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Die Zwischenräume im Schweigen

Annäherungen an Georg Trakls Innsbrucker Jahre. Von Mirko Bonné

doch manche augenblicke nisten ohne datum
in den stimmbändern
C. W. Bauer

Vom Schweigen zu sprechen erscheint paradox, ist aber in Wirklichkeit bitter nötig. So, wie es das beredte Schweigen gibt und wahrscheinlich gar kein anderes, so ist wohl jedes Sprechen auch verschwiegen. Nur denen, die reden, geht es um Unterhaltung.
Als Dichter, Erzähler und Übersetzer bin ich Zweifelnder, daher ist über die Zusammenhänge von Äußerung und Schweigen, von Schreiben und Entäußerung zu sprechen schwierig für mich, wenn nicht unmöglich, rühren sie doch an die Fundamente meines Denkens und Fühlens. Spreche ich vom Schweigen, dann rede ich vom Schreiben, von meinen verschwiegenen Fundamenten, genauso aber von meinen auch für mich erstaunlicherweise nicht nachlassenden Versuchen, Lücken im Unaussprechlichen zu finden und der Unwirklichkeit zu entgehen, indem ich mit jemandem ins Gespräch komme, dem es vielleicht ähnlich ergeht und der mir die von ihm entdeckten Zwischenräume im Schweigen aufzeigt. Und dann muss ich von einem Satz erzählen, über den ich seit dreißig Jahren nachdenke, ein Satz, der für mich untrennbar mit Innsbruck verbunden ist: „Man kann sich überhaupt nicht mitteilen.“
Nach Edmond Jabès ist es das Fehlen, das Auslassen, was Wörter hörbar und sichtbar macht. Von Jabès stammt der Satz zwar nicht, der mir so lange schon nachgeht, doch auch er spricht von weißen Räumen des Schweigens zwischen den Wörtern, ohne welche sie unsichtbar wären. Jede beschriebene Seite sei „ein entfaltetes Knäuel Schweigen“.
Die Klarheit und Poesie, mit der Jabès dem dichterischen Zugang zu Sprache und Welt Ausdruck gibt, empfinde ich als Ruheraum, in den ich mich zurückziehen kann. Doch es ist mir auf Dauer zu still dort. Ich werde das Gefühl nicht los, allein mit mir zu bleiben, wenn ich einzig aufs Wort lausche, und höre ich auch seine Echos, seine Musik. Ja, ich fühle mich weniger wirklich, wirklich hier, mitten in meinem, mitten im Leben rings, je tiefer ich mich einlasse auf den Hallraum der Wörter, solange sie einzig Zeichen auf der Buchseite sind oder aufglimmen auf dem Bildschirm. Kein Wort aber sollte die Unwirklichkeit verstärken, vielmehr jedes beitragen zur Lebendigkeit. Es sollte von sich selbst absehen und mir helfen, dass auch ich von mir absehe. Ja! Von jedem Wort verlange ich, dass es in Austausch tritt, gerade weil man sich überhaupt nicht mitteilen kann.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – die Schlussfolgerung des „Tractatus logico-philosophicus“ ist berückend, fast ein Vers. Ein philosophisches Axiom sollte jedoch am Puls überprüft sein, und so wäre ich, wenn ich vor hundert Jahren gelebt und den Mut gehabt hätte, dem Autor wohl ins Wort gefallen: „Entschuldigen Sie, Herr Wittgenstein, aber wovon man nicht sprechen kann, darüber sollten wir reden!“
Austausch und Überlieferung – das lebendige Wort – waren für Ludwig Wittgenstein von erheblicher Bedeutung. Obwohl Erbe eines immensen Vermögens, beschloss er, Lehrer zu werden und seine gesamte Habe an mittellose Künstler zu verschenken. In Edmond Jabès’ Geburtsjahr 1912 begann Wittgenstein mit der Niederschrift der „Logisch-philosophischen Abhandlung“, die er später Tractatus nannte und die sein einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk blieb. „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“, heißt es darin. „Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“ 1912 lernte Wittgenstein auch die Dichtungen Georg Trakls kennen, von dem der Ausspruch stammt, man könne sich überhaupt nicht mitteilen.
Wittgenstein ließ Trakl ebenso wie Adolf Loos, Oskar Kokoschka und Rainer Maria Rilke 20.000 Kronen zukommen, eine Summe, der heute in etwa 100.000 Euro entsprächen. Für den von Alkohol, Kokain, Opium, Morphium, Veronal und Chloroform schwer gezeichneten Trakl kam die Zuwendung, die seine jahrelange Odyssee auf der Suche nach einer Anstellung in einer Behörde, beim Militär oder in einer Apotheke beendet hätte, zu spät. In seinem letzten Lebensjahr 1914, im Innsbrucker Sommer vor Ausbruch des Krieges, war Trakls Verzweiflung über die nicht lebbare Liebe zu seiner in Berlin unglücklich verheirateten Schwester Grete einer stummen Todessehnsucht gewichen und seine Zerrüttung längst unumkehrbar. Von „einem namenlosen Schmerz“ schreibt er, und noch ein Jahrhundert später ist es bestürzend, dass anders als etwa zeitgleich Kirchner oder später Kafka niemand Trakl therapeutisch oder nur ärztlich zu Hilfe kam. Alle Welt schien in ihm die Ausgeburt eines moribunden Engels zu sehen und sonnte sich in seinem schwarzen Licht. Wittgenstein ging als Kriegsfreiwilliger nach Polen, der k. u. k. Medikamentenakzessist Trakl fuhr von Innsbruck nach Wien und als Lazarettsanitäter im Offiziersrang mit einem Viehwaggon weiter an die galizische Ostfront, wo man ihn nach Wochen miterlebter Kriegsgräuel „zur Beobachtung seines Geisteszustandes“ in ein Garnisonsspital abkommandierte. Als Wittgenstein erfuhr, dass Trakl in Krakau in der Psychiatrie einsaß, zögerte er nicht und fuhr den Dichter besuchen, obwohl er nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte, kam allerdings nicht mehr rechtzeitig. Drei Tage zuvor, am 3. November 1914, war Georg Trakl an den Folgen einer Kokainvergiftung gestorben.

Auch mit Gedichten könne man sich nicht mitteilen. Man könne sich überhaupt nicht mitteilen! Angeblich sagte Trakl das am späten Abend des 27. Juni 1912 in einem Gespräch, das der Schriftsteller und Beamte Karl Röck in seinem Tagebuch aufzeichnete. Für Röck blieb Trakl in dessen Innsbrucker Jahren ein dunkles Rätsel, ein unfassbarer Mensch. Wie eine Katze sei er umhergeschlichen, und alles habe er riechen können! Röck gab 1917 die erste Gesamtausgabe von Trakls Werk heraus. In der „Stehbierhalle“ am Innsbrucker Marktgraben sagte Georg Trakl laut Karl Röck: Alles Gedichtemachen sei nichts. Was brauche man Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung, wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte des Evangeliums hätten mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte. Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich – daneben seien die Dichter so überflüssig, so dumm. Alle Dichter seien eitel, und Eitelkeit sei widerlich. Mitteilen könne man sich auch nicht mit Gedichten. Man könne sich überhaupt nicht mitteilen.
In einem Sommer hundert Jahre später nahm ich mir vor, einen Band mit nie veröffentlichten Gedichten zusammenzustellen. Nach dem Namen der kleinen Grünfläche am Innsbrucker Innufer nannte ich das Buch „Traklpark“, denn seit 1986, als ich zum ersten Mal Georg Trakls Grab auf dem Neuen Friedhof von Innsbruck-Mühlau besuchte, bin ich immer wieder auch dort in dem von Straßenverkehr umtosten Park am Inn gewesen. Mit den Jahren ist er für mich zu einem Stück Herzland geworden.
Das liegt auch an seiner oasenartigen Ruhe. Der grüne Fluss strömt vorbei. Leise rauschen die alten Bäume. In fast drei Jahrzehnten habe ich im Traklpark einzig mit Freunden, die mich begleiteten, und mit dem toten Georg Trakl gesprochen. Nie war sonst jemand dort. Ich liebe jeden Fleck, auch dass jemand auf einen Stromkasten RISE gesprüht hat, und auch den Gedenkstein, der am Ufer steht und auf dem ein Vers aus Trakls Gedicht „De profundis“ zu lesen ist.
„Gottes Schweigen / Trank ich aus dem Brunnen des Hains.“ Alles in diesem Vers fand ich vor an diesem seltsamen Ort: Der Brunnen war der Inn, der Hain der Park. Gott schwieg zum Singen der Vögel, zum Rauschen der Bäume und zum Brausen der Busse und Autos auf der Brücke. Und auch ich war da.
Wo im Leben stehst du, frage ich mich im Traklpark. Was bedeutet dir Glaube, was Fremde? Und deine Zeit, und die Vergangenheit? Was Landschaft, was Liebe? Geben deine Gedichte das wieder? Können, sollen sie’s wiedergeben? Wie hätte wohl Trakl heute Gedichte geschrieben? Wozu überhaupt noch Gedichte? Und wie sollen die aussehen, wenn die Welt selber kein Aussehen mehr hat?
Trakls radikalen Lebendigkeitsanspruch in einem Park verwirklicht zu sehen erscheint widersinnig. Im Traklpark ist mir stets zum Lachen und zugleich Weinen zumute, und vielleicht gehe ich deshalb, um diesem Widerspruch auf die Schliche zu kommen, immer wieder dorthin. Egal wo auf der Welt, in welchem Park ich mich auch umsehe, stets denke ich an den Traklpark und frage mich dann, ob die Verbindung zwischen meinem Herzensdichter und einer umlärmten Grünfläche wirklich so absurd ist.
In gewisser Weise sind auch Gedichte parkähnliche Inseln inmitten der Sprachen des Alltags und der auf sie einstürzenden Diskurse. Und das Gedicht als Park der Bedeutungen gibt der Liebe zu allen Erscheinungen und zugleich den schrecklichsten Zweifeln Ausdruck.
Diese innige Skepsis ist Trakls Erbe und durchzieht jedes Gedicht, das ich schreibe. Immer öfter glaube ich, für das, was mir vorschwebt, wäre eigentlich die einzig angemessene Form, es nicht aufzuschreiben. Erinnere dich lieber beizeiten zurück, an dein Erlebnis, an den Vers davon, den Satz, den Absatz, an das ganze unerhört stumme Gedicht, so wie an ein Lied, das du nicht hören musst, um es still vor dich hinzusingen, so wie an einen lieben Menschen, der gar nicht da zu sein braucht, damit du seine Stimme im Ohr hast. Lass es, wie es ist. Lass es gut sein, es lässt sich eh nicht sagen, jedenfalls nicht so, wie du es im Sinn hast.
In seinem im März 1914 im Innsbrucker Literaturmagazin Der Brenner abgedruckten Gedicht „Frühling der Seele“ gelingen Trakl Bilder von einem poetisch-osmotischen Austausch zwischen Welt und Gemüt, die meine Vorstellung von Unwirklichkeit und Nichtsagenkönnen genauso tief geprägt haben wie mein Festhalten an der Tröstlichkeit der Betrachtung: „Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische. / Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne; / Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“
Die Seele oder, wie wir heute noch kryptischer sagen, die Psyche ist bei Trakl nicht fremd in ihrer Welt, vielmehr ist sie „ein Fremdes“. Mehr oder minder hilflos übertragen das die drei Übersetzungen ins Englische, die ich kenne, mit „something strange“, „a strange shape“ und „a stranger“. Wer sich jedoch etwas Nichtausdrückbarem gegenübersieht, etwas dennoch Geahntem und Erspürtem, der begreift Trakls Bild unmittelbar, denn es spricht ihm aus der Seele.

In Tirol ist Georg Trakl seit Frühjahr 1912 immer öfter. Salzburg, Wien, München, Venedig, Berlin, Krakau – in anderen Städten ist er zeitlebens nicht gewesen. Innsbruck wird zu seinem Fluchtort. Als Militärmedikamentenbeamter leistet er dort Probedienst, wohnt zunächst in Pradl und bezeichnet die Stadt trotzdem als „die brutalste und gemeinste“, „die auf dieser beladenen u. verfluchten Welt existiert“. In Innsbruck findet er zu seinem bildgewaltigen, oft atemberaubend schroffen Ton, die Gedichte gewinnen eine geradezu furchterregende Kraft, aber auch aus den Briefen der Jahre in Tirol spricht eine schonungslose Dringlichkeit, etwa wenn er in einer Nachricht an seinen Salzburger Freund Buschbeck schreibt: „Ich bin wie ein Toter an Hall vorbeigefahren, an einer schwarzen Stadt, die durch mich durchgestürzt ist, wie ein Inferno durch einen Verfluchten.“
Bald erscheinen regelmäßig Gedichte im Brenner, dessen Herausgeber Ludwig von Ficker und die Beiträger Carl Dallago, Max von Esterle und Karl Kraus Trakl persönlich kennenlernt. Später wird er besonders Igls liebgewinnen, wo Fickers Bruder Rudolf die alte Hangburg Schloss Hohenburg besitzt, in der Trakl vorübergehend eine Bleibe findet. Oft wandert er über die Hänge am Waldrand entlang nach Lans, um bei der „Isserwirtin“ im Gasthof zur Traube einzukehren. Einige seiner schönsten Gedichte entstehen in Igls, „Elis“ und „Hohenburg“, aber auch „Abend in Lans“, das schließt: „Silberne Wasser rinnen über die Stufen des Walds, / Die Nacht und sprachlos ein vergessenes Leben.“
Wenn er vom Café Katzung oder aus dem „Max“ kam und hinauslief nach Mühlau, wo Ficker wohnte und der Brenner-Kreis sich traf, dann ging er am Inn entlang und durch die Uferauen, die es damals noch gab. Einen Park, wo heute der Traklpark liegt, gab es nicht, dafür aber den Gasthof Dollinger, und dort kehrte Trakl nicht selten auch dann ein, wenn er sich in der Stadt bereits schwer betrunken hatte: „Drei Liter Roten im Bauch. Nüchtern.“
In Mühlau, in einem Zimmer mit Loggia in der Rauch-Villa Ludwig von Fickers, schrieb er im Winter 1912 / 13 den „Helian“, ein fünfteiliges Gedicht aus langen, fließenden, von Licht und Bewegungen aus Träumen und Alltag durchzogenen Versen. Der „Helian“ ist Trakls Generalmobilmachung, sein umfassendster Versuch, der unumkehrbaren Zerrüttung innigste Bilder und Gestalten abzulauschen, eine Musik der Angst und furchtbaren Ahnungen, die dennoch festhält an der Möglichkeit zu Glück, Schönheit, Unschuld, Güte und Miteinander. Nacht und Umnachtung sind dabei allgegenwärtig, das Böse, der Schmerz, die Verkommenheit, die Verbitterung und die Verlassenheit ebenso. Aber Trakl beginnt den „Helian“ so: „In den einsamen Stunden des Geistes / Ist es schön, in der Sonne zu gehen / An den gelben Mauern des Sommers hin. / Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft / Der Sohn des Pan im grauen Marmor. // Abends auf der Terrasse betranken wir uns mit braunem Wein. / Rötlich glüht der Pfirsich im Laub; / Sanfte Sonate, frohes Lachen.“
Meine Lieblingsstrophe bildet die Mitte des zweiten Teils, drei Zeilen, aus denen unverbrüchlich die Liebe zum Leben und das lebendige Glück sprechen: „Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel, / Wenn er staunend Arme und Beine bewegt, / Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen.“ Ein Stabreim aus Sprache gewordenem Schweigen: „schön“, „erscheinend“, „staunend“, „stille“.
Der Schluss kündet von den „Stufen des Wahnsinns in schwarzen Zimmern“, von Kummer und Verzweiflung; denn an „den Wänden sind die Sterne erloschen / Und die weißen Gestalten des Lichts.“ Anders als ich lange glaubte, ist Trakls Gott nicht abwesend, oder wenn doch, dann wie Jabès sagt, „als Leere der Leere, Abwesenheit der Abwesenheit“. Als der Gott mit eisigem Atem, der sich mit dem „Wind von den Sternen“ äußernde Gott einer dahintaumelnden Welt scheint er jedoch oft ebenso traumverloren zu sein wie die Menschen, wenn er auch die denkbar offensten Augen hat.
Trakls Gott greift ein, nur wie und wann, bleibt unverstanden. Wachend über allem, ist er alles andere als unbeteiligt – und sein Mitgefühl so grenzenlos, wie es menschlich erscheint. Doch er ist ein Schweigender, ja scheint Stille und Schweigen selbst zu sein. Der „Helian“ schließt: „O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern, / Da der Enkel in sanfter Umnachtung / Einsam dem dunkleren Ende nachsinnt, / Der stille Gott die blauen Lider über ihn senkt.“ Ist es hier nicht so, dass Gott, indem er die Lider schließt, den Enkel hineinnimmt in seine Augen? Auch dort scheint ein Zwischenraum im Schweigen auf, wo Gott und die Menschen einander zu begegnen vermögen.

In der Mühlauer Rauch-Villa fand im Januar 1914 ein Gespräch statt, das der Schweizer Russland-Reisende Hans Limbach später unter dem Titel „Begegnung mit Georg Trakl“ aufzeichnete. Limbach war während einer Europareise Gast des Südtiroler Naturphilosophen und Kirchenkritikers Carl Dallago, mit dem gemeinsam er nach Innsbruck kam, um Ludwig von Ficker und dessen Kreis kennenzulernen.
Ganz wie Trakls Äußerungen in der Stehbierhalle über die Eitelkeit allen Dichtens und die Brüchigkeit vermeintlicher Mitteilungsbrücken ist das verhörartig anmutende Gespräch Dallagos mit Trakl für mich seit langem von zentraler Bedeutung, und das, obwohl es nicht wenige Stimmen gibt, die die Authentizität von Limbachs Erinnerungen anzweifeln.
Denn diese gespenstische Mühlauer Begegnung führt mitten hinein ins problematische Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, in ein Problem also, das mit Trakls Lebenshaltung und seiner Dichtung – in meinen Augen sind sie nicht zu trennen – sowie seiner von ihm selbst nur in wenigen Briefsätzen ausgesprochenen Poetologie eng verknüpft ist. Gerade die verstörend beharrliche Einsilbigkeit des in die Mangel genommenen Dichters ist es, die einen hellen Raum jenseits der vermeintlichen Verstocktheit öffnet, in dessen Licht man den Menschen Trakl unvermittelt zu begreifen glaubt.
An Hans Limbachs Protokoll hat mich nie interessiert, ob es authentisch ist – sollen sich Literaturwissenschaftler und -historiker der Frage annehmen –, denn ich verbinde damit etwas weitaus Aufwühlenderes. Es taucht darin nämlich ein Satz, den Georg Trakl sagt, nicht auf, ein Satz, den er aber – paradox, das zu behaupten – in meiner Erinnerung sehr wohl gesagt hat an diesem Innsbrucker Abend.
Wann und wo habe ich den Satz gelesen? Wohin ist er verschwunden? Habe ich ihn womöglich geträumt? Stammt er am Ende gar nicht von Trakl, sondern, ja, von wem, mir selbst? Wäre er dann nicht ein Satz, den Georg Trakl mir eingeflüstert hat, eine lebendige Überlieferung?
Der Satz lautet: „Das Evangelium hat ja noch gar nicht begonnen.“
Auch Röck meint ja, sich an eine Evangelien-Äußerung Trakls in der Innsbrucker Stehbierhalle erinnern zu können: „Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte.“
Hans Limbach erinnert sich, dass Carl Dallagos offene, etwas kindliche Natur Trakl zu reizen und herauszufordern schien: „Denn es war ihm, allem Anschein nach, peinlich, Rede und Antwort stehen zu müssen, und jener schien dies nicht genügend zu beachten“, berichtet er.
„Trakls Wesen war tiefste Verschlossenheit. ,Ich bin ja erst halb geboren!‘, sagte er einmal und behauptete, bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr überhaupt nichts von seiner Umwelt bemerkt zu haben außer dem Wasser.“
„Aber Dallago mochte nun einmal kein Organ für seine Art haben und rückte ihm immer näher auf den Leib.
,Kennen Sie eigentlich Walt Whitman?‘, fragte er ihn plötzlich.
Trakl bejahte es, fügte aber bei, dass er ihn für verderblich halte.
,Wieso‘ – fuhr Dallago auf – ,Wieso verderblich? Schätzen Sie ihn denn nicht? Sie haben doch gewiss in Ihrer Art manches Verwandte mit ihm?!‘
Von Ficker bemerkte, dass doch wohl eher ein tiefer Gegensatz zwischen den beiden zu erkennen sei, indem Whitman das Leben einfach in allen seinen Erscheinungsformen bejahe, während Trakl durch und durch Pessimist sei.
Ja, ob er denn gar keine Freude am Leben habe? – bohrte Dallago weiter. – Ob ihm denn z. B. sein Schaffen gar keine Befriedigung verleihe?
,Doch‘ – gab Trakl zu –, ,aber man muss gegen diese Befriedigung misstrauisch sein.‘
Dallago lehnte sich vor maßlosem Erstaunen in seinen Stuhl zurück.
,Ja, warum gehen Sie dann nicht einfach in ein Kloster?‘, fragte er endlich nach kurzem Schweigen.
,Ich bin Protestant‘, antwortete Trakl dumpf.
,Pro – te – stant?‘, fragte Dallago gedehnt – ,Das hätte ich allerdings nicht gedacht! – So sollten Sie doch wenigstens nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande leben, wo Sie dem wüsten Treiben der Menschen ferner und der Natur näher gerückt sind!‘
,Ich habe kein Recht, mich der Hölle zu entziehen‘, gab Trakl zurück.
,Aber Christus hat sich ihr doch auch entzogen!‘
,Christus ist Gottes Sohn!‘ antwortete Trakl.
Dallago wusste sich kaum zu fassen.
,So glauben Sie also auch, dass alles Heil von ihm komme? Sie verstehen das Wort Gottes Sohn im eigentlichen Sinne?‘
,Ich bin Christ‘, antwortete Trakl.
,Ja‘ – fuhr Dallago fort, ,wie erklären Sie sich denn solche unchristlichen Erscheinungen wie Buddha oder die chinesischen Weisen?‘
,Auch die haben ihr Licht von Christus bekommen.‘
Wir verstummten, über die Tiefe dieses Paradoxes nachsinnend. Doch Dallago konnte sich noch nicht zufrieden geben.
,Und die Griechen? Glauben Sie denn nicht auch, dass die Menschheit seitdem viel tiefer gesunken ist?‘
,Nie war die Menschheit so tief gesunken wie jetzt nach der Erscheinung Christi‘ – versetzte Trakl. ,Sie konnte gar nicht so tief sinken!‘, fügte er nach kurzer Pause hinzu.
Dallago schien nicht wahrhaben zu wollen, dass Trakl immer mehr sich in sich zurückzog und verschloss“.
Den Kopf nicht länger gesenkt, sah Trakl auf, maß sein Gegenüber mit einem seltsamen Blick und schwieg.
„Aber nach einer Weile schien er sich seines Wortes über Christus zu besinnen.
,Es ist unerhört‘ – begann er – ,wie Christus mit jedem einfachen Wort die tiefsten Fragen der Menschheit löst! Kann man die Frage der Gemeinschaft zwischen Mann und Weib restloser lösen als durch das Gebot: Sie sollen Ein Fleisch sein?‘“
Über Dostojewskis Sonja „sprach er das schöne Wort aus – wieder mit funkelnden Augen –: ,Totschlagen sollt’ man die Hunde, die behaupten, das Weib suche nur Sinnenlust!‘“ Die Frau suche ihre Gerechtigkeit, so gut wie jeder von uns.
„Dallago schien frappiert und bemerkte nach kurzem Schweigen: ,Ja, das ist’s. Vielleicht werd’ ich auch noch eine Ehe in diesem Sinne zustande bringen.‘
Unterdessen waren die Flaschen leer geworden, und als sich auch in der Küche kein Wein mehr vorfand, nahm Trakl die Flaschen ohne Weiteres unter den Arm, stieg, als wäre er der Wirt, in den Keller hinab und brachte sie gefüllt zurück.“
Verschlossenheit, Verstummen. Stille, Nachsinnen. Beharren auf die eigene Stimme. Schmale Lücken in der Unsagbarkeit, die Zwischenräume im Schweigen sind der eigentliche Gegenstand dieses Gesprächs, ob es in Mühlau seinerzeit so stattgefunden hat oder nicht.
„Das Evangelium hat ja noch gar nicht begonnen“ – ich denke heute, gut dreißig Jahre, nachdem ich Limbachs Niederschrift zum ersten Mal las, dass ich diesen wie aus einer fernen Zeit und durch einen geträumten Himmel herbeigesegelten Satz vor allem deshalb in das Gespräch hineinlese, weil Georg Trakl darin von Jesus von Nazareth wie von einem Dichter spricht. Er erwähnt keine Wunder, keine Taten, weder Jünger noch Auferstehung. Er spricht von Christi Erscheinung, einem Licht, das, wie rückwärts durch die Zeit, schon ein halbes Jahrtausend zuvor Siddhartha Gautama und seine Nachfolger erleuchtet habe. Unerhört, habe Trakl gesagt, sei es, wie Christus mit jedem einfachen Wort die tiefsten Fragen der Menschheit löse – nicht gelöst habe, sondern löse. Weder Handlungen noch Wunder lösen die Probleme der Menschen, sondern Worte. Die Frohe Botschaft ist so verstanden noch immer unterwegs. Sie mag ausgesprochen sein, im Leben angekommen ist sie nicht.

Es gebe in jedem Buch eine Zone der Dunkelheit, einen undurchdringlichen Schatten, den sein Leser erst nach und nach entdecke, schreibt Edmond Jabès. Sosehr der Schatten irritiere, man spüre genau: Hier ist das wirkliche Buch, um das herum die gelesenen Seiten angeordnet sind. Dieses ungeschriebene, so rätselhafte wie enthüllende Buch entzieht sich fortlaufend. Nach Jabès erlaubt nur die Intuition dem Leser, es in seiner wahrhaftigen Dimension zu erkennen.
Mit dem Spannungsfeld zwischen sprachlicher Wirklichkeit und lebenserfüllter Wahrhaftigkeit beschäftigt sich auf ganz eigene Weise noch in seinen allerletzten Aufzeichnungen auch Georg Trakl. Bevor er Ende August 1914 über Wien abfuhr an die galizische Ostfront, überreichte er, an der Mütze eine wippende Nelke, wie es heißt, am Innsbrucker Bahnhof dem befreundeten Herausgeber des Brenner einen Zettel. Neben zwei Gedichten, die er Ludwig von Ficker aus Galizien schicken sollte, sowie ein paar Feldpostnachrichten sind die auf dem Blatt notierten Zeilen das letzte, was Trakl schrieb: „Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.“
Das Gedicht als Wiedergutmachungsversuch – als Versuch, die eigene Mitverantwortung am Zustand der Welt und des menschlichen Miteinanders anzuerkennen. Es ist das Bekenntnis zu einer lebenszugewandten Aufgabe der Dichtung.
In Momenten abgrundtiefen Verlorenseins, der Versteinerung und Verzweiflung, dem „totenähnlichen Sein“, auch dann – erst dann? – fühlt man, dass jeder, ebenso man selbst, der Liebe wert ist, auch der eigenen.
Trakl spricht von Augenblicken statt Momenten – ein Unterschied, der körperliche Teilnahme voraussetzt, Blicke, Sprache, mit der das Mitgefühl einsetzt, die Blicke der Augen, in denen Empathie sich abzeichnet und die sie spiegeln.
Aus diesem Schweigen jenseits von allem aufgewacht, macht man die Augen auf und fühlt – die Welt lässt es einen spüren –, wie bitter doch die sogenannte Realität ist.
An ihr also scheitert man? Laut Ludwig von Ficker notierte Trakl die Zeilen unmittelbar vor der Abreise an die Ostfront. Er war 27, sein Leben ruiniert, die Zukunft nur mehr „schwarze Novemberzerstörung“. „Bisweilen fällt dann ein Strahl der letzten sonnigen Innsbrucker Tage in diese Düsterniß und erfüllt mich mit tiefster Dankbarkeit für Sie und all’ die edlen Menschen, deren Güte ich in Wahrheit so gar nicht verdiene“, schrieb er ein Jahr zuvor an Ficker. „Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum – das bin ich.“ Er sehne den Tag herbei, an dem die Seele „diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die ein nur allzugetreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist.“
Bitter auch, dass der Zettel vom Innsbrucker Bahnhof seit 1915 verschollen ist. Niemand außer dem Brenner-Herausgeber hat ihn je gelesen. Somit ist er wie das von Röck aufgezeichnete Gespräch in der Stehbierhalle am Marktgraben und der von Limbach festgehaltene Mühlauer Disput mit Dallago eine weitere ungesicherte Äußerung Georg Trakls.
Und das heißt? Es mag keine Brücke geben zwischen nötigem Realitätssinn und gegebenem Unwirklichkeitsempfinden. Liebe lässt sich vielleicht nicht mitteilen, nicht mit Worten, die nie Küsse sind. Aber es gibt Zwischenräume im Schweigen, die etwa Musik und das Gedicht auszuloten versuchen.
An diesem innigen Sprechen heißt es festzuhalten. Es gibt kein besseres.

 

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