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Blumentöpfe sind nicht rückgängig zu machen

Der Schriftsteller Rudolf Borchardt landete in den Kriegswirren des Herbstes 1944 mit seiner Familie in einem Hotel in Trins, wo er nach wenigen Wochen starb und dort auch begraben liegt. Unfreiwillig verpflanzt in eine Landschaft, die ihm nicht behagte („unerträglicher Anblick von Bergen“), pries er den Garten als Menschheitsleistung, der ohne Wanderschaft, ohne kulturellen Austausch nicht denkbar wäre: „Es muß zugewandert werden wie von je.“ Von Iris Kathan

August 1944. Villa Poggio al Debbio, San Michele di Moriano nahe Lucca. Hier hat die Familie Borchardt, Rudolf und Marie Luise, die Söhne Kaspar (23), Johann Gottfried (17), Christoph Cornelius (16), bei der befreundeten Familie Castoldi seit Mai 1944 mit ihrem gesamten Hausrat Unterschlupf gefunden. Die Stimmung ist angespannt. Borchardt verachtet die Hausherrin Estella Castoldi, die lange Zeit mit dem Nazi-Regime sympathisiert. Fühlt sich unter Fremden, unverbunden, mühsam aufrecht erhaltene Höflichkeit. Man ist aber aufeinander angewiesen, versucht sich miteinander zu arrangieren. Rom ist seit Anfang Juni von Alliierten besetzt. Die Landung in der Normandie erfolgt. Alles harrt der Befreiung durch die Alliierten. Gleichzeitig: sich zurückziehende deutsche Truppen, Spuren der Verwüstung hinterlassend, Vernichtungswille, Partisanenerschießungen, Exekutionen. Am 12. August verüben Truppen der Waffen-SS das Massaker von Sant’Anna di Stazzema. 560 Tote, darunter viele Kinder. Etwa eine Woche darauf: In die Villa der Castoldis ist der Stabsarzt Dr. Schneider eingezogen, SS-Offizier, doch das weiß noch niemand. Man teilt die Mahlzeiten, redet miteinander. Borchardt übersetzt. Eines Abends kommt es zu unvorsichtigen Äußerungen gegen Wehrmacht und SS. Erstmals wird die Familie durch den Feld-Pastor gewarnt, Schneider sei Angehöriger des Sicherheitsdiensts. Schon am darauffolgenden Tag wird Borchardt vom Artillerie-Hauptmann dazu aufgefordert, sich und die Familie für den nächsten Morgen zur Abfahrt bereitzuhalten: Rückführungstransport „heim ins Reich“. Zu diesem Zeitpunkt stehen die alliierten Truppen kurz davor, Lucca einzunehmen, sind nur mehr wenige Kilometer entfernt, man rechnet jeden Tag mit ihrer Ankunft. Verzweifelter Fluchtversuch. Nur für kurze Zeit gelingt es der Familie, die auf diese Situation nicht vorbereitet ist, im Umland unterzutauchen. Überall deutsche Soldaten, man fahndet nach den Borchardts, die bald aufgegriffen und festgenommen werden.
Rudolf Borchardt ist eine schillernde, schwer fassbare Figur. Viele Bilder, Etiketten auch. Ostpreußischer Jude, der vor allem deutsch sein wollte, ein Einzelgänger, Solitär, ein Dandy, exaltiert und inszenierungswütig, ein Hochstapler, aber auch poeta doctus, Übersetzer und Vermittler, konservativ und antimodernistisch eingestellt, mit Dünkel, elitär. Im Zug zwischen Moskau und Königsberg zur Welt gebracht worden, dauernd wechselnde Wohnorte, ein Heimatloser. Ab 1903 lebt er mit Unterbrechungen vor allem in Italien. Aus der frei gewählten Emigration wird mit der Machtergreifung Hitlers erzwungenes Exil, hier lebt er, wie er mehrmals schreibt, als „politisch Selbstverbannter“, in einer Art Paralleluniversum, weitgehend unberührt von Zugriffen des NS-Staates. Weil er im Reichsgebiet nicht veröffentlichen kann, sind die Borchardts auf zahlende Sommergäste angewiesen. Der Autor zeigt sich in der Rolle des zurückgezogen lebenden Gelehrten, betreibt vor allem philologische und kulturhistorische Studien, verschwindet, wie er selbst schreibt, „in der Hülle eines weltfremden Gelehrten irgendwo in der Toskana zwischen Bach und Hügel“ und das ist keine „Spielerei“, ist „grimmiger Ernst“. Gänzlich unpolitisch ist Borchardt nicht. 1935 entstehen als Reaktion auf die Nürnberger Rassengesetze seine erst postum erschienenen Jamben, darin wirft er dem Regime entgegen: „Dies ist schlechterdings / Dreck. Trockener, angemachter, aufgeweichter Dreck, / Zerfallener Dreck, gepreßter Dreck, / Gedruckter, Scheißdreck, dreckige / Visage, frech wie Straßendreck, / Dreckseelen, Selbstverdreckung, Schund und darum Dreck“.
Am 2. September setzt sich die Marschkolonne, die die Familie Borchardt transportiert, in Bewegung Richtung Norden. Bewacht wird die Familie von dem aus Magdeburg stammenden Feldwebel Paul Müller, „mit einem stets von seiner Schulter hängenden, durchgeladenen MG“, wie sich Cornelius Borchardt erinnert. „Nagende Ungewissheit“, niemand weiß den eigentlichen Grund für diesen Rückführungstransport, der vordergründige, nämlich die Musterung und Rekrutierung der Söhne Borchardts, scheint unglaubwürdig, zumindest zweifelhaft. Große Angst, man befürchtet das Allerschlimmste. Cornelius Borchardt: „Was genau liegt gegen uns vor? Warum dieser zwangsweise Rücktransport unter militärischer Bewachung? Traut man uns nicht mehr, weil wir geflohen sind? Wird unser Transport im KZ enden?“ Rudolf Borchardt, offiziell Auslandsdeutscher mit (1942 abgelaufenem) Reisepass ohne Vermerk zu seinen jüdischen Wurzeln, die er zeitlebens zu bemänteln sucht, ist von der Verfolgung und systematischen Ermordung der Juden familiengeschichtlich unmittelbar betroffen: Borchardts Mutter nimmt sich im März 1943 89-jährig das Leben, um einer bevorstehenden Deportation nach Theresienstadt zu entgehen. In Theresienstadt stirbt im Januar 1944 Borchardts erste Frau, die Malerin Karoline Borchardt geb. Ehrmann, hierher gerät auch Borchardts Schwester Helene noch 1945. Andere Geschwister entkommen nur knapp, leben im Exil. Borchardts Eltern sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Christentum konvertiert, nach den Kriterien nationalsozialistischer Rassengesetzgebung ist Borchardt also „Volljude“. In Mantua, wo längerer Aufenthalt gemacht wird, versucht er Gift von einem Arzt zu bekommen. Bei dieser Gelegenheit erfährt seine Frau, dass der 67-
Jährige schwer krank, „ein Todeskanditat (sic!) ist“. Von Verona schließlich werden die Borchardts, bewacht von Feldwebel Müller, mit dem Zug nach Innsbruck gebracht, wo sie am 13. September in den frühen Morgenstunden ankommen. Hier geschieht dann das völlig Unerwartete, nämlich nichts. Bei der Gauleitung am Landhausplatz, Gauleiter Franz Hofer ist noch nicht im Amt, werden Marie Luise Borchardt ein Aufenthaltsschein, Lebensmittel- und Raucherkarten ausgehändigt. Die Familie ist frei.
Die Geschichte von Borchardts Gefangennahme in quasi letzter Sekunde – „im letzten Moment musste es meine Haut streifen“, schreibt Borchardt –, der überraschenden Befreiung und schließlich seinem absurd anmutenden Tod in einem kleinen Tiroler Gebirgskaff ist voller Unbekannten und Leerstellen. Mit ihren unerwarteten Wendungen und in ihrer Tragik ist es eine Geschichte, die haften bleibt, erzählt werden will. Es verwundert nicht, dass, nach Rudolf Borchardt gefragt, nur wenige etwas zu sagen wissen, es aber doch bei vielen zumindest ein vages Bild seines tragischen Endes in Trins gibt. In Lebens-Erinnerungen, Nachrufen und Artikeln werden die letzten Lebensmonate Borchardts immer wieder neu erinnert, erzählt und je nach Perspektive und zeitlichem Kontext anders gedeutet. Früh kommt es zur Bildung von Legenden. Wohl nicht zufällig häufig erzählt wird jene Version der Geschichte, in der Feldwebel Müller den mutmaßlichen Deportationsbefehl, der das Schicksal der Familie besiegeln soll, in Innsbruck vor den Augen Marie Luise Borchardts zerreißt und, wie es in einem Nachruf von 1946 heißt, sagt: „Nun ist also alles in bester Ordnung; verstecken Sie den Mann.“ Während der doch beinahe zwei Wochen dauernden Reise durch Oberitalien nach Innsbruck sind sich Bewacher und Bewachte näher, vor allem ins Gespräch gekommen. Die Fahrer des Konvois entpuppen sich zunehmend als „Anti-Nazis“, auch Müller, „der Kettenhund“, wird mit der Zeit offener und gesprächiger. Cornelius Borchardt: „Mein Vater hat ihn bei den Mahlzeiten etwas zu uns gezogen, ihn mit Fragen nach seiner Familie und freundlichem Eingehen auf dessen Fragen gewogener gemacht, wohl auch aus seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg erzählt.“ Zwei Helden kennt diese Geschichte, die von Menschlichkeit erzählt inmitten des Grauens. Den einfachen Feldwebel, „unser Feldwebel“, wie ihn die Borchardts 1984 familiär nennen, dessen Sehnen, wie es heißt, nur darum ging, „wie komm ich so schnell wie möglich nach Magdeburg“, heim also zu den Seinen. Und natürlich Borchardt selbst, Zeitzeugen nach nicht nur ein großer Redenschreiber, sondern auch begnadeter Redner, der hier mit Sprache bloß das verschlossene Gegenüber bezwingt, „die Ketten“, wie es wo heißt, in Anlehnung an ein Gedicht von Bertran de Born, „mit einem Hauche seines Geistes entzweibricht“.
Borchardt selbst ist der Erste, der seine Geschichte in die Welt zu setzen gewillt ist. Kurz nach Ankunft in Innsbruck, Ende September 1944, macht sich der Autor an die Niederschrift von Anabasis. In Bezug auf Xenophons Anabasis – ein Text, den Borchardt Überlieferungen zufolge stets in seiner Jackentasche herumgetragen haben soll – will er die Geschichte seiner „zwangsweisen Verschleppung und wundersamen Befreiung“ literarisch verdichten. Nicht zuletzt ist Anabasis Höhe- und Schlusspunkt einer langen Reihe von autobiographischen Selbstsetzungen Borchardts. Der Fragment gebliebene Text beginnt mit Borchardts Auszug aus der geliebten Villa Saltocchio Ende 1942 und endet mit seiner Verhaftung im August 1944. Borchardt inszeniert dabei den Einzug in die Villa der Castoldis als fatalen Wendepunkt in der eigenen Lebensgeschichte. Der plastischen und scharfen Portraitierung der geltungshungrigen Hausherrin, der hier ein Verrat zugetraut wird, aber auch des raubtier- und wieselartigen SS-Mannes kommen viel Raum zu. Eindrücklich ist die Schilderung der „kopflosen Verwilderung“ einer „hungernden und moralisch haltlosen Armee“, deren Handlungsweisen der Autor entsetzt registriert: „Mit dem letzten rein militärischen Platzkommandanten von Lucca der sein Amt an die SS abgab, begann die absolute Plünderung, die systematische Verwüstung der Kulturlandschaft die seit dem Mittelalter keinen Feind auf ihren Boden gesehen hatte, die grässliche Menschenjagd, die auch unsere nächsten Freunde auf ihren altberühmten Villen nicht ausnahm […]“ Borchardts Entsetzen muss umso größer sein, als es „die eigenen Landsleute“ sind, die die von ihm so hoch gehaltene Kulturlandschaft sinnlos verwüsten, über das ihm so „heilige Land wälzen“, und nur mit Grauen kann er die Vertreter „dieser so schändlichen wie unsinnigen Mord- und Selbstmordpolitik“ sich seiner Sprache bedienen hören. Was er beobachtet, muss ihm als schreckliche Karikatur dessen scheinen, was er als deutsch empfand. Borchardt, durch und durch Patriot, sich als Bürge deutscher Tradition und Kultur verstehend, sieht sein gesamtes Lebenswerk, sich selbst verlöschen. Wütend beschwört Borchardt auf den letzten Seiten des Textes die Freiheit als die ihm wichtigste und am Ende einzig bleibende Lebenskonstante: „Nie, Niemals, Nie! Solange noch ein einziger Ausweg war, ein einziges Mittel unversucht um meine Freiheit durchzusetzen, würde ich nicht mich beugen lassen. […] ich lebte in Italien fast nur, weil diese selbstbestimmte, Niemandem Rechenschaft schuldige, keine Behörde, Registrierung, Polizierung, Bevormundung kennende Landabgeschlossenheit des geschützten Fremden der einzige in Europa erhalten gebliebene Rest der alten Freiheit des Individuums war.“
In Innsbruck finden die Borchardts Unterkunft im Speckbacher Hof. Das Hotel entspricht nicht den Erwartungen der Familie. Die Betten starren vor Dreck, es wird nicht geheizt, es gibt keine Lampe zum Lesen. Durch die Vermittlung eines Bremer Freundes, den Marie Luise Borchardt zufällig auf der Straße trifft, übersiedelt die Familie ins Gschnitztal, flüchtet geradezu „in die Unwegsamkeit des Gebirges“, wie Borchardt seinem Freund Rudolf A. Schröder schreibt, „da jenes für unsere Bedürfnisse keineswegs geeignete Hotel und auch das bäurische Benehmen der Leute nicht länger zu ertragen war.“ Am 24. Oktober erreichen die Borchardts Trins, ein damals etwa 500 Seelen zählendes Haufendorf, verwinkelt und dicht verbaut, auch heute noch. Früher Wintereinbruch, es ist sehr kalt. Borchardt, der Garten- und Pflanzenliebhaber, sieht das Laub der Bäume, die herbstlichen Wiesen nur mehr für wenige Tage. Bald versinkt die Welt im Schnee, man ist abgeschnitten von der Welt, „eingeschlossen“, wie Borchardt in seinem Brief schreibt, nichts kommt mehr durch, keine Autos, keine Reisenden, Versorgungs-
güter, Boten. Die alpine Landschaft, wie übrigens auch das Meer, ist nicht Borchardts Landschaft. Er mag die Berge nicht. Wo man in Trins auch hinschaut, von allen Seiten drängen sich hier steile Wände auf, rücken an einen heran, „bietet sich“, so Borchardt, „ein unerträglicher Anblick von Bergen, Wäldern, Eis und sehr hoher Schneemassen auf dem Gipfel“.
Die Familie bezieht drei Zimmer im am östlichen Ortseingang gelegenen, erst 1927 erbauten Alpenhotel Trinser Hof. Es ist ein dem Schriftsteller Rudolf Borchardt unwürdiger Ort, an dem er seine letzten Lebenswochen verbringt, möchte man sagen, ein unwürdiger Ort zum Sterben auch. Auf der einen Seite Rudolf Borchardt, der Liebhaber und intime Kenner der italienischen Villa, dem diese Bauform mehr als bloße Architektur ist, vielmehr stein- und formgewordene Geschichte, verwachsen mit der Landschaft, in der sie steht, verbunden mit Generationen von Bewohnern, für den Autor „die einzige ideell und praktisch denkbare Lebensform“, wie sein Sohn Cornelius schreibt. Auf der anderen Seite das Hotel, gebaut für die Bedürfnisse von Touristen, jenem Typus des modernen Reisenden, für den der Autor nur Verachtung übrig hat, geschichtslos, lokale Bindungen negierend, marktschreierisch. Und dennoch, vor dem Hintergrund der eben gemachten Erfahrungen und auch angesichts der Bedürfnisse und Gewohnheiten der Familie erweist sich dieses Hotel als beglückend, ist, wie Borchardt euphorisch schreibt, „in jeder Hinsicht vollkommen, und im Verhältnis zu den Engpässen der Zeit auch mit jeder Art von Nahrungsmitteln versehen. So kommt es, dass wir in der Tat begonnen haben, das Hungern mit einem gewissen Überfluss zu vertauschen“. Die findige Hoteliersfamilie Covi versteht es, in diesen letzten Kriegsmonaten für ihre Gäste einen gewissen Komfort sicherzustellen. Es sind durchwegs zahlungskräftige Gäste, die hier Unterkunft finden. Hohes Militär vor allem, auch ein Angehöriger der SS findet sich im Gästebuch. Prominenz. 1941 heiratet hier der Volksgruppenführer Südtirols, Peter Hofer. Attila Hörbiger wohnt hier 1942 während der Dreharbeiten am Propagandafilm Wetterleuchten um Barbara. Karl Renner schreibt 1947 ins Gästebuch. Rudolf Borchardts Namenszug scheint nicht auf.
Es muss eine gespenstische Gesellschaft sein, die sich hier im Winter 1944/45 zusammenfindet. Eine indifferente Gesellschaft, einzig verbunden durch den Wunsch, das Ende des Krieges möglichst unerkannt abzuwarten. Vermutlich ist man einfach froh, über den Anderen nicht allzu viel zu wissen. Froh geborgen zu sein in diesem Seitental, in das kaum jemand kommt, in dem es keine Fliegerangriffe gibt, während die nahe gelegene Brennerstrecke täglich bombardiert wird.
Rudolf Borchardt, zeitlebens auf Wanderschaft, am Ende des Lebens unfreiwillig verpflanzt in eine Landschaft, in eine Klimazone, die ihm wohl nicht behagt, „im engen fremden Raum“, wie es in seinem letzten Gedicht heißt. Sein 1922 entworfenes, 1938 ausgearbeitetes und erst postum erschienenes und erstaunliches Buch Der leidenschaftliche Gärtner kann in seinem Subtext als der Entwurf einer Theorie gelesen werden, die sich für einen transnationalen Kulturbegriff ausspricht. Borchardt versteht den Garten als kulturelle Leistung, als Spiegel des Humanen, er ist „wie die Bühne und das Museum, wie die Bibliothek und die Kuppel des Sternenwächters, wie Orchester und Tempel und Thronsaal, eine geheiligte Umgrenzung unserer höchsten Würde“ und er ist ohne Wanderschaft, ohne „importierende Kultur“ nicht denkbar. „Es muß zugewandert werden wie von je.“ Borchardt, dem jeder Rassenbegriff und Biologismus fremd ist, richtet sich hier gegen die nationalsozialistischen Vorstellungen von Reinheit, setzt ihnen den Begriff der Mischung gegenüber. Menschlich ist es, das scheinbar Fremde, das scheinbar Unpassende allen Umständen zum Trotz heimisch machen zu wollen: „Es gibt unzweifelhaft solche Dinge wie Blumentöpfe, und sie sind nicht rückgängig zu machen; sogar Kuhställe gibt es, und der bayrische und tiroler Bauer, auf dessen Begonien, Fuchsien und Nelken der vorüberfahrende elegante Fremde mit sehr begreiflichem Neide blickt, hat sich für die Erhaltung seiner Lieblinge in bitteren Wintern vortrefflich zu helfen gewußt. Die Liebe ist ein entscheidenderes Kriterium der Zweckmäßigkeit als die Winterhärte. Der Mensch der etwas liebt, ist ein Abenteurer und ein hartnäckiger Werber, Erfinder und Erzwinger.“
Erinnerungen zeichnen Rudolf Borchardt in diesen Wochen in Trins heiter, sogar glücklich. Er sitzt eingeklemmt zwischen Bett und Schrank an einem kleinen Tisch, schreibt und raucht viel, den ganzen Tag. Es ist eng im Zimmer, in dem sich jetzt das ganze Leben abspielt. Die Kinder wichsen auf dem Nachttisch der Eltern ihre Schneeschuhe. Borchardt und seine Frau diskutieren Texte. Er unterrichtet die Söhne, hält Vorträge über Thukydides Peloponnesischen Krieg. Bücher werden aus der Leihbibliothek in Steinach besorgt. Alles, woran Borchardt gearbeitet hat, hat er in Italien zurücklassen müssen. Wohl sorgt er sich, beunruhigt es ihn, was mit dem unveröffentlichten Material passiert ist. Vielleicht befreit ihn die Reduktion auf das Allernotwendigste auch? Marie Luise erinnert ihn „heiter und so voller Arbeitspläne und dichterische Gedanken wie ich ihn in den letzten Jahren selten erlebt habe“. In Trins arbeitet er weiter an Anabasis, macht sich noch einmal – auch dieses nahezu fertige Manuskript hatte er zurücklassen müssen – an die Niederschrift seines Homerbuches Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer. Am 24. Dezember verfasst er sein letztes Gedicht, das, die jüngsten Erfahrungen integrierend, hoffnungsfroh anmutet. Der enge familiäre Kreis, der angesprochen wie beschworen wird, ein Weihnachtsgedicht ist es, als schützende Hülle: „Ich der Euch singe jetzt / Wie ich Euch einst gelesen, / Es wird noch wie’s gewesen / Der Kern ist nicht verletzt / Denn Weihnacht bringts vom Herrn, / Dass Nacht nur Schale und der Tag ihr Kern.“ Und in der letzten Strophe: „Dass wir uns Alles sind / Wie dort auf jenem Wagen / Drauf wir geworfen lagen / Durch Mitternacht und Wind; / Das bringt uns zu dem Kind / Bei dem ist kein Verzagen, / Denn seine Weihnacht brennt / Von unserm Tag am ganzen Firmament“.
Ob Borchardt weiß, dass der Blaser, zu dessen Füßen Trins liegt, für seine vielfältige Alpenflora bekannt ist? Und der Botaniker Anton Joseph Kerner, Ritter von Marilaun, hier auf über 2000 m Höhe 1875 den ersten Hochalpengarten der Welt angelegt hat? Borchardt hätte solche Höhen auch nicht mehr erreicht. Am späten Nachmittag des 10. Januar bricht er beim Versuch, etwas Tabak vom Sims eines Kastens zu holen, tot zusammen, fällt in die Arme seines jüngsten Sohnes Cornelius. In seinem dünnen Sommeranzug wird er in der Totenkapelle aufgebahrt und von einem protestantischen Pfarrer beerdigt. Außerhalb des Friedhofs, an der Rückseite der Kirche, eingeklemmt zwischen Kirchturmsmauer und Aufbahrungshalle,
einem schmalen Durchgang, wo man gewöhnlich die verblühten Blumen der Gräber hinschmeißt.
Erinnerungsspuren in Trins zu Borchardt heute? Zumindest den älteren Leuten im Dorf sei Borchardt wohl noch ein Begriff. Kinder und Kindeskinder Borchardts sind dem Ort verbunden geblieben. Auf Wunsch der Familie wurde 1995 das ortsübliche Holzkreuz durch einen marmornen Grabstein ersetzt. Non omnis moriar
steht darauf. Das Grab ist gepflegt, wie alle Gräber hier. An der Front des Trinser Hofes erinnert eine Gedenktafel an die letzte Zufluchtsstätte des Autors. Wo genau er gewohnt habe, welches das Sterbezimmer sei, weiß niemand mehr genau. Auch dazu verschiedene Antworten. Der Trinser Hof, der sich heute durch seine Geschichte und als Erinnerungsort vermarktet, sich dabei selbst zitiert, museale Atmosphäre verbreitet, bekennt sich in seinem Internetauftritt zu folgender Philosophie: „Wir sind für Slow Food / Wir sind für die Erhaltung historischer Gebäude / Wir sind für Recycling / Wir sind für Vorbilder / Wir sind für Geschichten schreiben / Wir sind für ethnische Diversität / Wir sind für Hunde / Wir sind für Tradition / Wir sind für Familie“. Ob Borchardt Hunde gemocht hat? Ich weiß es nicht. Den Rest hätte er wohl unterschrieben.

Verwendete Literatur
Rudolf Borchardt: Anabasis. Aufzeichnungen, Dokumente, Erinnerungen. 1943–1945. Hrsg. von Cornelius Borchardt in Verbindung mit dem Rudolf Borchardt Archiv. München-Wien 2003.
Rudolf Borchardt: Gesammelte Briefe. Band 6. 1936–1945. Bearb. von Gerhard Schuster. München-Wien 2002.
Rudolf Borchardt: Jamben. Hrsg. v. Elisabeth Lenk. Frankfurt am Main 2004.
Rudolf Borchardt: Der leidenschaftliche Gärtner. Mit zwölf Aquarellen von Anita Albus. Frankfurt am Main 1992.
Rudolf Borchardt: Prosa. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Band 3. Stuttgart 1960.
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Rudolf Borchardt. München 2007 (Text + Kritik: Sonderband).
Reinhard Tgahrt (Bearb.): Rudolf Borchardt – Alfred Walter Heymel – Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. München 1978.

 

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