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Die Gestaltung des Gedankens

Im Innsbrucker Rapoldipark entstand aus privater Initiative „bilding“, eine gänzlich einzigartige Kunst- und Architekturschule für Kinder und Jugendliche. Schauspielerin und Autorin Dörte Lyssewski hat einen Lokalaugenschein unternommen und mit den treibenden Kräften gesprochen.

ANKUNFT
Ein immenser Wolkenlindwurm schlängelt sich um die Flanken der Berge und zieht niedrig, fast auf Wiesenniveau weiter ins Tal, Richtung Innsbruck. Die Berge sehen stachelig aus, wie unrasiert. Der Zug, der Verspätung haben sollte, erreicht pünktlich den Bahnhof. Der vorhergesagte Regen erweist sich als Sonnenschein. Erwartungen werden über den Haufen geworfen.

Die umliegende Landschaft ist alles andere als symmetrisch, linear oder gleichförmig, sondern, wenn auch langsam, eine sich verändernde. Schneller, scheint es, als die Häuser der Stadt. Hügel, Tal, Berg, Sanftheit und Schroffheit wechseln einander ab. Es dampft aus allen Schluchten und Tälern. Die Stadt wirkt steinern, gedrungen, eng und schwer, auch wenn sie lebendig ist, was sicher zu einem Großteil den mehr als 30.000 Studenten zu verdanken ist. Hier scheint gegen Jahreszeiten, Witterung und Zerstörung gebaut worden zu sein, mit den Bergen als Lehrer, Bedrohung und Schutz als Essenz ihrer Erfahrung. bilding hingegen will flüchtig sein. Trotzdem scheint es eine, wenn auch kleine Tradition des selbstlosen Engagements einzelner Bürger für Bildung zu geben. Auf der Einfahrt mit dem Zug in die Stadt fährt man an einem großen Gebäude vorbei, auf dessen Fassade gemeißelt steht: „Der Stadt Innsbruck gewidmet von einem Patrioten“. Es ist die Daniel-Sailer-Schule. Johann von Sieberer, selbst ein ehemaliges Waisenkind, machte seine Fortune mit einer Versicherungsgesellschaft und begründete 1885 das erste Waisenhaus in Innsbruck, später ein Greisenasyl u. v. a. – insgesamt eine Investition im Gegenwert von heute 140 Mio €. Was muss man sein: Patriot, Egoist, Idealist, Enttäuschter, Mäzen, Träumer, Aufklärer, Könner, Philanthrop, Visionär?
Das Bahnhofsviertel, auf dessen Rückseite die Sill fließt und der Rapoldipark liegt, benannt nach dem ehemaligen Vizebürgermeister der Zwischenkriegszeit, ist wie viele Bahnhofsviertel im Krieg 1943/44 schwer zerbombt worden und entsprechend peu à peu in allen Stilrichtungen wiederaufgebaut worden. Der Rapoldipark wurde Ende der Siebziger erweitert, indem ein ehemaliges Gaswerkgelände begrünt und einbezogen wurde. Der Park sollte seit seinem Entstehen ein Volkspark sein, anders als die Hofgärten, deren Grünflächen man nicht betreten und nicht auf ihnen herumtollen und liegen kann. Wenn man von geformter Natur ausgeht, wie es die Definition jedes Parks impliziert, insbesondere des Landschaftsparks, so sind die Elemente, die der Formung dienen, in letzter Konsequenz auch Natur. An der Ecke vor der Unterführung der Gleise, Luftlinie 200 m vom bilding entfernt, befindet sich die KOMFÜDRO (Kommunikationszentrum für Drogenabhängige der Caritas Innsbruck), in der frische Spritzen und Löffel ausgegeben werden. Dort herrscht gerade Rushhour, im gegenüberliegenden Striptease-Lokal die Happyhour zu reduzierten Preisen. In der Ausgabestelle, die nur wenige Stunden am Tag geöffnet ist, sind alle aufgeregt, warten ungeduldig und sehnsüchtig. Das Aussehen der Abhängigen ist erschreckend. Es ist wohl die traurigste Sucht.
In der Drogenstelle blättert ein Sozialarbeiter durch einen Aktenordner und findet außer einem Vorfall, bei dem sich ein Kind an einer herumliegenden Spritze infiziert hat, jedoch keine gesundheitlichen Schäden davongetragen hat, nichts Gravierendes im Laufe von 20 Jahren. Vor zehn Jahren wurde eine Studentin im Park ermordet. Der Fall wurde nach acht Jahren aufgeklärt. Und sonst? Überwachungskameras und Polizeikontrollen wurden eingeführt. Dass ein offener Park ein gewisses Eigenleben hat, eine Passage unterschiedlichster Menschen darstellt, wird nie zu ändern sein, dafür ist er ja Park. Ansonsten wird er, wie bereits in vielen Städten geschehen, wehrhaft umzäunt und abends geschlossen. Das hat dann den Charakter eines Zoos. Eine Aufwertung des Parks? Wie kann das gehen, wenn sich die Probleme nur verlagern, insbesondere die Drogenszene. Der Park als öffentlicher Raum soll für alle da sein und genau das geschieht. Dass sich weltweit auch Dealer und zwielichtige Gestalten in einem Park aufhalten, erstaunt nicht. Das war schon immer so und wird auch so bleiben, es sei denn, sie werden vertrieben.
Eintritt in den Park. Muss die Handtasche enger an den Körper gezogen werden nach all den Vorinformationen? Ein junger Mann kommt den Weg Richtung Sillsteg entlang. Sein Plastiksackerl reißt und dutzende Bierdosen fallen heraus. In der Ferne sitzt ein Mann auf einer Bank und zittert am ganzen Körper, wie ein Körper sich nur unter schwerem Entzug schütteln kann. Auf der sogenannten Sillinsel ist ein schicker Neubaukomplex entstanden mit schwindelerregenden Quadratmeterpreisen, kühlem creme-schwarzem Design, Blick auf den Fluss. Das untere Geschoss ist mit Metalltüren versehen, die dem Ganzen das Aussehen einer Sicherheitsverwahrung geben. Zur Flussseite ist es von Mauern eingefasst, zum Schutz vor Menschen und Fluten. Eine eher geschlossene, abweisende Architektur. Laternen, teilweise mit eingebauten Kameras, säumen die Wege. In den Rasen eingelassene Felsbänke, die stufenartig zum Fluss hinabführen, sollen Rudimente eines ehemaligen Amphitheaters zitieren. Der Fluss strömt wild, ist milchig und kühl. Ein unter einer Linde aufgestellter Fahrradzähler der Stadt Innsbruck zeigt in Leuchtziffern den 1316. Radfahrer an, der gerade vorbeigestrampelt ist. Insgesamt kann er sich im Kreise der übrigen 560.011 dieses Jahres rühmen. Es müsste eigentlich auch aufgestellte Zähler geben für Zwillingsgeburten, Zahnlose, Verschuldete, Ehebrecher, Stempler, Steuerhinterzieher, Drögler oder Unglückliche. „Achtung. Betreten auf eigene Gefahr!“ bezieht sich wohl auf die Nähe des abschüssigen Ufers. Der Park ist bestückt mit Leuten, die lesen, telefonieren, Hunde ausführen, Einkäufe nach Hause tragen, ihre Kinder ausführen, essen. Viele verschiedene Sprachen ziehen in Wortfetzen vorüber. Das Ganze wird begleitet vom unablässigen Rauschen eines künstlichen Wasserfalls, der aus der Rückseite eines Einkaufszentrums strömt und als hauseigenes Kraftwerk des EKZ, das 1990 gebaut wurde, über siebzig Geschäfte in seinem Bauch beherbergt, nicht zu vergessen die Kinderbetreuung im eigenen „Kinderparadies“, mit Strom versorgt. Daneben stapeln sich morsche Paletten und ausgediente Sonnenschirme.
Die 35 km lange Sill mündet nicht weit von hier in den Inn. Stellt man sich ein Hochwasser vor, das den ganzen Park verschlammen, die Bäume entwurzeln würde, so würde das bilding-Gebäude, so hat man den Eindruck, nur losgerissen aus seiner Verankerung und würde sich samt Kommandobrücke (Medienraum) und Deck (Terrassen) auf die Fahrt begeben, die Sill hinabtreiben, dann in den Inn gleiten, in die Donau einfließen und irgendwann am Schwarzen Meer, vielleicht in Sewastopol vor Anker gehen, die Kinder älter geworden, die Architekten mit grauen Haaren, die Eltern zurückgelassen, denen man dann selbstgebastelte Postkarten
mit Motiven der schönen Uferpromenade schickte. Bis dahin geht das Ganze auch mit Papierschiffchen.
Auf der Rückseite von bilding findet man eine Pfarre, einen Tauchsportclub, eine Volksschule, einen Sozialdienst, ein Tattoostudio, einen kleinen Kiosk mit angrenzendem Café und Terrasse, nicht demolierten Fahrradständern, sauberen Toiletten. Die Bäume und Sträucher sind beschnitten, der Rasen gemäht.
Merkwürdig nur, dass man beargwöhnt wird, ein scheinbar ungewohntes Bild, wenn man mit einem Notizblock durch die Straßen geht. Man wird mit Verdacht angeschaut, als trüge man eine Waffe.

PRÄMISSE
Die Suche nach dem kreativen Ausdruck, der entdeckt und gefördert werden kann, bevor er verschüttet wird. Eine Suche, die weitergegeben werden soll. Der Mensch im Menschsein. Aufklärung. Der Mensch in Betracht all seiner Fähigkeiten. Bildung wurde und wird seit jeher begriffen als Verteidigung des Menschlichen, letztendlich mit dem Ziel, die Menschen zu bessern, was immer das heißt. Mündigkeit? Vielleicht, denn betrachtet unter dem Aspekt, weshalb die immer noch sogenannte Bildung für wichtig erachtet wurde und wird, entspricht die Herangehensweise des Kollektivs von Menschen, die bilding erdacht und realisiert haben, genau den Grundinteressen des humanistischen Menschenbildes: Bildung im Sinne der Schöpfung, des Bildnis, der Gestalt. Der Idealismus des Bildens, des Formens, des Erziehens, der Aneignung, des Zu-eigen-Machens durchzieht als unerlässlicher Grundgedanke alle Gespräche der Beteiligten.

DIE IDEE
Arno Ritter:
„2006 stieß Monika Abendstein zu ‚architektur und tirol‘ (aut), einer Architektenvereinigung, die ich seit 1995 leite und wo wir uns um die Entwicklung und Präsentation von Architektur, Kunst und Design kümmern. Monika übernahm das Kinderprogramm, das damals noch recht marginal war. Es kamen Lehrer von Schulen zu uns und klagten, dass sie weder Lehrmittel noch Know-how hätten, um das Thema Architektur in den Unterricht einzubringen. bilding ist eine Antwort darauf, dass der Unterricht in Kunst und Architektur an den Schulen entschieden gekürzt wurde und wird, teilweise bis zum Verschwinden. In der Bildung hat sich das neoliberale Prinzip durchgesetzt, nur Bereiche zu unterrichten, die einen sogenannten Zweck haben. Dabei sind wir ein barockes Land. Es gibt bis heute eine Kreativität, die durch Widerstand gegen das Land und seine Kultur entsteht, ja sie erst ermöglicht. Der von mir bei der Architekturbiennale 2012 kuratierte Beitrag im Österreich-Pavillon beschäftigte sich deshalb u. a. mit der Barocken Kultur Österreichs als Kunstgen.
Bei der Biennale kam es auch zu einer neuerlichen Begegnung mit Monika, die inzwischen ein Netzwerk von Schulen und Kindergärten – über Tirol hinaus, bis nach Finnland – aufgebaut hatte. 2009 hatte sie bereits die Kunstschule gegründet, eine gemeinsame Initiative mit Künstlern, Designern und Architekten, die teilweise heute noch bei bilding wirken, mit dem Ziel, das Thema der wegrationalisierten Kunst und des künstlerischen Gestaltens aufzufangen. bilding entstand aus der Melange von ‚Das Bild‘ und ‚Das Ding‘. Es wurde ein Verein gegründet und beschlossen, etwas zu bauen. Als Ziel beim Bau im öffentlichen Raum wurde angestrebt, dass es keine optischen oder anders gearteten Hemmschwellen gibt. Der Rapoldipark war ein prekärer Ort, er bot jedoch ideale Voraussetzungen für einen Bau im öffentlichen Raum, da es soviel Aufenthaltsmöglichkeiten in ihm gibt und eine große Durchmischung in der Alters- und Sozialstruktur. In Absprache mit der Stadt hat sich ein auf sieben Jahre begrenztes Nutzungsrecht ergeben. Falls das Hallenbad aus der Zwischenkriegszeit, das in unmittelbarer Nachbarschaft liegt, erweitert werden sollte, müsste man weichen.
Die erste Idee war: Man lädt die ganze Architektenschaft von aut ein, gemeinsam dieses Projekt zu entwickeln. Der Hauptakzent lag auf dem Partizipativen. Nach einem Dreivierteljahr stellte man fest: Diese Vorgehensweise funktioniert nicht. Die Architekten sind zu sehr auf Wettbewerbe konditioniert, haben zu unterschiedliche Haltungen. In diesen Monaten wurden jedoch Entscheidungsgrundlagen in punkto Raumkonzept und -funktion getroffen. Und man entschied sich, das Gebäude ohne öffentliche Mittel zu errichten. Es steht in einer gewissen Tradition, das, was der Politik nichts mehr wert ist, mit Unterstützung der Zivilgesellschaft zu errichten, um den Wert, den die Gesellschaft diesem Thema einräumt, symbolisch sichtbar zu machen.
Zwei Leute waren bereits im Prozess des Architektenkollektivs involviert gewesen: Walter Prenner und Verena Rauch vom Architektenkollektiv ‚Columbus Next‘ und seit Jahren Assistenten an der Architektur-Uni. Mit ihnen entstand die Idee, den Bau am Institut für experimentelle Architektur der Uni Innsbruck zu realisieren. Für ein zweisemestriges Bachelor-Studienprojekt meldeten sich 27 Studenten im Alter zwischen 20 und 24 Jahren. Es gab zwei Vorgaben: Es musste ein Holzbau werden und es musste leicht zu bauen und wieder abzubauen sein. Die Wahl von Holz als primärem Baumaterial hatte auch technische Gründe: Die von Robotern per Computersteuerung vorgeschnittenen riesigen Platten kann man zusammensetzen wie Legobausteine. Im Dezember 2014 wurde aus 17 Entwürfen von einer Jury einer ausgewählt. Die Prämisse lautete: Es gibt keine Handschrift, es gibt keinen Autor. Von Ende April bis Mitte Juli haben die Studenten dann selbst Hand angelegt, mit Unterstützung von Profis, die ehrenamtlich gearbeitet haben. Der Gegenwert des jetzigen Gebäudes liegt bei 400.000 €. Spenden, Sponsoren – auch für Materialien – und unentgeltliche Arbeitskraft waren unerlässliche Faktoren bei der Realisierung.
Die Künstler, Designer und Architekten arbeiten bei bilding auf Stundenbasis und werden vom Verein bezahlt. Der Verein erhält 20.000 € von der Stadt, 30.000 € vom Land und 20.000 € vom Bund. Alle Kurse, alle Programme, die Malerei, Bildhauerei, Architektur, neue Medien, Film und Design umfassen, sind gratis. Das wird seitens der Politik und von Teilen der Gesellschaft kritisiert. Begründung: Was nichts kostet, ist nichts wert. Wenn man an einen öffentlichen Ort geht mit dem Anspruch, Kinder, auch aus Migrantenfamilien oder mit sozial schwächerem Hintergrund, einzubeziehen, kann man nicht eine pekuniäre Hemmschwelle aufbauen. Da hilft nur das Argument: Was wir hier machen, ist so wertvoll, das kannst du nicht zahlen!“

DAS GEBÄUDE
Raum ist Alles. Kein Raum, der geschont werden soll. Das Gesicht des Hauses entspricht dem Entstehungsprozess, entspricht den Menschen, auf die die Idee und die schlussendliche Realisierung zurückzuführen ist. Und es entspricht dem, was dann nach der Auflösung der Grenzziehung Innen-Außen, dem temporären Körper, in und um ihn tätig ist. Das Lebendige steht über dem Funktionellen, schließt es nicht aus, sondern definiert das Funktionelle um. Insofern ist Raumkörper die treffendere Bezeichnung für diesen Ort. Welche Funktion hat ein Haus, das gar kein Haus sein will?
Das erste Bild war ein Foto aus der Entstehungsphase von bilding, in der das blanke Holzdach noch nicht verkleidet war, aufgenommen aus der Vogelperspektive.
Das, was man da sah, wirkte, als hätte das Kind eines Riesen sein Holzspielzeug fallen lassen, das nun auf einem geordnet-ungeordneten großen Haufen quer übereinandergelagert dalag. Geordnetes Chaos. Wie nach einem Erdbeben. Die Erde Innsbrucks bebt jährlich um die einhundertsechzig Mal, das letzte Beben war erst jüngst im August. Starke Beben haben im Lauf der Jahrhunderte Risse an Häusern, kleine Einstürze verursacht. Doch beim Lokalaugenschein merkt man: Käme jetzt ein stärkeres Erdbeben, würde es bilding nicht viel ausmachen. In den Verschränkungen seiner Achsen macht es einen stabileren Eindruck, bei gleichzeitiger Fragilität und Elastizität, als die üblichen Klötze. Ein grandioser Kataklysmus.
bilding liegt zwischen der Friedensbrücke und dem Sillsteg, eingebettet wie ein gestrandetes Schiff oder ein Raumschiff vor / nach seinem Einsatz. Vom Ufer aus ist es nicht zu sehen, auch nicht beim näheren Herantreten. Ein schützender, überdachter Eingang, querverlegt, dient als Rampe, die in den Bauch des Gebäudes führt. Die Welt aus den Fugen. Riesige Glassegmente wechseln mit schmalen Streifen aus Glas und spitz zulaufenden Scheiben ab. Es gibt keinen geraden Winkel, keine Verstrebung gleicht einer anderen. Ein schräges Schiff. Im und um das Haus befinden sich Holzstege und Plateaus, innen aus Fichte, draußen aus Lärche gefertigt. Transparenz wohin man schaut. Der Blick kann und darf schweifen, er wird nicht aufgehalten durch Mauern. Statt dessen Einblicke, Ausblicke, Durch- und Aussicht im Radius von 360°: Blick auf den Park, die Wolken, den Fluss und einen der Weiher des Parks, den Himmel, die Berge, die ihre Geröllzungen zeigen, die Büsche, die Bäume, Eschen, Eiben, Weiden, Ahorn, Huflattich, Bambus, Brombeerranken, durch die Wind und Licht gehen, die Terrassen, Blick in die anderen Arbeitsräume und das Büro der Leitung. Vor dem Büro steht ein noch kleiner Bambuswald, der nicht nur der Begrünung dient, sondern gleichzeitig als nachwachsendes Bau-Arbeitsmaterial dient. Alle Wände, Böden, Regale und Türen sind aus Holz, einzig die Türklinken, die unverputzten Leitungsrohre, die Belüftungsanlage und die Lampen sind aus Metall. Unter den großen Waschbecken zur Säuberung des Arbeitswerkzeuges verläuft eine schräge Rampe als Boden, so dass die Kinder wie die Daltons je nach Größe alle an das Becken kommen, ohne Schemel benutzen zu müssen. Auf den hölzernen Terrassen im Außenbereich kann ebenfalls gearbeitet werden, im Sommer kommt kühle und frische Luft vom Fluss. Die Holzplateaus sind mit Kieselsteinen gerahmt, die aussehen, als hätte einer der Sturzbäche aus den Bergen sie mit dem letzten Regen angespült. Das Haus und das Dach sind mit atmungsaktiver weißer Folie als Nässeschutz bespannt. Der Boden des Werkraums ist übersät mit futuristischen Gebäuden, die die Gastkinder des „Schnuppertages“ gebaut haben: der Entwurf einer kommenden Stadt. Meterlange Regale sind gefüllt mit Stiften, Papiermessern, Bändern, Drähten, Pinseln, Schläuchen, Hölzern, Papieren, Folien, Pappen usw. Die Riesenscheiben geben dem Ganzen einen angenehmen Aquariumscharakter, wobei nicht klar ist, ob man Fisch ist oder Betrachter. Die einzige akustische Irritation, nur auffällig für Nicht-Innsbrucker, sind die extremen Tiefflüge der landenden Flugzeuge, die die Stadt überfliegen.
Gegenwart und Zukunft, Einzigartigkeit von Erfahrung, Einzigartigkeit von Ding und Mensch.

KOLLEKTIV
Walter Prenner (W. P.) und Verena Rauch (V. R.)
V. R.: „Das Gebäude fungiert als Vermittler oder als architektonischer Botschafter für den Park, die Passanten werden aufmerksam auf das, was hier stattfindet. Der Zaun, der das Grundstück umgab, wurde auf Drängen der Studenten entfernt, damit der Ort sich insgesamt zum Park hin öffnet. Jetzt fließt der Park zum Gebäude hin. Das Gebäude selbst hat auch eine Art ‚Landschaft‘ um sich, die in die Parklandschaft nahtlos übergeht. Auf Geheiß der Studenten hat die Stadt ebenfalls die Beleuchtung verstärkt, um den Ort abends heller und dadurch auch sicherer und sichtbarer zu machen.“
W. P.: „Es war ein soziales Experiment, das Gebäude in diesen Park mit diesem diffizilen Beigeschmack zu setzen, denn Gebäude wie diese können einen Ort verändern. Das ist eine Frage der Überzeugung. Und es ist ein soziales Experiment auch in der Hinsicht, dass es mit Studenten der Universität erarbeitet wurde. Es wurde bis nach Semesterende gebaut, auch an den Wochenenden. Fünf, zuweilen sechs Gruppen sind zusammengestellt worden, eine Zimmermannsgruppe, die Außenraumgruppe, eine Fassadengruppe, die Foliengruppe, die Möbelgruppe und die, die mit Elektrikern und Installateuren zusammengearbeitet hat.“
V. R.: „Selbst das Glas musste in Eigenverantwortung vermessen werden. Das war ein heikler Prozess bei Scheiben, die teilweise vier Meter hoch sind und schräg, ohne rechte Winkel – das sind sogenannte Modellgläser. Im Falle eines Verschnitts sind sie nicht durch Maßware zu ersetzen. Jedes Brett musste individuell zugeschnitten werden, sowohl für die Wände, als auch für den Boden und für die Möbel. Alles war Maßarbeit.“
W. P.: „Und genau da war der sogenannte Lerneffekt für die Studierenden am größten, weil sie ganz praktisch verstanden haben, was es bedeutet, etwas Derartiges zu bauen, ohne Kompromisse zu machen oder einzuknicken.“
V. R.: „Die Hoffnung liegt darin, dass sie für ihr künftiges Leben eine Ahnung mitbekommen haben und dass diese in ihre Arbeit mit einfließen wird. Die architektonische Gestalt, die hier entstanden ist, besitzt einen spezifischen Charakter. Wenn man einen Architekten hineinführen und ihn auffordern würde, den Grundriss zu zeichnen, hätte er Schwierigkeiten. Das Raumkontinuum besteht aus unterschiedlichen Höhen, die allein im phantastischen Deckenspiel Form angenommen haben, in Ein- und Ausgängen, Innen- und Außenräumen, Schrägen, Spiegelungen und Transparenzen. Es sind Raumsequenzen, bei denen man Zeit braucht, um zu verstehen, wo sich welche Linien schneiden.“
Kinder stehen in gewisser Weise für Chaos, nicht durchgegliederte, durchkonstruierte Umwelt. Es gibt noch keine Kontinuität im Empfinden von Form, sie wird Moment für Moment erfunden, infrage gestellt, verworfen, spielend neu erfunden. Es gibt nur die Urteilskraft von Moment zu Moment, meist gespeist durch Empfindung oder Reize. Der Raum an sich.
Ein Raum, der der Kunst zugedacht ist, sollte die Qualität besitzen, durch Geruch, Farbe, Temperatur, Struktur an und durch sich bereits Reizgeber zu sein. Wie Kinder irrlichtern, scheint dieser Raum zu irrlichtern. Kann also Kreativität auch in / aus der „Kiste“ entstehen? Kann man nicht auch eine bestehende Wohnung herrichten als Stätte der Kreativität?
W. P.: „Architektur soll eine gewisse Zeichenhaftigkeit besitzen, es sollte ja ein besonderer Ort werden. Der Raum wirkt sich immer auf die Entwicklung aus. Das hier ist Gebrauchsarchitektur, es kann und soll Katalysator sein, der viele Dinge zulässt, u. a. durch die Menschen, die es benutzen. Lässt das Gebäude das Zusammenspiel zu oder nicht? Daran misst sich der Anspruch.“
In zehn Jahren sieht das Haus ganz anders aus. Das Haus wird gezeichnet sein, Spuren werden hinterlassen worden sein, durch eingeschlagene Nägel, Farbe, Ritzungen, Schnitte, Tritte, Kleister, es wird selber zum Kunstobjekt werden, Wesenhaftigkeit erlangen durch die Wesen, die es belebt haben und ihre Spuren hinterlassen durften. Entgegen der Tendenz, Spuren zu verwischen. Der Charakter wird einem ständigen Wechsel unterliegen. Auch durch Vegetation und Witterung.
V. R.: „Die Studenten identifizieren sich mit ihrem Bau. Sie kommen regelmäßig vorbei um zu schauen, was ‚ihr Haus‘ macht, bekommen seine Veränderungen mit.“
Wie bei Kindern. Was ist eigentlich aus Franz geworden? Wie bei einem Garten. Trägt der Baum schon Früchte?

PRAXIS
Löcher in die Luft starren. Gute Langeweile. Muße haben. Glotz, Holz, Holzen, Hotzenplotz. Hineinschauen in den Raum, der das Kind umgibt. Es sitzt vor dem leeren Papier. In den Himmel schauen. Durch Baumfluchten gleiten mit dem Blick. Aufs Holz glotzen, das umgibt. Zum Beispiel. Das gelebte Leben der Bäume. Spuren in Form, Farbe, Geruch. Die Unterschiedlichkeit der Astlöcher. Ihre Ellipsen erinnern an eine Kniescheibe, an ein Elefantenauge, dann an überreifes Obst, dann an ein weibliches Geschlecht und an das abgeschnittene Ohr Vincent van Goghs. Das Kind malt ein Ohr in Gedanken. Die Kapillare, die sichtbaren Adern, die jetzt Raum und Schutz bieten, wirken einladend, nicht abstoßend. Die Streifen der Maserung ein möglicher erster Pinselstrich. Maserung kann man auch Textur oder Zeichnung nennen. Das Blatt ist nicht mehr leer. Fladern ist nichts anderes. Das Holz wird mit Strich und Farbe in seiner Struktur imitiert. Die Fladerung wird auch Blume genannt. Das Kind malt eine Blume.
Holz, Material, das bearbeitet werden will, vom Wald, zur Idee, zum Bau, zur Obhut. Es atmet, es bewegt sich minimal, es schwitzt. Genau wie die in ihm sich bewegenden Körper der Kinder. Das Kind schaut weiter. Es schließt die Augen, riecht das Holz und glaubt sich im Rumpf eines Schiffes oder allein in einem Bootsschuppen, der Umkleidekabine einer Badeanstalt, bei Regen in einer Bushaltestelle wartend, der Werkstatt der Großeltern oder im alten Baumhaus, das längst abgerissen wurde, oder mitten im Wald. Das ist keine vertane Zeit. Das ist Traum. Das Auge darf schweifen von Jahresring zu Jahresring, Fläche zu Fläche, Sichtflucht zu Sichtflucht. Es gibt keine Begrenzung. Wo ist das Holz gewachsen, auf welchem Berg, an welchem Hang, wer hat es geschlagen, war es bei Mondschein, hat der Sägewerker auch Kinder? Ich werde älter werden und das Holz wird verwittern. Das Holz bietet Schutz, den Tieren und Wanderern, es hält den Boden zusammen, schützt vor Muren, Lawinen, Steinschlag und vielleicht vor Drogen. Es riecht ein bisschen nach Turnhalle und Käsefüßen. Wenn es wieder Sommer wird und das Holz sich erwärmt, wird es nach Harz riechen, denkt das Kind vor seinem Blatt, der Pinsel ist ihm aus der Hand gefallen. Und das riecht dann nach Weihrauch, wie in der Kirche. Das Harz dient eigentlich dem Verschließen der Wunden der Bäume. Muss es erst wehtun, damit etwas entsteht? Durch Anzapfen rinnt das Harz aus dem Baum. Die Rinne sieht spiralförmig, schneckenförmig aus und erinnert an die Struktur des Turms zu Babel, bevor er zusammenstürzte. Auch Babel war eine Chance.
Und hier? Kunstjunkies? Pinsel statt Spritze, Zirkel statt Nadel, Pigmente statt Kokain?

DER MOTOR
Monika Abendstein:
„Der freie Zugang und die direkte Umsetzung haben etwas Menschliches und unterliegen nicht der Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Künstler, die bei bilding arbeiten, tun das, weil es sie interessiert, wie ein junger, unbedarfter Mensch – ein noch offener Geist – die Dinge sieht und was für Zugänge das erlaubt.“
Ist es, dass man als bereits etablierter Künstler immer wieder diesen Punkt der Unschuld, der Unvoreingenommenheit, des Spontanen, Anarchischen, des Anachronistischen, der Naivität im Alltag mühsam suchen muss? Den bewertungsfreien Zugang zum Werk, die unmittelbare Intuition zum Entstehen. Alles vergessen an Wissen, Praktiken, Historie, alle bereits durchlaufenen Deklinationen der Kunst und des Selbst. Eigentlich eine Tankstelle. 2 + 2 = grün.
„Wir hatten die Idee, einen Freiraum zu schaffen, in dem man sich ohne Zwang, aus freien Stücken und ohne Ziel im Sinne von Leistung oder Kompetenz entdecken kann. Das Tun der Kinder ist absichtslos, ihr Handeln hat keinen Zweck. Unser langfristiges Ziel ist es: Kein Programm zu haben, aber Raum. Das Programmdenken weckt Erwartungshaltungen, die den weiten Bereich des Möglichen einschränken. Wichtig ist, dass man Zeit hat. Und die kommenden zehn Jahre werden spannend, weil man sehen wird, ob die Beschäftigung mit Kunst und Architektur die Lebenseinstellung beeinflussen oder verändern wird und wenn ja, in welchem Maße.“
Wird das Gemüt verändert, gar erweitert? Kann man Dinge anders wahrnehmen danach? Es wird in ihnen als Erfahrungen weiter existieren. Als Schläfer? Sie sind und bleiben Teil der Gesellschaft und ihre Erfahrungen fließen durch sie in die Gesellschaft ein. Die Lunte ist lang. Die Kenntnis von sich selbst. Wird man auf diese Weise nicht so leicht aus der Bahn geworfen? Man fällt nicht so leicht aus sich selbst oder aus der Welt. Gewisse Dinge sind ein Bestandteil von mir als Mensch. Und die kann mir keiner nehmen. Das gibt Sicherheit. Diese Entdeckung reicht bereits.
„Auch die Kinder sind irritiert, dass es bei uns nichts kostet, sie fragen: Wer zahlt das? Sie begreifen das aber relativ schnell: Du kannst dich hier als Kind denken – es ist eine Anstrengung anderer nur für mich! Es ist eine Wertschätzung für den anderen. Irgendwann verstehen das die Kinder und mit den Kindern irgendwann die Eltern. Eltern sind sonst gewohnt zu glauben, sie könnten mit ihrem Beitrag eine gewisse Leistung einfordern. Wenn man kein Geld nimmt, ist man wesentlich freier in dem, was man macht. ‚Das steckt man rein, das bekommt man raus‘ – dieses Prinzip wird bei uns außer Kraft gesetzt.“
Der Raum wirkt an diesem „Schnuppertag“ wie ein großer Klangkörper. Das Holz schwingt. Draußen am Weiher kontrollieren gerade zwei Polizisten die Papiere zweier Männer; sie telefonieren, die Männer ziehen ab.
„Rücksichtnahme, Ruhe und Konzentration und eine gewisse Disziplin sind ein Grundprinzip in unserer Arbeit. Der Begriff ‚Schule‘ ist nicht nur negativ zu bewerten, denn Schule heißt auch Lernen. Ein geschützter Raum, der Bestand hat und eine ihm innewohnende Ernsthaftigkeit dessen, was man in ihm tut. Aber ob ‚Werkstatt‘ oder ‚Schule‘ – den Kindern ist es sowieso vollkommen egal, wie man das nennt.“
Die Polizisten sind fort, die Männer sind wieder da und setzen sich erneut an das Ufer des Weihers.
„Wer hat das geschrieben? Peter Handke, glaube ich: ‚Nur Schauen ist Denken‘. Das Beobachten führt zur Erkenntnis. Ein guter Freund von mir hat gesagt: Was ist der Sinn des Lebens? Der Sinn des Lebens ist, zu verstehen und verstanden zu werden. Ich denke: Ab und zu braucht man, um verstanden zu werden, die Gestaltung des Gedankens. Das braucht man. Und Zeit. Wie ich mir wünsche, dass mir einmal langweilig wäre! Wenn das Ganze hier einmal läuft und auf sicheren Beinen steht, habe ich die Hoffnung, dass ich mich einmal wieder langweilig fühlen kann.“

 

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