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Brenner-Gespräch (14): „Bei Operette kriege ich Depressionen.“

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 14: der Sänger Christian Gerhaher im Gespräch mit der Musikjournalistin Elizabeth Mortimer über Regisseure und Routine, Sport, Mozart und Revolverfilme.

Elizabeth Mortimer: Demnächst geben Sie den Wozzeck an der Oper Zürich. Wie bereiten Sie sich eigentlich auf Ihre Rollen und Konzerte vor?

Christian Gerhaher: Es ist ganz schrecklich, ich habe immer das Gefühl, ich fange von Null an, ich bin eine totale Pflaume. Wozzeck ist besonders schwer zu lernen. Ich stehe vor den Noten wie ein Idiot und muss irgendwie reinkommen, ganz langsam.

E. M.: Was für ein Glück, wenn man mit den Komponisten reden kann! Wie ist es denn, mit einem Komponisten, der speziell für Sie schreibt, über eine spezielle diffizile Stelle zu reden?

C. G.: Das ist eigentlich unangenehm, weil ich ihnen etwas auszureden versuche. Bitte ein bisschen einfacher!, muss ich sagen. Heinz Holliger z. B. hat ein Lied geschrieben, im Rhythmus ging es fünf gegen vier gegen drei gegen sieben, das war so entsetzlich und die ganze Zeit gab es irgendwelche Vierteltonketten. Da habe ich zu Heinz gesagt: Bitte, ich kann das nicht. Daraufhin hat er es etwas entschärft. Es tut mir selbst leid, wenn die Komponisten auf so jemanden wie mich angewiesen sind. Ich würde ihnen einen besseren Musiker wünschen, aber es ist, wie es ist.

E. M.: In einem Radiointerview, das ich vor zehn Jahren mit Ihnen geführt habe, haben Sie von Ihren angeblichen Defiziten gesprochen. In Ihrem Buch (Halb Worte sind’s, halb Melodie) kommt das Wort Defizite schon auf den ersten paar Seiten mehrmals vor. Damals wie heute stellt sich die Frage: Was meint er denn, er ist doch so ein Perfektionist? Durch die vielen Erfolge und die Anerkennung, die Ihnen jetzt zuteil wird, müssten Sie doch das Gefühl haben, es ist schon Einiges oder Vieles gelungen?

C. G.: Das kann ich nicht bestreiten. Ich habe unglaublich viel Glück in allem gehabt. Zum Beispiel auch darin, dass manche meiner Wünsche nicht früher in Erfüllung gegangen sind: So habe ich mir lange gewünscht, größere Rollen an der Bayerischen Staatsoper zu singen. Wenn das früher in Erfüllung gegangen wäre, wäre es nicht erfolgreich gewesen. Ich habe Zeit gebraucht, um in die Oper hineinzuwachsen, das war goldrichtig. Und vor allem habe ich Glück damit, dass ich heute mit all diesen fantastischen Musikern und Dirigenten und mit Gerold Huber als meinem Liedbegleiter arbeiten darf. Aber trotzdem ist nicht daran zu rütteln: Ich bin kein Musiker, ich bin irgendwo dazwischen, zwischen Musiker und Schauspieler.

E. M.: Vor zehn Jahren haben wir auch über Regisseure gesprochen. Sie waren ziemlich streng und haben sich über manche Regisseure empört, wenn sie ein Stück komplett verdrehen. Inzwischen haben Sie mehr Opernerfahrung, und Sie haben bestimmte Regisseure, mit denen Sie am liebsten arbeiten …

C. G.: … oder die, die ich sehr bewundere. Mein grundsätzliches Urteil schwankt weiterhin, ich kann nicht sagen, ob ich für oder gegen das sogenannte Regietheater bin. Wogegen ich auf jedem Fall bin, ist banales Ausstattungstheater, wo einfach die Geschichte zum x-ten Mal irgendwie runtergenudelt wird, das kann ich nicht ertragen. Ich finde, einen künstlerischen Anspruch muss ein Regisseur unbedingt haben. Was ich auch grundsätzlich nicht mag, ist diese suchtartige Attitüde vieler Regisseure, ein Stück zu aktualisieren. Das finde ich total blöde. Denn wenn ich ein Kammermusikstück aufführe, dann käme es mir nie in den Sinn, etwas zu aktualisieren. Es ist aktuell dadurch, dass es aufgeführt wird und dadurch, dass es lebende Menschen sind, die es aufführen. Das muss reichen. Der gebildete und nach Intellekt strebende Mensch ist immer ein historisch geprägtes Wesen, und so kann er auch ein Stück, das in einem historischen Kontext steht, begreifen. Die eigentlichen Spießer sind die, die sich den immer gleichen Aktualisierungsmoden unterwerfen, ohne nachzudenken – unerträglich!

E. M.: In sehr vielen Interviews und Artikeln werden Sie als Grübler dargestellt. Das gefällt mir nicht. Ich habe immer einen anderen Eindruck von Ihnen!

C. G.: Das gefällt mir auch nicht, aber es ist trotzdem wahr. Leider. Es ist so: Man hat eine gewisse Mischung in sich, aus der heraus man arbeitet. Ich persönlich muss immer versuchen, jeden Abend ganz radikal wahrhaftig und neu zu gestalten. Bei der Oper versuche ich, vorher abgemachte Gänge, Gesten oder Handlungen noch mal zu ergründen, um sie wieder gleich machen zu können. In der Musik versuche ich, ein Rubato bei mehreren Aufführungen gleich zu belassen. Dabei hat ein sehr berühmter Musiker zu mir gesagt: „Ein Rubato ist wie ein Fisch, der nach drei Tagen zu stinken anfängt.“ Diese Meinung teile ich nicht. Ich finde, ein Rubato fängt nicht an zu stinken, wenn man immer wieder vorher die Gestaltung radikal neu durchdenkt. Damit kann man auch Folgendes vermeiden: Eine der Hauptsünden des darstellenden Musikers, hat Erich Kleiber gesagt, ist die Improvisation in der Aufführung –
das muss man sich mal vorstellen! Die andere Hauptgefahr ist die Routine. Natürlich sind das Extrempole ein- und derselben Sache: Routine und Improvisation. Ich versuche beide Extreme zu vermeiden.

E. M.: Wie kann man Routine vermeiden? Einerseits braucht man sie, um eine gewisse Sicherheit zu haben, andererseits sind Ihre Konzerte, Lieder- und Opernabende für das Publikum ja meistens Sternstunden …

C. G.: … sie sind für das Publikum hoffentlich immer so, als gäbe es nur diese Aufführung und keine andere in einer Serie. Das Publikum kann erwarten, dass für einen Abend alles getan wird. Ich persönlich könnte dieses Gefühl nicht haben, wenn ich mich auf das Konzert erst zwei Stunden vor Beginn einstellen würde. Das heißt als Konsequenz: Am Konzerttag kann ich nicht reisen, ich muss versuchen, alle Kraft von in der Früh bis zum Auftritt zu bündeln, körperlich wie geistig. Natürlich gelingt das nicht immer, denn die körperlich-geistige Konstitution ist nicht bis ins Letzte erzwingbar. Aber die Frische des Zufalls ist nicht die, die man möchte, sondern die Frische des Geistes und der Konzentration, sowohl körperliche als auch psychische Konzentration. Das ist es, wonach ich strebe.

E. M.: Hans Hotter und Oscar Czerwenka sind nur wegen Schuberts Winterreise Sänger geworden. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass auch Sie nur wegen des Liedes Sänger geworden sind.

C. G.: Ja, nur deswegen bin ich Sänger geworden. Am Beginn des Medizinstudiums habe ich angefangen, Gesangsunterricht zu nehmen, weil ich im Chor Soli gesungen habe. Das hat mir Spaß gemacht, aber es war keine berufliche Alternative. Dann war ich in einem Liederabend und habe gewusst, das ist mehr für mich. Es war aber nicht Die Winterreise, ich hörte Schumanns Dichterliebe und seine Kerner-Lieder. Die Kerner-Lieder habe ich damals noch nicht erfasst, aber die Dichterliebe habe ich natürlich sofort begriffen. Während des Medizinstudiums habe ich dann Gesang studiert, privat und als Gast an der Hochschule in München, die Oper war mir aber eher fremd. Ich war vielleicht zwei, drei Mal in der Oper bis ich achtzehn war und habe mich eigentlich nicht dafür interessiert. Aber langsam bin ich ein wenig reingekommen. Auch heutzutage gibt es noch viele Opern, die mich Null Komma Null interessieren. Das ist nicht unbedingt meine Welt. Andere interessiert eben Liedgesang nicht, das ist in Ordnung. Dafür muss ich mir keine Bellini-Oper anhören, obwohl: Neulich habe ich I Capuleti e i Montecchi angesehen, ich war begeistert und tief berührt.

E. M.: In England ist es oft so, dass Liedsänger, auch Oratoriensänger zuerst eine große Karriere machen und erst dann den Schritt auf die Opernbühne machen.

C. G.: Das Ideale, um seine Stimme kennenzulernen, ist in meinen Augen das Lied und das Oratorium, weil man sich farblich nicht sofort festlegen muss. Gerade bei Männern ist das große Problem der Bereich des oberen Passagios, ich sage jetzt mal: beim Bariton die Töne Es bis Fis. Wenn man in der Oper ist, wird einem als erstes unweigerlich beigebracht, hier muss gedeckt werden, und dann singen viele so (singt einen Dreiklang von unten nach oben: „Ha-ha-ha-hu“). Das kann keine freie Entwicklung der Stimme beinhalten! Natürlich sagen dann die meisten, das ist so deutsch, da wird so ein Deckel daraufgelegt, aber das italienische coperto das ist ganz was anderes! Nur – wie kommt man an das italienische coperto heran? Ich erzähle das anhand meiner eigenen Geschichte: Es war sicherlich nicht alles golden, was ich abgeliefert habe, aber ich habe ein anderes coperto für mich entwickelt, indem ich zunächst mal hell singe und dann die Stimme in diesen Regionen öffne. Und mit dem Lied geht das eigentlich viel einfacher. Ich finde, die Helligkeit – und das ist die Quintessenz dessen, was ich da sage –, die natürliche Helligkeit der Stimme darf nie zur Disposition stehen. Das ist meine persönliche Überzeugung.

***

Es ist nicht nur eine Modeerscheinung von heute, dass sich Opernsänger der sogenannten leichte Muse, der Operette, widmen – für Christian Gerhaher ein Reizthema. Trotzalledem, so hört man, soll ihn der Dirigent Christian Thielemann für Aufnahmen oder ein Konzert mit Operettenausschnitten umwerben.

C. G.: Ja, das ist so ein Running Gag zwischen uns, er sagt er immer (ahmt die Stimme Thielemanns nach): ‚Ich kriege dich noch, du singst noch Operette, das ist doch für dich geschrieben, du musst es singen, es ist herrlich, richtig was Schönes!“ – Und meine Antwort: „Ich kann das nicht einmal für Sie tun, Maestro.“

E. M.: Regisseur Otto Schenk hat in einem Interview gesagt, man braucht für gewisse Operetten großartige Opernstimmen, sonst ist es unmöglich, das zu erreichen, was der Komponist eigentlich haben wollte, weil die Operetten einfach zu schwer zu singen sind.

C. G.: Meine Entgegnung wäre: Man braucht diese Operetten nicht, man braucht vielleicht großartige Sänger für Operetten, aber man braucht die Operetten nicht. Ich kriege einfach Depressionen, wenn ich solche Operetten höre, da dreht sich bei mir alles um und ich möchte mich am liebsten gleich von der Brücke stürzen.

E. M.: Oh nein, das wollen wir absolut nicht! Für Sie gilt also weiterhin das Operettenverbot. Noch so ein Reizthema bei unserem Interview vor zehn Jahren war der Sport …

C. G.: Gott, ich bin mir so gleich geblieben!

E. M.: Sie können sich so aufregen über den Sporthype, über die Allgegenwart des Sportes in der aktuellen Berichterstattung! Was ist es, was Ihren Unmut anregt, sind es die Großveranstaltungen, Fußball und so weiter?

C. G.: Es geht mir darum, dass wir in Deutschland – in Österreich ja auch – öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten haben, wir Bürger zahlen eine enorme Summe für den Erhalt und die Grundausstattung dieser Anstalten, wir geben Geld dafür aus, dass sich diese Sender nicht durch Werbung finanzieren müssen, so dass sie unabhängig sind. Und was tun diese Sender? Sie nehmen 10 % ihres Etats durch Werbung ein – dadurch sind sie nicht mehr unabhängig – und schielen die ganze Zeit auf Einschaltquoten! Dadurch machen sie etwas zunichte, was ihnen vom Gesetzgeber vorgeschrieben wird, nämlich eine ausgeglichene Verteilung ihrer Arbeit auf drei verschiedene Gebiete: erstens Information, zweitens Unterhaltung, drittens Bildung. Ich habe nichts gegen Sport und als Mediziner müsste ich eigentlich dazu sagen: Sport ist in gewissen Grenzen sehr gut und wichtig. Für mich persönlich ist er eher nebensächlich, aber das hängt mit meiner Lebensweise zusammen. Aber ich habe entschieden etwas dagegen, wenn ich in einer Informationssendung Interviews zu Fußballspielen höre und dann sagen die, „man darf den Gegner nicht unterschätzen, es wird ein schweres Match sein und man wird erst später erfahren, was das Ergebnis sein wird.“ Muss man sich solche Trivialitäten ständig nicht nur anhören, sondern auch leisten? Was diese Sendungen kosten und zu welchen Sendezeiten dieser Schmus ausgebreitet wird, das ist ja ein Skandal! Ich kann mich da einfach nicht der Stimme enthalten, auf diese Art und Weise wird aktiv Unbildung, Verblödung betrieben. Man kann daher nicht länger sagen, Mozart ist eine großartige Unterhaltung, das ist er eben gerade nicht! Mozart ist immer existentiell. Und das ist es, was ihn wichtig macht.

E. M.: Das bringt uns zum Thema: Wo steht die Kultur in der EU? In den EU-Verträgen ist es nirgends fest verankert, aber es ist eigentlich die Kultur, die die Völker besser zusammenbringen würde.

C. G.: Ich glaube, da ist es sehr schwierig in der EU, denn die Art, Kultur zu verbreiten, ist doch in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Wir sind hier in Österreich, Deutschland und der Schweiz noch auf der Insel der Glückseligen. Wenn man sich England ansieht, wo für Kultur fast nichts ausgegeben wird – es ist ein Desaster! Die Kultur kann nur durch alltägliche, ganz unauffällige Arbeit immer neu erstellt werden – nämlich durch Bildung in der Schule. Und die ist in großer Gefahr! In Deutschland noch viel mehr als in Österreich, bei uns wird in manchen Bundesländern diskutiert, entweder Kunstunterricht oder Musikunterricht anzubieten. Wo gibt’s denn so etwas? Das ist eine derartige Barbarei. Die Schule wird meiner Ansicht nach viel zu sehr als Zentrum der Vermittlung von Kompetenzen gesehen, so nennen sie das auch. Aber die Schule ist kein Kompetenz-Vermittlungs-Zentrum, sie ist ein Zentrum, um Bildung zu vermitteln. Und wenn das nicht gemacht wird, dann sind die Künste auf Dauer schwer gefährdet. Das ist die eigentliche Gefahr unserer Zeit.

E. M.: Abschließend noch zu Dingen, die Sie mit Enthusiasmus erfüllen. Welche Künstler begeistern Sie? Sie haben einmal Frank Peter Zimmermann erwähnt.

C. G.: Ja, es gibt viele Geiger, die mich begeistern. Frank Peter Zimmermann ist mein Held. Neulich habe ich auch mal die Patricia Kopatschinskaya gehört – unglaublich! Gidon Kremer habe ich immer schon verehrt, er hat so einen eigenen Klang, den würde ich blind erkennen. Ich habe sehr oft seine Bach-Partiten und Sonaten angehört. Die Geige ist mir ganz nah.

E. M.: Haben Sie Zeit, oder nehmen Sie sich Zeit, manchmal Sachen anzuhören? Sie sind ja ständig unterwegs.

C. G.: Zur Zeit ist es schwierig, das belastet mich auch manchmal. Ich habe natürlich nicht Musik studiert, mein Studienhorizont ist und bleibt die Medizin. Insofern habe ich ein großes Defizit an Repertoire-Kenntnis – ich kenne so viele Opern nicht! Und manche möchte ich auch gar nicht kennenlernen … (schmunzelt). Wenn ich unterwegs bin, muss ich mich natürlich auf meine Stücke konzentrieren, aber die übrige Zeit versuche ich das auszugleichen, indem ich immer wieder in die Oper und in Konzerte gehe. Ab und zu brauche ich allerdings auch meine Eskapismen, das gebe ich gerne zu. Ich schaue dann irgendwelche Revolverfilme an. Meine Frau sagt: „Du bist verblödet!“ Aber das brauche ich.

 

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