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Satzspiegel*
von Milo Rau

Rolf Bossart: Eine Eigenheit deiner Projekte ist es, dass vom Endprodukt aus gesehen nicht auf den Anfang geschlossen werden kann. Aber es scheint, dass trotzdem ein großer Teil der Wirkung deiner Kunst im rätselhaften „ES“ dieses Anfangs steckt. Wie verläuft deine Suche nach Ordnung?
Milo Rau: Ich verfolge meine Ziele mit einer bizarren Beharrlichkeit, die aber grundiert ist von einer totalen Offenheit. Dabei schwanke ich zwischen diktatorischer Pedanterie und einer substanziellen Infragestellung dessen, was ich gerade tue. Das gerade Anstehende, das Aktuelle ist mir immer das Fragwürdigste. Wenn ich Euripides inszenieren soll, dann scheint mir auf einmal Shakespeare interessanter. Wenn ich auf Recherche nach Kurdistan reise, denke ich innerlich an Nordkorea. Das ist der Grund, warum ich für Theater und Film arbeite: Auszuhalten ist das nur, wenn mir die Ursprungserzählung, die Motivation einer Sache rückgespiegelt wird von den Menschen um mich herum.
R. B.: Könnte man sagen, Disziplin ist in deinen Stücken letztlich weniger als Spur der angewandten Disziplinierungs-Methoden erkennbar, sondern viel eher als ein Effekt von anderen Praktiken?
M. R.: Die Frage eines Regisseurs lautet immer: Wie kann man Disziplin, Motivation, Kreativität auslagern? Es gibt ja diesen romantischen Mythos vom kollektiven Arbeiten. Genauer betrachtet, zeigt sich meistens doch nur – metaphorisch gesprochen –, dass Otto Muehl alle anderen terrorisiert hat. Gleichzeitig gilt die alte Mao-Weisheit: Das Kollektiv überprüft uns, nicht wir das Kollektiv. Ich würde ja wahnsinnig werden, wenn ich allein wäre mit meinen Gedanken. Deshalb arbeite ich am liebsten mit Schauspielern, die eigentlich Intellektuelle sind, Künstler, Spezialisten von irgendwas, Leute, die im Rahmen des Projekts mehr Bescheid wissen als ich.
R. B.: Du arbeitest mit professionellen Schauspielern und mit Laien. Wo siehst du die Unterschiede und welche Schlüsse für die Arbeitsweise ergeben sich daraus?
M. R.: Es gibt, wie Ingmar Bergman in seiner Autobiographie schreibt, zwei Arten zu inszenieren: Du fixierst gleich zu Beginn der Proben alles – und dann beginnst du zu improvisieren. Oder du machst es umgekehrt, also du improvisierst und kurz vor der Premiere zurrst du alles fest. Aber Bergman spricht von Schauspielern, die gelernt haben zu improvisieren, die mit Raum und Licht umgehen können und kein Problem damit haben, wenn du erst am Tag vor der Premiere mit der finalen Textfassung ankommst. Ich habe mit einigen der besten Schauspieler gearbeitet, aber zugleich eben auch mit Kindern oder Laien. Das hat bei mir über die Jahre eine Arbeitsweise entwickelt, die eine ständige Überforderung ist: Ich verlange von meinen Spielern, dass sie als sie selbst aber auch als Profi auf der Bühne sind, also ihr gesamtes Wissen zum Einsatz bringen – auch das, was sie nicht können (oder wollen). Schauspieler, die gern mit Gestik und Bewegung arbeiten, setze ich auf einen Stuhl – und plötzlich entdecken sie die innere, zermürbende Wildheit der kreisenden Gedanken, der wir Laien ja hilflos ausgeliefert sind. Von Kindern, die das erste Mal auf der Bühne stehen, fordere ich komplexe Monologe, Emotionen, Küsse, also alles Dinge, die Kindern erstmal unmöglich und unangenehm sind. Von linken Intellektuellen verlange ich, sich ihre politischen Feinde auf offener Bühne vorzunehmen. Und dann geht es los mit der Inszenierung – also damit, diesen Vorgang der Verweigerung und des Durchziehens, diesen strahlenden Untergang gleichzeitig zu verdecken und zu thematisieren.
R. B.: Vor allem bei deinen Erzählstücken wie „The Civil Wars“, „The Dark Ages“ oder „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ macht man immer wieder diese Beobachtung, dass eine Wunde gewissermaßen ständig versteckt und zugleich gezeigt wird – als wäre dies das eigentliche Thema. Woher kommt diese intensive Spannung von Zurückhaltung und Enthusiasmus, von Disziplin und Pathos?
M. R.: Ich hatte im Rahmen der Pariser Gastspiele von „The Dark Ages“ ein langes Gespräch mit französischen Intellektuellen zum Thema der allegorischen Dichtung. Ich bin ein Fan von Baudelaire, diesem großen Allegoriker und ersten Dichter der Moderne, der das kleinbürgerliche romantische Gefühlsdurcheinander in Rhetorik, Stil, Haltung ertränkte – in einer Art existenziellen Contenance, einer Überwindung der Welt der Wehleidigkeit und des Schweißes, wie man sie auch aus der Performance-Kunst der letzten 50 Jahre kennt. Der Künstler beschreibt eine Straße, eine Leiche, ein Konzept und spricht dabei, ohne es mit einem Wort zu erwähnen, von sich selbst. Das ist für mich Theater: Der Mensch findet sich in einem artifiziellen Zusammenhang, der ihm so fremd wie nur irgendwie möglich ist.

— * Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert.
— Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

 

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