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Satzspiegel*
von Brigitte Labs-Ehlert

Ein Weg ist mehr als die kürzeste Strecke von einem Ort zum anderen, zum Ziel. Das wäre die Schnellstraße, die außer dem Erleben der Geschwindigkeit keine anderen Erfahrungen und Eindrücke bereithält. Erst eine langsame Annäherung stiftet einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den Elementen der durchschrittenen Welt. Weg bedeutet auch die Art und Weise, das Verfahren, wie etwas gesehen und getan und gedacht wird. Gehen und Lustwandeln, Spaziergang und Fußwanderung gelten nicht nur in der Literatur als die angemessene Geschwindigkeit für Wahrnehmung und Erkenntnis.
Das Literatur- und Musikfest „Wege durch das Land“ in Ostwestfalen-Lippe (dessen künstlerische Leiterin die Autorin ist, Anm.) ermöglicht Gedanken- und Schreibgänge durch die Zeit und den Raum, von Ort zu Ort. Die Wegmarken zeigen die vorhandene reiche und vielfältige Kulturlandschaft mit ihren vielen Dichterorten und historischen Bauwerken. Sie weisen auf charakteristische Plätze hin, an denen die für diesen Landstrich typischen Arbeiten verrichtet wurden. Gleichzeitig schaffen sie eine zweite imaginäre Landschaft, die das Vorhandene als vielstimmiges Gespräch in neuer Weise sicht- und hörbar macht und Begegnungen zwischen vergangenen und zeitgenössischen Landschaftserfahrungen in Literatur, Musik, Bildender Kunst und Tanztheater ermöglicht. Damit wird der Entwurf eines eigenständigen Raums ästhetischer Reflexion in der Gegenwart bezeichnet.
Man macht sich ein Bild von einem Flecken Erde, den man kennt oder den man gerade kennenlernen möchte, man macht sich ein Bild von jedem Flecken Erde, den man aufsucht – real oder imaginär durch ein Stück Literatur, ein Gedicht, einen Film oder ein Gemälde. Ein Bild als ein Zusammentreffen von Vorbildung und Vorbildern, als eine Vorstellung, geprägt von der eigenen Erfahrung, dem konkreten Wissen, der ästhetischen Erziehung und vielen Fragen. Ein Bild, das eine Geschichte erzählt. Warum ist es wichtig, sich mit Orten zu befassen? Sie überdauern die Flüchtigkeit der menschlichen Existenz. Sie helfen uns vor dem Vergessen und bewahren Erinnerung. Sie können uns ein Maß geben, indem sie neben uns existieren, uns wohl auch fremd sind, und sich in anderen Zeitläuften verändern, als wir uns verändern. Warum finden wir Orte schön oder hässlich? Es gibt Orte, die mir nichts sagen, das sind jene, die ihr Gesicht verloren haben, die ihre Geschichte verleugnen, die durch die allseitigen Verschönerungsmaßnahmen und ewig gleichen Marketingstrategien leer geworden sind. Und selbst in diesen entleerten Orten lässt sich vielleicht mit Mühe noch ein Rest davon aufspüren, was die Qualität des Ortes ausmacht: Gedächtnis und Lebendigkeit. Diese basiert auf Individualität, Vielseitigkeit und Andersartigkeit. Sobald man diesen Zipfel Gedächtnis findet wie eine Oase, wie eine Ruine – lässt sich eine Geschichte finden, stellt sich ein Bild ein. Das Typische und das Normierte sind grundlegend verschiedene Angelegenheiten. Das Typische, das sind in Ostwestfalen sicherlich die Schlösser, Gutshäuser, Klöster und Kapellen, die Mühlen und Gärten, die etwas struppige Landschaft, etwas Bescheidenes, nicht nach außen gewendete Prunk- und Herrschsucht, etwas Stilles; und jedes Bauwerk unterscheidet sich von dem anderen in vielen Details, und jeder „typische“ Taleinschnitt und jede die Landschaft prägende Hügelformation hat andere Verläufe, anderen Bewuchs, andere Pfade und Wege. Die Variation, die Abweichung von der Norm, eröffnet den Raum für die Besonderheit, jetzt kann die Geschichte beginnen. Und die Geschichte, die Orte erzählen, bezieht sich nicht ausschließlich auf die Vergangenheit. Geschichte bildet sich jetzt, Geschichten beginnen jetzt, vorausgesetzt, man hält den Raum dafür frei: den nicht normierten, individuellen, nicht perfekt gestylten Ort und den Ort, den jeder im Kopf als Phantasie und Gedankenfreiheit trägt. Unsere Sprache ist auf eine faszinierende Weise sehr appellativ. Was die Orte sagen, kann ich nur verstehen, wenn ich sie genau beobachte. Diese kleine Silbe „be“ verhindert, dass ich einen Ort für etwas vereinnahme, baut eine Distanz auf, bringt den Besucher als Suchenden in die Position des Aufmerksamen, dem nur dann etwas auffällt, wenn er sich zurücknimmt, Wahrnehmen gelingt nur dann, wenn man nicht zugreifen möchte. Gib Obacht meint, ganz Ohr, ganz Auge zu werden. Schließlich umfasst Beobachten das Achten. Nur das lässt sich beobachten, das gleichzeitig geschätzt und gewürdigt wird. Beobachten heißt, sich in eine Verantwortung zu stellen. Und dies nun ist etwas ganz und gar Gegenwärtiges. Den Orten zuhören, in die Landschaft eintauchen, so entsteht eine lebendige Poetische Landschaft im gebirgichten Westfalen.

— * Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert.
— Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln
und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

 

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