zurück zur Startseite

Fliehe, Flieder, fliehe!

Esther Strauß, aus dem Tiroler Dada-Dorf Tarrenz stammende Autorin und Bildende Künstlerin, sprach im Auftrag von Quart mit Menschen, die in sogenannten roten Zonen wohnen, in Gebieten also, in denen auf Grund erhöhter Katastrophengefahr nicht gebaut werden dürfte. Auf diese Weise entstand ein ungewöhnliches Porträt:

Jakob wohnt in einem Dorf, das jenseits aller Namen liegt. Dort neigt sich sein Haus frei abfallenden Wiesen zu. Früher hat Jakob als Maurer gearbeitet. Heute lebt er in der Stille, die ihm seine verstorbene Frau hinterlassen hat. Weil Jakob jeden seiner Schritte hören kann, hat er begonnen, sie zu zählen.
Wenn Jakob vom Erwachen spricht, stellt er jedem Satz eine Pause voran, legt den Kopf schief und schaut nach oben. „Wenn ich wach werde, dann liege ich unter Steinen“, sagt er schließlich. Jakob ist ein Verschütteter. Er erzählt von einer Last, die er jeden Morgen spürt, die ihn aufweckt, die auf seine Brust drückt, deren Gewicht seinen Mut über Nacht erstarren lässt. Um gegen diese Last aufzustehen, um aus seinem Bett herauszukommen, stellt Jakob sich seine Last als Steine vor, die er vielleicht mit den Händen fassen und von seinem Körper schieben kann. Zählt Jakob seine Steine?
Der größte seiner Steine muss etwa 40 Zentimeter lang sein, vom Bach geschliffen, kalt. Es ist der Stein, gegen den Jakob jeden Morgen Atem holt, der die Brust über seinem alten Herz zusammendrückt. Es muss aber auch grobe Kiesel geben, die ihm in der Wärme des Schlafs die Zehen krümmen, die seine Arme und Beine in eigenartige Winkel spreizen, die als Geschiebe seine Glieder verdrehen. Manchmal untersucht Jakob seinen Körper nach dem Aufwachen auf Druckstellen, sucht nach Blut, das unter der Haut als Überschwemmung aus geplatzten Adern tritt.
In Jakobs Dorf sind es gleich mehrere Häuser, die in der roten Zone stehen. Keines von ihnen ist bisher von einer Mure ergriffen worden, keines wurde geflutet, zerrissen, vom Geschiebe gepackt. Aber es gibt sie im Tal, die Beweise einer anderen Zeit, die die Geologie die stummen Zeugen nennt. Sie sind die Narben einer einst verwüsteten Landschaft, sie sind das letzte Zeichen, das eine Naturkatastrophe im Gelände hinterlässt. Anschlagmarken etwa, mit denen ein Hochwasser Bäume versieht, oder auch Schuttwülste, die am Rande eines Murganges hochsteigen, Levées genannt.

Wer in der Chronik sucht, wird auch die Verletzungen des alten Dorfes aufgezeichnet finden; Fotos von gespaltenen Fassaden in Schwarzweiß, von längst verschwundenen Häusern, denen Fels und Schwemmholz bis unter die Giebel gefahren sind. Was fehlt sind Bilder der Menschen, die die Mure damals fortgerissen hat. Als wäre es zu erschreckend, an ihren Körpern die Spuren jener Kraft zu zeigen, die bei jedem echten Überfall gewaltsam in eine Ordnung tritt.
„Die, von denen der Körper verschüttet wird, sterben als Menschen“, sagt Jakob, „die, von denen die Seele verschüttet wird, leben als Geister.“ Er schaut sich Fotos von zermalmten Häusern an, legt die Finger auf Löcher, Risse und Lücken, die zurückbleiben, wenn ganze Teile eines Gebäudes abgerissen sind. Beneidet Jakob die Häuser um ihre offenen Wunden? Es habe nie jemand bemerkt, dass er verschüttet worden sei; so habe sich nie jemand aufmachen können, um ihn zu finden. Und ja! Er fühle sich wie ein Geist, sagt Jakob, und habe sich auch damit abgefunden, einer zu sein. Wenn der Geist Jakob einem Menschen die Hand gibt, dann hält er sie einen Moment länger als üblich fest, dann versucht er dem Menschen in die Augen und auf ihren Grund zu schauen, will erkennen, ob seine Hand die Hand eines anderen Verschütteten hält.

Während Jakob die Verschütteten der Gegenwart aufspürt, kümmert sich das BMLFUW (Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft) um die Verschütteten der Zukunft. Das Ministerium versucht vorherzusehen, wann und wie eine Landschaft in Aufruhr gerät, um ihre Kräfte umzuleiten oder zu zähmen. Seine Mitarbeiter berechnen und schätzen die Wahrscheinlichkeit und Form eines zukünftigen Unglücks; sie bewerten das Ausmaß von Katastrophen, die noch nicht geschehen sind, um sie vielleicht zu verhindern.
Auch wenn ihre Analyse nur eine Annäherung an eine mögliche Zukunft ist, muss sie doch in einen Plan gefasst fasst werden, der den Grad der Gefährdung eines Gebiets parzellenscharf darstellt. Da wird Tirol in neue Landesfarben gelegt, da werden über alle Grundstücksgrenzen hinweg rote und gelbe Zonen erdacht und von blauen, braunen und violetten Arealen flankiert. Rote und gelbe Flächen sieht das Ministerium im Falle einer Katastrophe akut bedroht. In der roten Zone gilt Neubauverbot, während das Bauen in der gelben Zone eingeschränkt und bei Erfüllung aller Auflagen genehmigt ist. Die braun markierten Bereiche weisen auf Gefahr durch andere Naturereignisse hin; das können Rutschungen oder Steinschläge sein, für die es in vielen Gemeinden keinen eigenen Gefahrenzonenplan gibt. Die blauen und violetten Bereiche sind nicht der Katastrophe, sondern ihrer Prävention gewidmet. Blaue Flächen sind für etwaige Schutzbauten gedacht, violette Flächen stellen einen natürlichen Schutz bereit, der vor Veränderung bewahrt werden soll. Gibt es einen solchen Plan auch für Jakob? Wurde Jakob kartographiert?
Wenn der Gefahrenzonenplan die Summe aller möglichen Ereignisse und damit die Summe aller möglichen Gefährdungen darstellt, dann muss es im BMLFUW, das sich auch Ministerium für ein lebenswertes Österreich nennt, in der Stabsstelle für unberechenbare Gefahr eine geheime Kammer geben, in der die Abteilung XVII / 4 für Zukunft und Melancholie tätig ist. Dort liegt auf einem hinterleuchteten Zeichentisch der lebendige Jakob bereit, über den sich Fachkundige aller Art beugen, um sein Unglück zu studieren.
Sie werten Jakobs Sorgenfalten auf vergangene Verletzungen hin aus, vermessen und wiegen die Trümmer auf Jakobs Brust. Wird es dem Ministerium gelingen, das Extrapolieren auf die Tiroler Seele hin? Nach eingehender Prüfung der Ergebnisse durch eine vierköpfige Kommission, bestehend aus Experten und Vertretern von Bund und Land, tritt schließlich eine Beamtin auf, die in Gutachten spricht: „Meine Empfehlung, Herr Jakob, lautet: sich in Ihrer Heimat so und so und so und speziell in dieser Art und Weise hier und da und dort nicht länger aufzuhalten.“ Denn wie hätte es auch aussehen sollen, das Bollwerk, das Jakobs Leib und Leben vor unsichtbaren Steinen schützt?

An manchen Tagen hat Jakobs Panik einen punktförmigen Anriss und läuft als Delta der Talsohle zu.
„I kånn / I kånn / I kånn nimma
                                           aa
                                            aaa
                                       aaaaaaa
                                   aaaaaaaaaa
                               aaaaaaaaaaaaaa
                           aaaaaaaaaaaaaaaaaa
                        aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                      aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                        aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                          aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                           aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                        aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                      aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
                  aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
            aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
       aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
    aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
  aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
    aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
      aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
        aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
        aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
       aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
      aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
    aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
  aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa

Später, wenn sich kein heimlicher Schrei mehr im Inneren von Jakob bricht, kriecht eine Lähmung in ihm voran, die alles, was sich regt, zum Stillstand bringt. „Ich bin mir manchmal sicher, schon fast vollständig verschwunden zu sein“, sagt Jakob; so als wäre das, was Jakob ist, auf einer kleinen Lichtung zusammengedrängt, als wäre er aus dem Alltag, den sein Körper aus Gewohnheit aufrechterhält, vertrieben. Dann sehnt Jakob den raschen Absturz herbei, wünscht sich den Steinschlag, den Bergsturz, den Alpenkollaps.
Dieser Mann im Steilhang – kann das tatsächlich Jakob sein? Ein Mann, der bebt, der schreit, der etwas mit sich reißen muss. Der sich wie ein Gewitter in die Steine drängt, sie über die Kante schlägt, ihnen Geschwindigkeit gibt, sie ins Tal springen lässt. Ein Mann, der jetzt auf Schaden hofft, der nicht nur schwer, sondern vernichtend ist, den erst kurz vorm Einschlag seine letzte Zuversicht triff, der zuckt, der flüstert und der Mure nachrennt: „Fliehe, Flieder, fliehe!“
Gelegentlich aber gelingt es Jakob, schneller als seine Lähmung zu sein. Dann springt er noch halb im Schlaf wie ein Wahnsinniger aus seinem Bett heraus, läuft in den Wald und seiner Last davon. Dort flieht er weiter, der Steigung entlang, bis ihm das Ende des Berges die Rast aufzwingt. Dann sitzt Jakob da, wo der Grat den Himmel trifft, will ein Lebenszeichen senden, ohne zu wissen, an wen. Gibt es denn im Ministerium einen, der für Verschüttete zuständig ist? Für die Stille, die sich einstellt, in einer Blase aus Luft, die ihre Zeit bemisst? Ist da ein Mensch, der diese letzten Züge aufnimmt, archiviert und schließlich vergisst?
Im Ministerium modelliert man die Wirklichkeit, übersetzt in Zahlen, was nicht in Zahlen zu übersetzen ist. Man skizziert die Berge, fängt den Niederschlag in Datenreihen ein, reist in der Zeit voran und zurück. Die roten Zonen blühen dem jeweiligen Modell hinterher, breiten sich aus oder schrumpfen sich klein. In Österreich zieht man zu ihrer Errechnung eine Katastrophe von einem Ausmaß heran, wie sie im Schnitt nur alle 150 Jahre in die roten Zonen einfällt. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Unglück nach Maß liegt jedes Jahr aufs Neue bei 0,67 %, wobei die 6 als periodische Lawine gegen unendlich rennt. Was tut man also angesichts einer Katastrophe, die nicht wahrscheinlich, aber möglich ist? Was tun, mit diesem unseligen Unglück, das jeder fürchtet, aber keiner garantieren kann?

Eine Katastrophe, die auf Jakobs Heim hereinbricht, vernichtet nichts, was für den Geist Jakob wichtig ist. So stellt er seinen Besitz der Mure als Opfer bereit. Jakob, bist du dem Unglück geweiht? Jakobs Leben, als Rechnung erkannt:
1 einsame Katze
2 Obstbäume ohne Frucht
1 Tagebuch (Mama)
die Kleider von Hannah
plus minus 1 nie geborenes Kind

Und Jakob? Jakob stellt seinem Leben eine Regel voran und zählt, was man als Mensch zählen kann. So führt ihn + 1 auf einer Geraden entlang und durch sein Haus; so zählt sich Jakob aus sich selbst heraus. Jakob. Jaaaaaaaaaakob!
Manchmal geht Jakob am Hangrutsch spazieren, bleibt stehen und sieht sich die Abbruchkanten an. Was führt diesen einen Moment herbei, in dem eine Bewegung in ihren Anfang springt, eine Landschaft in ihre Teile zerbricht? Jakob stellt sich den Regen vor; den Schauer, den Sturzbach, die Flut. Wasser, das aus dem Himmel schießt und die mageren Wiesen tränkt, das anschwillt, lockert und zieht, bis das Gefüge aufgibt und das Rutschen beginnt. Ja, ein Stoß noch! Dann nimmt er Reißaus, der Berg! Dann stürzt er hinab bis ins Tal.

Aber er kommt nicht, der Regen, er weigert sich. Und Jakobs Steine bleiben, bestehen ohne Mitleid auf ihrem Gewicht, sind ihm die Last, die er weder tragen noch erschüttern kann. Also sitzt er am Waldrand und übt das Weinen, damit es seinen dumpfen, schweren Missmut küsst. An einen Baum gelehnt sehnt er sich eine Knospe herbei, die im Hals aufquillt, die in den Augen brennt, die sich dick und satt ins Leben drängt, bis sie so voll ist, dass sie sich lösen muss,
                                                              ,  ,
                                                         ,   ,   ,
                                                 ,   ,   ,
                                         ,      ,                ,
                                      ,                   ,
                           ,      ,          ,
                                     ,                    ,
                                         ,

Regnet es, Jakob, in deinem Geistergesicht?

Nein, Jakob, Geister weinen nicht!
Das sagt der ministeriale Gespensterbericht.

Also rührt sich Jakob den Mörtel an, um zu sehen, was er aus seinem Unglück mauern kann. Er gräbt Steine aus den Wiesen aus, setzt einen Grundriss und für die Fenster ein Licht. Jakob, du alter, verschütteter Mann, bist du einer, der trotz allem leben kann?

          Jakob.
          Jakob!

          Jakob, du bist mehr,
     als die Summe deiner Steine.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.