mit der Realität. Die Roman-im-Roman-Konstruktion ist das Offensichtlichste; sie verknüpft die historische Geschichte um das Attentat in der Via Rasella am 23. März 1944 und das darauf folgende Massaker in den Ardeatinischen Höhlen unter Anleitung Herbert Kapplers und der Beteiligung Erich Priebkes mit der Geschichte von Emma Manente; die Autorin selbst wird als mögliche Adressatin für Ines’ Manuskript genannt, um eine Publikation zu ermöglichen; neben den Angaben zu Emmas Sterbedatum platziert sie biographische Details zu Erich Priebke, dem historischen Nazi usw.
Alle Figuren in Stillbach sind mit Erinnerung beschäftigt. Und die Sehnsucht hängt an der Erinnerung, auch dann, wenn sie in die Zukunft gerichtet ist.
Ich verfolge, wie Sabine Gruber das Erinnern an die Figuren hängt: 1978 ist Emmas Dasein von der Erinnerung an den toten Johann geprägt, den Stillbacher Verlobten, der als Mitglied eines Bozner Polizeiregiments beim Attentat in der Via Rasella ums Leben gekommen ist. Das war der entscheidende Drehpunkt in ihrem Leben. Es folgt eine Schwangerschaft, die Hochzeit mit Remo, dem Vater ihres Kindes und Sohn der Hotelbesitzer. Die Heirat mit einem Italiener machte Emma in Rom zur porca tedesca und in ihrem Heimatort zur Verräterin … alles nachzulesen in Ines’ Manuskript.
Emmas Sohn Francesco erinnert sich da ganz anders. Er hält Ines’ biographisch anmutende Schrift für einen möglichen Racheakt, auf keinen Fall für authentisch. Er hat dafür auch Belege. Vor allem aber hat er ein Bild von seiner Mammina, in das ein deutscher Verlobter nicht passt.
Clara bringt ihre Trauer um die Kindheitsfreundin so auf den Punkt: Es erinnert sich niemand mehr mit.* Sie hält Ines’ Manuskript für einen autobiografischen Roman, der erstaunliche Lücken aufweist.
Paul ist Historiker mit Spezialgebiet Faschismus, er erinnert sich an Fakten, hat aber vergessen, mit welchen Frauen er geschlafen hat. Ob er mit Ines ein Verhältnis hatte, wie in ihrem Manuskript beschrieben, weiß Paul einfach nicht mehr.
Ich wünsche mir: Die Gewissheit darüber, was tatsächlich passiert ist und was nicht, soll dem Zuschauer immer wieder abhandenkommen. Bringe ich ihn auf dieses unsichere Terrain, indem ich die vorgegebene Romanstruktur auflöse? Aus A-B-A wird A-B-B-A-A-B-A usw.?
Ist Emma die Protagonistin des Stückes, weil ihr Leben in Stillbach das drastischste Beispiel dafür ist, wie die politische Geschichte in die persönlichen Verhältnisse eines Menschen eingreift?
Könnte man Clara und Ines nicht mit derselben Schauspielerin besetzen?
Welcher Effekt entsteht im Zuschauer, wenn ich die Figuren über sich selbst sprechen lasse? usw. usf.
Am nächsten Morgen will ich herausfinden, was funktioniert und was nicht. Ich bin bereit zu gewinnen oder zu verlieren. Als ich Milch für meinen ersten Kaffee aus dem Kühlschrank hole, bin ich auch bereit, die unguten Erinnerungen an meine letzte Arbeit, die ich mit Nie wieder! quittiert habe, beiseite zu schieben. Ich nehme den Zettel ab und lasse ihn in einer Schublade verschwinden. Dann wähle ich die Nummer der Vereinigten Bühnen Bozen und sage: Ja, ich mache mich an die Arbeit.

Das Stück soll mit Francescos Besuch im Altenheim beginnen. Die Gedanken der dementen Emma umkreisen Ines’ damalige Ankunft im Hotel. Francesco will dafür sorgen, dass seine Mammina nicht aus der Gegenwart ausbüchst.
Nächste Szene: Clara ist mit Paul verabredet, dessen Telefonnummer sie in Ines’ Notizbuch gefunden hat. Sie wollen herausfinden, was sie in dieser Situation für einander sein können.
Nächste Szene: Als Clara sich auf den Weg in Ines’ Wohnung macht, kreieren Emmas Gedanken Ines’ Auftritt im Hotel (1978) und gleichzeitig findet die erste Verwandlung der Schauspielerin von Clara in Ines statt.
Nächste Szene: Ines gerät in eine neue Welt, wo sie schnell in Konflikt mit ihrer Kollegin Antonella kommt, mit ihrer neuen Chefin Emma und mit Steg, einem österreichischen Gast, der auf alles geil ist, was einen Rockzipfel hat.
Nächste Szene: Ein Gewitter zieht über Rom auf. Antonella, die Städterin, fürchtet sich. Ines, die Stillbacherin, liebt Gewitter. Aber spricht hier nicht auch Clara? Im selben Augenblick bricht Emmas Sehnsucht auf. Jetzt sind die Frauen zum ersten Mal im Wissen um ein und denselben Ort vereinigt.
Nächste Szene: Das alles aber ist Handlung aus Ines’ Manuskript, das Clara in der Wohnung der toten Freundin liest. Sie hat einen Roman geschrieben und du kommst auch vor*, sagt Clara zu Paul. Aus dem Roman im Roman entwickelt sich eine erzählte Situation: Aus dem Mitfünfziger Paul wird der junge Paul, der Ines im Hotel begegnet.
Ein Versuch: Claras und Pauls Liebesgeschichte und jene von Ines und Paul entwickeln sich parallel, das eine Paar setzt dort fort, wo das andere bereits angekommen ist.
Eine Entdeckung: Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist in Stillbach immer mit der Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben verknüpft. Clara zieht einen Ausbruch aus ihrer fad gewordenen Ehe in Betracht.
Ines sieht sich mit Paul in einer Dachwohnung in Trastevere.
Als Emma sich dem langjährigen Gast Hermann Steg endlich offenbart, träumt sie von einer Rückkehr nach Stillbach, an seiner Seite.
Wohin das Ganze führen soll: Am Ende des Stückes ziehen sich die Figuren aus der direkten in die indirekte Rede zurück. Sie beobachten sich selbst. Die Zeit, in der die Figuren agieren können, ist vorbei, nur noch die Erinnerung an ihre eigene Geschichte können sie gestalten.
Und das Publikum: Im besten Fall soll ein Unbehagen entstehen, es soll die Gewissheit verlieren. Nicht einmal, ob es Johann wirklich gegeben hat, lässt sich mit Sicherheit sagen.

Die erste Fassung des Theatermanuskripts ist fertig. Die Dramaturgin und ich diskutieren die Personenentwicklung, die verwendeten Mittel, Motive, überlegen Veränderungen, Zuspitzungen, wir montieren Szenen neu und landen schließlich bei der Frage: Wie viel historischer Background muss vermittelt werden? Wie viel weiß das Bozner Publikum über die Südtiroler Geschichte? Muss man erklären, was das Attentat in der Via Rasella war und wie es zum Massaker in den Ardeatinischen Höhlen kam? Wissen alle, wer Erich Priebke war? Was hat der Südtiroler Geschichtsunterricht geleistet? Wie bauen wir die Informationen dramaturgisch sinnvoll ein?
Wir entscheiden uns für einen Prolog: Die Ereignisse vom 23. und 24. März 1944 verschneiden wir mit Emmas individuellem Schicksal. Die politischen Ereignisse und die Folgen für Emma. Nachdem das montiert ist, ist Emma endgültig als Protagonistin etabliert. Vieles lässt sich nun weiter im Bezug auf sie entwickeln: Ines’ Sehnsucht, Stillbach zu verlassen, steht in Spannung zu Emmas Sehnsucht, dorthin zurückzukehren. Claras Frage, ob sie ihre eigene Geschichte verlassen soll, um mit Paul weiterzugehen, korrespondiert mit ihrem Bedürfnis, Emmas Anspruch auf ihre eigene Geschichte durchzusetzen, usw.

Eine zweite, eine dritte, eine vierte Fassung entsteht. Immer klarer wird der „Ton“, die „Temperatur“, wir sind uns einig: Ein leerer Raum, ein paar Stühle, so kann sich leicht eine Figur aus der anderen entwickeln, eine Szene aus der anderen, eine Zeitebene aus der anderen, ein Monolog aus einem Dialog usw. Wir machen uns Gedanken über die Besetzung. Wer wird Regie führen? Steht immer noch in den Sternen. Ich mache eine letzte Fassung. Ich habe Angst, es fehlt etwas. Etwas habe ich nicht geschafft. Aber was? Ich komme nicht drauf. Ich kann es nicht benennen. Deadline.

Die Regisseurin lerne ich erst bei der Konzeptionsprobe kennen. Die Schauspieler sind irritiert, weil sie ein überarbeitetes Manuskript mitbringt. Die Bühne ist nicht leer, sondern eine Hotellobby, zu ebener Erde und im ersten Stock, abgerockt. Die Regisseurin hat zwei neue (stumme) Figuren erfunden: Die junge Emma und Johann. Sie hat eine Umstellung im Manuskript vorgenommen, ein paar Sätze gestrichen, andere aus dem Roman eingebaut. Ergänzt sie auf diese Weise etwas von dem ich denke, dass es fehlt?

Ich als Autor plane ein Haus, das andere errichten müssen. Acht Wochen denken die Regisseurin, die Dramaturgin, der Bühnenbildner, die Kostümbildner, Schauspielerinnen und Schauspieler über den Plan nach, richten ihn auf, aus der zweiten in die dritte Dimension, die Skizze wird zur Handlung, die Textmasse zur Szene. Ich kann als Autor diese Entwicklung begleiten, oder mich zurückziehen. Ich fahre nach Hause.

Das Projekt Langholzfeld wartet auf mich. Aus eigenen Erinnerungen und aufgezeichneten Gesprächen mit Bewohnern entwickle ich die Geschichten. Nach Wochen sichte ich wieder das Material. Ich denke an die Proben von Stillbach, an den Roman, an den Roman im Roman, die Verknüpfung von historischem und erfundenem Material. Wer darf mit Recht eine Geschichte behaupten, entlang einer wirklichen Biographie? Ist Stillbach auch ein Roman über das Schreiben von Romanen? Ich lege mein Manuskript beiseite, ich lese wieder in Stillbach. Wer entscheidet, wie über das gesprochen wird, was passiert ist, und somit darüber entscheidet, was passiert ist? Paul, der Historiker? Ines, die Autorin? Francesco, der Sohn? Clara, die Rezipientin? Jeder für sich? Niemand für alle? Wieder quält mich die Frage nach dem, was fehlt. Stelle ich die falsche Frage? Fehlt vielleicht gar nichts? Aus Bozen höre ich, die Proben laufen gut. Aber was heißt das schon?

Bei der Premiere fühle ich mich wie beim Lesen eines gut geschriebenen Kriminalromans, ich habe bis zur Auflösung keine Ahnung, wer der Mörder ist, und als ich es endlich weiß, bin ich sicher, ich wäre nie draufgekommen.
In meiner Theaterfassung gibt es gegen Schluss eine Konfrontation zwischen Clara und Francesco. Fran-cesco verlangt, dass sie Ines’ Manuskript wegwirft, das seien alles nur Lügen. Einen Johann habe es nie gegeben. Es ist eine Szene im Altenheim, in Anwesenheit von Emma. Mein Vorschlag: Emma will sich gegen die Intervention ihres Sohnes wehren, aber sie hat keine Worte dafür, ihr Widerstand drückt sich bloß in großer körperlicher Unruhe aus.
Die Regisseurin hat eine andere Lösung gefunden. Sie öffnet die Szene. Alle Schauspieler und Schauspielerinnen sind auf der Bühne. Nur Francesco fehlt. Er stürzt plötzlich durch den Zuschauerraum, brüllt, dass das alles nicht wahr sei! Er wischt alles weg. Nicht nur Ines’ Manuskript, alles was wir auf der Bühne gesehen haben. Er reißt den Schauspielern ihre Rollen vom Leib. Sie sind verblüfft, wehren sich, sind auch erschöpft, als hätten sie sich zweieinhalb Stunden lang umsonst abgestrampelt.
Und plötzlich ist es da, was mir die ganze Zeit gefehlt hat: Eine große Leere? Ein Moment ohne Sicherheit? Die Gewissheit, dass wir keine Gewissheit haben können? Und doch ist es nicht hoffnungslos. Was? Es.
Erst konnte ich nicht sagen, was fehlt, jetzt kann ich nicht sagen, was da ist. Aber plötzlich ist da ein besonderer Moment, einer, der aus der Summe dessen komponiert ist, was zur Verfügung stand: dem Roman, der Dramaturgie, den Schauspielern, dem Bühnenbild, den Kostümen, dem Sound, der Anwesenheit eines Publikums. Ein Moment, den ich nicht beschreiben kann, nur begreifen. Allein dieser Umstand schenkt mir ein wenig Trost. Und ich brauche Trost, habe ich diesen Moment doch nicht im Vorfeld geplant.

Am nächsten Tag leite ich einen Dramaturgie-Workshop mit Meraner Schülerinnen und Schülern. Gleich zu Beginn stelle ich ihnen eine Aufgabe: Erinnert Euch an gestern. Skizziert drei Ereignisse, von denen ihr überzeugt seid, sie könnten andere interessieren.
Die Jugendlichen erzählen von ihren Fahrstunden, vom Einkaufen, vom Computerspielen, von Begegnungen, von Beobachtungen. Ich höre ihnen zu, erkläre ihnen etwas über Dramaturgie, die sie beherrschen, ohne etwas darüber zu wissen. Am Schluss frage ich, ob jemand etwas erfunden habe. Nein, sagen sie, wir haben nur erzählt, was wirklich passiert ist.
Sie werden sich Stillbach oder die Sehnsucht auf der Bühne ansehen. Aber da bin ich längst zurück in Wien und erfahre nicht, ob die Schüler diesen Moment erlebt haben, ob sie verunsichert wurden, die Gewissheit für einen Augenblick verloren haben. Als nach und nach die Kritiken erscheinen, sehe ich aber ein, dass die Kritikerinnen und Kritiker ihn verpasst haben müssen. Zumindest schreibt niemand darüber. Stattdessen formulieren sie die üblichen Vorwürfe: Es sich zu einfach gemacht zu haben. Es überhaupt gemacht zu haben. Wenn schon, dann hätte man es ganz anders machen müssen.
Natürlich bin ich verletzt. Also lege ich die Kritiken in einer Mappe ab und stecke sie zu den anderen. Aus der Schublade hole ich den Zettel Nie wieder! und hefte ihn an den Kühlschrank. Und es ist alles wieder so, wie vor einem Dreivierteljahr. Zumindest rein äußerlich.

*    Zitate aus: Sabine Gruber Stillbach oder die Sehnsucht,
    C. H. Beck, München 2011

 

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