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Fließtext*
Von Monika Helfer

„Hohlraummasse“ – diese Wortschöpfung stammte von einem bescheidenen Mann, der seine Arbeit am Fließband verrichtete. Er meinte mit „Hohlraummasse“ sein Gehirn und fand, das beschreibe präzise, was die Arbeit aus ihm gemacht habe. Wäre seine Arbeit umfassend, arbeitete er zum Beispiel an einem ganzen Stück, von Anfang bis Ende, müsste sein Gehirn einen anderen Namen haben. So aber passte der Name zu den zwei Elektroteilen, die er jeden Tag zusammenfügte. Je länger er über den Begriff „Hohlraummasse“ nachdachte, umso mehr fand er ihn philosophisch, und er kam zum Schluss, wäre dieser Begriff von einer Geisteskapazität ausgedacht worden, käme er zu den Wortschätzen der Philosophie. Gleichzeitig wusste der arme Mann, dass, wenn einer wie er sich so einen Begriff ausdachte, hieße es maximal, er sei originell. ¶ Mit solchen und ähnlichen Gedanken brachte der Mann seine Stunden am Fließband zu, manchmal träumte er, und Elektroteile kollidierten, und es kam zu einem Lohnabzug. ¶ Zuhause überlegte sich der Mann, während er die Suppe löffelte und seiner Frau und seinem Sohn beim Reden nicht zuhörte, wie es wäre, würde man zu den Händen „Former“ oder „Fühler“ sagen. „Er nahm den Löffel in seine Fühler und probierte die Suppe.“ War nicht in dem Wort „Fühler“ mehr enthalten als in dem Wort „Hände“? Oder man könnte zu den Händen „Former“ sagen, was ja auch zutreffend wäre. Gerne hätte er sich mit jemandem darüber unterhalten, aber seine Frau sprach über die Ungerechtigkeit an ihrem Arbeitsplatz, sein Sohn über die Lehrer, die sich für alles interessierten außer für die Schüler. ¶ Der Mann saß immer noch am Küchentisch, das Geschirr war längst abgeräumt, er formte seine Stirn in Falten, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte sein Gesicht in die Hände. ¶ Was hätte aus ihm werden können, wäre er in einer angesehenen Familie groß geworden, hätte gute Schulen besucht, wäre auf die Universität gegangen? Er würde jetzt nicht am Küchentisch sitzen, dessen Platte aus schäbigem Resopal war. Er würde in einem Anzug zwischen Bücherregalen in Bibliotheken herumschwärmen und mit Geistesmenschen reden. Hätte dann auch eine andere Frau geheiratet, keine Supermarktkassierin, die einmal sehr schön gewesen war, hätte einen brillanten Sohn. ¶ Oder vielleicht wäre der Sohn missraten, das kommt vor, dass es in den besten Familien Ausreißer gibt. Er rief seinem Sohn, und als der gelangweilt fragte, was denn los sei, wollte der Vater wissen, wie er sich seine Zukunft vorstelle. ¶ „Jedenfalls nicht am Fließband“, sagte der Sohn und drehte seinem Vater den Rücken zu.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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