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Brenner-Gespräch (15): „Probleme mit der real existierenden Wahrheit“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 15: Die Autorin Katja Lange-Müller im Gespräch mit Robert Renk über Autobiographie und Autotherapie, Schreiben und Lügen, die polnische Art Schnaps zu brennen und Wiener Würstchen in Ulan Bator.

Robert Renk: Sie haben einmal gesagt, Sie würden nichts Autobiographisches schreiben, denn das würde Ihnen ohnehin niemand glauben.

Katja Lange-Müller: Ich hätte dazu auch keine Lust und halte es mit Stanislaw Lem. Den hatte mal einer gefragt: „Sagen Sie, Herr Lem, wie kommen Sie denn auf all diese wunderbaren, phantastischen Einfälle zu Ihren Science-Fiction-Geschichten?“ Lem hat sein Gegenüber ungerührt angeguckt und erwidert: „Was heißt hier Einfälle, was heißt hier Phantasie! Das ist alles autobiographisch!“

R.: Sie schreiben gerne über Figuren, die …

L.-M.: … also über schon mal gar nicht, wenn, dann höchstens von, weil über ist eine Perspektive, die ich ablehne. Über uns sind die Wolken oder der, der in seinen Wolken ist, aber an den glaub ich ja nicht.

R.: Also, Sie schreiben gerne von Figuren und Szenarien, die Sie gut kennen: Druckerei, Psychiatrie …

L.-M.: Ja, aber nie direkt. Ich erfinde Figuren, denen mein Erfahrungsschatz zu Gute kommt, verleihe ihnen bestimmte Züge. Es wäre ja blöd, einen Bauarbeiter zu erfinden, denn ich habe nie am Bau gearbeitet. Da erfinde ich doch lieber eine Krankenschwester; denn damit kenne ich mich aus. Man sollte immer über das schreiben, wovon man Ahnung hat. Vom meisten hat man eh keine Ahnung. Nicht mal von dem, wovon man Ahnung hat.

R.: Sie haben acht Jahre als Psychiatriehilfspflegerin gearbeitet. In einer Laudatio von Nike Wagner habe ich gelesen, diese Zeit sei der Antrieb für Ihr Schreiben gewesen, um das, was man nicht fassen kann, das Unerklärliche, erklärbar zu machen.

L.-M.: Hab’ ich mal behauptet, ja. Vielleicht stimmt es sogar. Ich weiß es nicht. Immer, wenn man so gefragt wird, erfindet man natürlich eine Legende zur Legende zur Legende. Wenn man kein Problem mit der real existierenden Wahrheit hätte, würde man ja auch nicht schreiben, sondern am Kneipentisch sitzen und sich für eine gute Story Biere spendieren lassen.

R.: Wie sehr hat Sie die Zeit in der Klinik tatsächlich zum Schreiben bewogen?

L.-M.: Ich weiß es nicht genau. Einerseits war ich natürlich sehr beeindruckt von dem dort Geschehenen. Andererseits hatte ich wenige Gesprächspartner. Mit einer anderen Krankenschwester kannst du über den Scheiß nicht reden. Und wenn man mal zusammen Tanzen war – man war ja noch jung und knackig – und einer forderte dich auf und fragte: „Na, und was machst du so?“, und du sagtest, „na ja, Psychiatriekrankenschwester“, dann hatte der plötzlich gesplittertes Gletschereis im Blick und murmelte: „War nett, Sie kennenzulernen“ und machte auf dem Absatz kehrt. Also dort konntest du dein Herz auch nicht ausschütten. Und irgendwo musst du ja hin mit dem Erlebten. – Kein Mensch, der was von der Materie versteht, wird es leugnen und selbst wenn er’s tut, weiß er insgeheim, dass es stimmt: Die Anfänge sind immer autotherapeutisch beim Schreiben. Immer. Ob das fruchtet oder nicht, ob es was nützt, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Und dieses Blatt beschreibt der Autor in der Regel nicht selbst. R.: Zum Anfang und zum Schluss bei Geschichten: Es gibt Autoren, die mir erzählt haben, sie könnten mit einem Text nur anfangen, wenn sie den Schluss schon kennen.

L.-M.: Ja, zu denen gehöre ich natürlich. Die Autorin, die Ihnen das erzählt hat, war wahrscheinlich ich! Du kannst Erzählungen nicht ins Blaue hinein schreiben. Du musst den Schluss kennen, sonst fehlt von Anfang an der Sog. Eine Erzählung hat ja eine ganz andere Oberflächenspannung. Je weniger Wörter ein Text hat, desto wichtiger ist jedes einzelne. Desto mehr kannst du dich am Schluss noch an den Anfang erinnern, und das ergibt insgesamt eben eine andere Oberflächenspannung.

R.: Die Autoren, die sagen, sie lassen sich von Satz zu Satz treiben, sie lassen sich von ihren Figuren an die Hand nehmen, sind dann ausschließlich Romanautoren?

L.-M.: Bei Romanen kann das schon passieren, dass du dir sagst: Ach ja, jetzt schreib ich mal einen Satz, mal sehen, welcher Satz sich als nächster zu Wort meldet. Aber meine Methode ist das nicht, nicht mal beim Roman. Der Schluss ist ja nichts anderes als der reziproke Anfang. Wenn du den Grund nicht kennst, kommst du auch nicht an die Oberfläche, oder anders gesagt: Wenn du das andere Ufer nicht zumindest ahnst, schwimmst du gar nicht erst los. Alles andere ist in meinen Augen Quatsch, außerdem ist es spannungsfeindlich. Und ohne Spannung verlierst du den Leser. Der sagt dann: „Ach, noch ne Beschreibung von einem Esstisch mit einer ungebügelten Decke drauf, das halt ich nicht mehr aus“ und schmeißt das Buch in die Ecke. Kann er ja machen, will aber der Autor in der Regel nicht.

R.: Wie ist beim Schreiben das Verhältnis zwischen Lügen und Wahrheit?

L.-M.: Brecht hat das Zeigen seiner dramaturgischen Mittel zur Methode erklärt, das war dann auch wieder ein Fehler. Soll man nie machen. Man soll nicht vor Publikum mit den Instrumenten jonglieren. Aber klar ist es so, dass du eine Wirklichkeit simulierst, die in keiner Wirklichkeit der Welt geerdet ist. Das hat Schreiben mit dem Lügen gemeinsam, bei beidem musst du überzeugend sein. Du kannst nicht gut lügen, ohne dich diverser Wahrheitspartikel zu bedienen. Man kann auch den alten Spruch von Adorno aus der Mottenkiste holen: Die Wahrheit lässt sich auch lügen. Am schönsten hat es immer noch Tucholsky gesagt in seinem Gedicht Zwei Seelen. Da heißt es in einer Stelle: „Sogar wenn er lügt, lügt er“. Das ist natürlich nicht zu toppen!

R.: Sie verwenden ja statt wahr lieber das Wort wahrhaftig.

L.-M.: Es gibt immer unterschiedliche Wahrheiten, die in unterschiedlichem Ausmaß wahr sind, aber du kannst sie nur in eine Wahrhaftigkeit überführen. Und das ist der Prozess des Schreibens. Die Herstellung der Wahrheit mit den Mitteln der Lüge. Oder die Herstellung der Lüge mit den Mitteln der Wahrheit, und in dem Falle nennt man die Lüge Wahrhaftigkeit.

R.: In Ihren Texten spürt man, dass sie perfekt recherchiert sind. So spielt etwa Ihr Roman „Die Letzten“ im Schriftsetzer-Milieu.

L.-M.: Ja, den Beruf habe ich gelernt. Ich arbeitete in einer kleinen Druckerei, die entstand, weil in der DDR – wegen verschiedener Versorgungsengpässe – Privatwirtschaft im kleinen Rahmen wieder erlaubt wurde. Das ist ein bisschen so, wie wenn du den heutigen Elefanten mit Erbgut vom Mammut kreuzt. Die Rückkehr des Kapitalismus in den real existierenden Sozialismus war somit auch der Anfang vom Ende.

R.: Im Herbst erscheint Ihr neuer Roman mit dem Titel „Drehtür“.

L.-M.: Und bevor ich angefangen habe, diesen Roman zu schreiben, da plagte mich ein Traum. Eines Nachts saß ich senkrecht im Bett, mit gesträubtem Nackenhaar, weil ich geträumt hatte, dass ich vergessen hätte, im Krankenhaus zu kündigen und trotzdem nicht zum Dienst erschienen war. Irgendwas war mir also vollkommen entglitten. Meine Anwesenheit dort auf Station wäre aber zwingend nötig gewesen. Im Traum grübelte ich nun herum, wie ich mir jetzt Einlass ins Krankenhaus verschaffen könnte, aber undercover, und wie ich es hinkriegen könnte zu kündigen, ohne noch in Kontakt mit irgendjemandem dort zu treten. Und davon wachte ich auf und fragte mich: Wie wäre mein Leben weitergegangen, wenn ich nicht angefangen hätte zu schreiben, sondern Krankenschwester geblieben wäre? Und schon hatte ich das Setting für den nächsten Roman.

R.: Also schreiben Sie doch autobiographisch?

L.-M.: Ja und nein. So ist es doch mit der Literatur, du erlebst ja kaum mal eine Situation – schon gar nicht eine existenzielle – bis zum Ende. Oft verlässt man Situationen, aus Angst oder weil man schon ahnt, wenn man da jetzt nicht die Flucht ergreift oder sich anderweitig verpisst, dann wird das womöglich eine Never-Ending-Story. Und da wir ja alle eine biologische Verfallszeit haben, geht man manchmal stiften. Man haut einfach ab und sagt sich, egal wie’s ausgeht, ich will nicht mehr dabei sein. Und Jahre später denkst du dir: Okay, wenn ich nicht abgehauen wäre, wie wär’s denn weitergegangen?

R.: In Ihrem ersten Erzählband taucht die Mongolei auf, sonst nie. Sie haben eine Zeit dort verbringen müssen. Stiften gegangen?

L.-M.: Na ja, nicht wirklich. Wenn ich davon richtig schreiben wollte, müsste ich noch einmal hin, und dagegen sträubt sich alles in mir. Man kann von einer Gegend eigentlich nur schreiben, wenn man entweder nur kurz da war oder länger als ein Jahr. Genau ein Jahr ist eine ganz schlechte Zeit, weil du dann schon ahnst, dass du nicht wirklich etwas weißt von dem, was da abgeht, dass du noch zwei Jahre bleiben müsstest, um wenigstens die Sachen zu kapieren, die in der Epidermis vorkommen – bis auf die Knochenhaut dringst du eh nicht durch. Dazu müsstest du dich zwingen, das noch einmal zu machen. Das wäre Recherche am offenen Herzen, sozusagen. Aber ich will dort partout nicht noch mal hin.

R.: Wie hat es Sie dorthin verschlagen und wie kamen Sie zurück?

L.-M.: Von der Geschichte, wie ich zurückgekommen bin, gibt es ein paar Varianten, ich weiß mitunter selbst nicht mehr, was nun wirklich passiert und was in meiner Phantasie dazugekommen ist. Die Sache mit dem Hinkommen ist klar. Ich studierte noch am Literaturinstitut in Leipzig, und da seinerzeit eine Hochschulreform die nächste jagte und immerfort irgendwelche Hochschulrahmengesetze neu erfunden wurden, lautete eins davon, dass nunmehr auch die Absolventen von Kunsthochschulen ihr Praktikum in der sozialistischen Produktion zu absolvieren hätten. Du kriegtest dein Diplom nicht, bevor du nicht deine drei Monate abgedient hattest, hieß es.

R.: Sozialistische Produktion gab’s doch auch zu Hause oder in Ungarn, der Tschechoslowakei oder Polen. Warum mussten Sie in die Mongolei?

L.-M.: Am Ende des Studiums musste man sowieso für wenig Geld ein dreimonatiges Praktikum absolvieren. Es fehlte hinten und vorne an Arbeitskräften und man dachte sich, bevor wir die Studenten für immer in die intellektuellen und damit wenig produktiven Sphären ihres Lebens entlassen, müssen die noch drei Monate was tun. So weit so gut, hat ja auch keinem geschadet.
Kurz bevor es so weit war, kam eine Kommission ins Leipziger Literaturinstitut und sagte, man habe sich überlegt, dass es auch unter den Absolventen der Kunstschulen Leute gebe, die ordentliche Berufe erlernt hätten, die nicht gleich nach dem Abitur angefangen haben, Malerei, Schauspiel oder Literatur zu studieren. Diese Spitzenkräfte sollten ihr Praktikum in einem befreundeten sozialistischen Land absolvieren, welches – na ja – noch nicht so hoch entwickelt sei, wie die Deutsche Demokratische Republik. Und dann war von Angola die Rede und von Kuba, nicht mit einem Wort von der Mongolei. Angola oder Kuba, dachte ich, why not? Die ließen mich irgendwas unterschreiben. Dann ging das Studium weiter. Mit Ach und Krach verfasste ich schließlich meine Diplomarbeit über die Berliner Expressionisten, bestand sogar und fuhr in die Ferien. Ich hatte völlig vergessen, dass ich irgendwann mal zugesagt hatte, mein Praktikum … Plötzlich kam ein Brief, dass ich mein Praktikum anzutreten hätte, nicht nur für drei Monate, sondern für ein halbes Jahr, weniger würde sich für die Genossen hinterm Kaukasus gar nicht lohnen.
Ich hatte mich grade frisch verliebt – weiß jetzt gar nicht mehr, in wen, spielt auch keine Rolle … – jedenfalls hatte ich überhaupt keinen Bock darauf, ein halbes Jahr zu entschwinden und auch nicht den Schimmer einer Ahnung, was das sein soll, die Mongolei. Ich war ja eher auf Angola oder Kuba fixiert gewesen. Am Globus suchte ich das Land und ich las, dass es dort sehr kalt ist, aber trotzdem Kamele gibt; das fand ich ziemlich widersprüchlich. Und dann schrieb ich zurück, dass von der Mongolei und einem halben Jahr nie die Rede gewesen sei. Erneut erhielt ich einen Brief, zwei dürre Zeilen: Ich solle mich am soundsovielten da und dort einfinden, um Genaueres zum Praktikum zu erfahren und mein Ticket in Empfang zu nehmen. Und dann hätte ich mich gefälligst in die Mongolei zu verfügen, ansonsten bekäme ich kein Diplom. Bei dem anberaumten Termin hieß es, es würde wohl eher ein Dreivierteljahr werden. Ich war völlig von den Socken. Wieso jetzt ein Dreivierteljahr? Antwort: Schreiben können Sie doch überall! Dafür müssen Sie nicht in Berlin sein.

R.: Und die Druckerei, in der Sie praktizieren sollten?

L.-M.: Von der war nichts zu sehen, nicht mal der Grundstein war gelegt. In die damaligen Landkarten der Mongolei waren auch drei Stauseen eingezeichnet, die nicht existierten. In der DDR-Botschaft meinte man: Wir haben hier zwei Produktionsbetriebe, die mit Mitteln der DDR errichtet worden sind. Sie dürfen sich entscheiden, entweder die Teppichfabrik Wilhelm Pieck oder das Fleischkombinat Ernst Thälmann. Ich war ja schon froh, wenigstens die Wahl zwischen einer Teppichbude und einem Schlachthof zu haben. Logisch, dass ich die Teppichfabrik genommen habe.
Außerdem gab es noch die Schnapsfabrik Julius Fučík, benannt nach dem größten tschechischen Kommunisten. Ich kam aus der DDR und hätte schlecht in der tschechoslowakischen Schnapsfabrik arbeiten können. Also musste ich in die Fransenbude. Dort arbeiteten sie an über drei Meter hohen Doppelteppich-Jacquard-Webstühlen, eine französische Technologie. Über die Webstühle liefen gelochte, aneinandergeheftete Karten und wo jeweils ein Loch war, fuhren die Nadeln durch, wo keins war, wurden sie gestoppt. So entstand das Teppichmuster. Diese Karten wurden geschlagen, auf einer Maschine, die der Linotype ähnelte, also einer Setzmaschine. Nur dass dort auf der Tastatur keine Buchstaben waren, sondern Farben. Statt eines Manuskripts hattest du das Teppichmuster vor dir. Das war sehr nah an meinem früheren Beruf als Schriftsetzerin dran. Ich war also gar nicht so unnütz in der Kartenschlägerei, hab auch ein bisschen Mongolisch gelernt.

R.: Konnten Sie sich nicht auf Russisch verständigen?

L.-M.: Die Mongolen hatten zwar alle Russisch in der Schule, wollten diese Sprache aber partout nicht sprechen, das war ja die Sprache der Besatzer. Die Russen haben sich da wirklich benommen wie Kolonialisten.
Ich hab’ mich lieber mit den Polen angefreundet. Polen konnten ja, im Unterschied zu DDR-Bürgern, überallhin reisen. Wir haben angefangen, Schnaps zu brennen, unter Zuhilfenahme einer ausgeklügelten, selbstgebastelten Kühlschlange, die aus den Glaskörpern aneinandergeschmolzener Glühbirnen bestand – wirklich eine tolle polnische Technologie. Die Maische kam in tschechische Oberlader-Waschmaschinen, die mit einer Abzugshaube bestückt waren. Wir hatten natürlich keine guten Materialien für die Maische, nur Reis oder Weißbrot, manchmal Kartoffeln aus der Sowjetunion. Brennen ist immer eine delikate Sache; du musst aufpassen, dass du keinen Methylalkohol fabrizierst. Es gibt den berühmten Test: Du lässt den ersten Tropfen auf eine Untertasse fallen, trägst sie in einen stockdusteren Raum, zündest das Ganze an, und wenn’s mit klarer blauer Flamme verbrennt, ohne gelben Rand, dann ist das Zeug trinkbar. Wehe aber du nimmst einen gelben Rand wahr, dann hast du Methylalkohol. Falls du den trinkst, wird es wirklich finster. Entweder du stirbst gleich daran oder du erblindest. Irgendwie waren die Polen nicht blöd und unser Schnaps erwies sich als prima Handelsgut. – Ich sag’s Ihnen, wenn Sie aufgefordert werden, auf eine einsame Insel zu ziehen, um dort das Überleben zu üben, und Sie noch drei Leute mitnehmen dürfen, dann sorgen Sie dafür, das zwei von denen Polen sind.

R.: Wie kamen denn die Polen nach Ulan Bator?

L.-M.: Die Polen sollten dort ein Elektrizitätswerk errichten. Das war mit großen Schwierigkeiten verbunden, weil u. a. der Mongole als solcher den rechten Winkel nicht akzeptiert, für den muss alles rund sein. In Polen war außerdem gerade Solidarność am Gipfel der Bewegung, und darum streckten die Polen ihren Aufenthalt in der Mongolei ein wenig. Sie waren auch besser versorgt als wir, und ich hatte mich besonders mit einem dieser Polen sehr angefreundet. Wir wurden so eine Art notgemeinschaftliches Paar, von Kochen bis Beischlaf war alles dabei. Und das war auch wichtig, man brauchte jemanden, sonst wär’ man untergegangen.
Eines Tages hatten wir wieder mit großem Erfolg viel Schnaps gebrannt und mit diesem wurde wie folgt umgegangen: Ein Liter 90%iger Alkohol – aus drei Eimern ungeschälten, rohen Kartoffeln gewonnen – wurde auf zwei, drei leere Flaschen verteilt, immer ungefähr die halbe Flasche mit Alkohol, dann Wasser dazu, und dann nahm man ein Stück mongolischen Weißbrots, höhlte es aus, tränkte es mit Schnaps, füllte Zucker in die Vertiefung und zündete das Ganze an. Dann ließ man die schwarz verbrannten Perlen aus Zucker und Stärke in den Alkohol tropfen, füllte mit Wasser auf und schüttelte zuletzt die Flaschen durch.

R.: Was sollte das bringen?

L.-M.: Tja, die Sache färbte sich bräunlich, schmeckte ein bisschen verkohlt und ein bisschen süß. Und mit fest geschlossenen Augen und halbbetäubtem Gaumen erinnerte das Gesöff sehr entfernt an Cognac. Davon hatten wir 10 Flaschen erzeugt. Wir konnten sämtliche polnischen Kumpels kommen lassen, es reichte für alle.

R.: Und dann kam die Sache mit der Zugkontrolle?

L.-M.: Ja, die Polen hatten sich vorgenommen, nach Peking zu fahren. Und du musst dir nur die Landkarte angucken, wo Ulan Bator und wo Peking liegt. Peking ist nicht weit. Zu der Zeit fuhr aber ein Zug nur bis Irkutsk, dort musste man umsteigen. Bis dahin war das schon eine Reise von zehn Stunden, natürlich nur, weil der Zug an jeder Jurte und jeder Milchkanne hielt, obwohl er Express hieß. Ich jammerte rum – wir waren ja alle recht betrunken von dem selbstgebrannten Zeug: „Ich will aber auch nach Peking!“ Eine Frau, eine Ingenieurin aus Erdenet, knallte mir ihren polnischen Pass hin und meinte: „Na fahr doch! Ich habe sowieso keine Lust.“ Wir waren ungefähr im selben Alter, beide Langnasen, schwarz-weiß-Fotos … Ging sich aus. Am nächsten Tag sind eigentlich nur Staschek, mein Pole, und ich los. Wir haben uns aus den Resten des Festes erhoben und uns zum Bahnhof geschleppt. Klar wurden wir beobachtet, zwei Ausländer, die in den Zug stiegen. Und klar sind wir sofort im Zug eingeschlafen. Irgendwann, irgendwo wurden wir unsanft wachgerüttelt. Es stand eine mongolische Militärstreife vor uns und verlangte die Papiere. Ich hatte nur diesen polnischen Pass mit. Staschek ließen sie sitzen. Mich aber verluden sie in ihren Jeep und brachten mich zurück nach Ulan Bator in die DDR-Botschaft. Dort kriegte ich, zum ersten Mal seit fast einer Ewigkeit, Wiener Würstchen zu essen. War eine super Gefangenschaft in der DDR-Botschaft. Richtig klasse! Eine Woche drauf haben sie mich mit dem Postkurier zurück in die DDR geschickt – in Handschellen!

R.: Etwas übertrieben?

L.-M.: Na ja, was ich gemacht hatte, war nach den Gesetzen der DDR ein Gesetzesverstoß. Die glaubten mir nicht, dass ich mir nur Peking angucken und dann zurückkommen wollte. Die meinten, dass ich mich dort gleich auf der bundesrepublikanischen Botschaft melden wollte. Da hab ich ihnen gesagt: „Wenn ich das vorgehabt hätte, hätt’ ich doch meinen DDR-Pass mitgenommen.“ „Ach“, erwiderten die, „das hätte sich aus der Gelegenheit ergeben“. Was ja auch stimmte. Wenn ich bis Peking gekommen wäre, wer weiß, vielleicht hätte ich’s so gemacht.

R.: Wie war’s dann in der DDR?

L.-M.: In der DDR haben sie mich einbestellt ins Ministerium. Dort meinten sie: „Na, Sie haben aber eine schöne Scheiße gebaut. Wir ermöglichen Ihnen diesen großartigen Aufenthalt in der Mongolei …“ Ich darauf: „Warum sind Sie denn nicht selbst hingefahren, wenn’s dort so großartig ist?“ Dass der Anschlag auf meine physische Unversehrtheit misslungen ist, das verdanke ich nur meinen Überlebensinstinkten.

R.: Sie haben später Einsicht in Ihre Stasi-Akten genommen, haben Sie dazu etwas gefunden?

L.-M.: Klar war das ein Stasi-Ding! Die wollten mich ein Stück weit weg haben – mit dem Hintergedanken: Vielleicht bleibt sie ja dort oder verguckt sich in einen mongolischen Schafzüchter.

R.: Da stand doch noch mehr in Ihren Akten …

L.-M.: Ja, natürlich! Meine Mutter war damals doch ein Mitglied der Regierung. Sie hatte die ganze Nummer womöglich eingefädelt. Wir haben, nachdem ich die Biermann-Petition unterschrieben hatte, kein Wort mehr miteinander geredet. Und irgendwie hatte sie wohl auch Angst, dass ich ihrer Karriere noch mehr schaden könnte. Ich vermute mal, dass sie’s eingefädelt hat, weiß es aber nicht definitiv. Wir haben bis zu ihrem Tod nie wieder miteinander gesprochen.

R.: Sie hat es aber zumindest nicht verhindert, denn wissen musste sie es ja.

L.-M.: Die hat das nicht nur nicht verhindert, die war sicherlich sehr dafür!
(Pause)

R.: Noch mal zurück in die Mongolei. Fast wären Sie dort gestorben.

L.-M.: O ja, das war mit den DDR-Spezialisten! Zwei von uns waren vom VEB Halbmond, einem Betrieb im sächsischen Wurzen, der Teppiche aus Textilfasern produzierte, und einer war ein Elektriker aus Berlin, zuständig für die Wartung der Maschinen. Und ich war halt die Praktikantin, die eine gewisse Ahnung von Linotyps hatte. War eine harte Zeit. Wir haben uns gegenseitig die faulen Backenzähne mit der Rohrzange gezogen. Du bekamst von dieser DDR-Botschaft nicht mal Tabletten oder eine alte Zeitung.

R.: Die Zahnärzte sind wohl nach Angola und nach Kuba?

L.-M.: In der Mongolei gab es jedenfalls keine Zahnärzte. Deshalb war Angina Pectoris auch die Volkskrankheit Nr. 1.

R.: Aber an der sind Sie nicht beinahe gestorben.

L.-M.: Nein. Das war auf dem Weg zur Arbeit. Weil wir ja nicht alle im selben Haus wohnten, wurden wir jeden Morgen eingesammelt und mit einem kleinen, werkseigenen Barkas zur Teppichfabrik gebracht. Eines Morgens brauchte der Wagen dringend Benzin, dabei ereignete sich die Episode an der Tankstelle: Wir standen an einer Zapfsäule, an der Nebenzapfstelle sah ich einen Mongolen, der eine Zigarette rauchte, während er Benzin in einen Eimer laufen ließ und mit dem Tankwart plauderte. Und dabei hing ihm ganz easy diese locker gestopfte mongolische Kippe im Mundwinkel. Ich sagte zu Kurt, einem vom VEB Halbmond, nur: Leg den Zapfhahn weg, setz dich ans Steuer und lass uns abhauen, sofort. Ich muss das so gesagt haben, dass er gemerkt hat, es ist ernst. Wir waren keine 150 Meter weg, da knallte es schon hinter uns, und die Tankstelle flog in die Luft.

 

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