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Idee von Natur

Mark Dion hat den Umschlag dieser Ausgabe von Quart und die folgende Bildstrecke (S. 26–41) mit einem unheimlich leuchtenden Kuriositätenkabinett versehen. – Fiona Liewehr über einen großen Nomaden der Kunstwelt, oder: Porträt des Künstlers als Liebhaber von Dingen.

Der amerikanische Künstler Mark Dion befasst sich seit Mitte der 80er Jahre intensiv mit der Geschichte unseres Umgangs mit der Natur und untersucht speziell die Repräsentationen von Natur in den Wissenschaften als Symptome ideologischer Diskurse. Sein Schaffen kreist dabei wesentlich um unsere Vorstellungen von Natur, wie sie sich in den Methoden und Kategorien der Naturkunde manifestiert und letztendlich bis in die Gegenwart hinein in Naturhistorischen Museen in deren Repräsentationskultur niederschlägt. Dabei entwickelte Dion eine eigenwillige künstlerische Methodik, eine gleichsam wissenschaftliche Forschungsarbeit, die gepaart mit seiner großen Sammelleidenschaft und seinen präzisen ökologischen Fragestellungen das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt stets neu thematisiert.

Überall wo Mark Dion künstlerisch auftritt, durchstreift und erforscht er akribisch sein Umfeld, sammelt ortsspezifische Fundstücke, um diese wiederum neu zusammenzustellen und in materialreichen Installationen zu inszenieren. Mark Dion ist ein künstlerischer Nomade, er ist ständig unterwegs. Er erkundet Museen und hinterfragt deren Strukturen, Systeme und Sammlungen, durchstreift die Floh- und Altwarenmärkte auf der Suche nach kulturellen Artefakten, beschäftigt sich vor Ort aber auch mit der Natur im urbanen Raum und collagiert aus verschiedenen Versatzstücken Werke, in denen die Problematik des Gegensatzes von Natur und Zivilisation markant in Erscheinung tritt. Dabei wird Mark Dion oftmals von einem Team aus Künstlern, Assistenten, Fotografen, Dokumentaristen und Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Disziplinen begleitet, auf deren Kollaboration der Künstler besonders dann angewiesen ist, wenn er ausgedehnte Feldforschungen unternimmt. So schlüpft der Künstler – mit der entsprechenden Schutzbekleidung und Gerätschaft ausgerüstet – gelegentlich selbst in die Rolle des Archäologen, um historische Spuren vergangener Jahrhunderte zu Tage zu fördern.

1999 wurde er im Rahmen des Eröffnungsprogrammes der Tate Modern eingeladen, gemeinsam mit einem Team von lokalen Wissenschaftlern und Volontären die Ufer und Schwemmgebiete der Themse vor dem Museum in Bankside und in Millbank gegenüber der Tate Britain zu erforschen. Ziel war es, Londons bewegter Kultur- und Industriegeschichte anhand der im Schlamm und Kies vergrabenen Relikte nachzuspüren. Die Bandbreite der freigelegten Objekte und Fragmente war erstaunlich und reichte von Muschelschalen, Tierzähnen und einem menschlichen Schienbein über Konsumgüter wie Plastikspielzeuge und Schuhe bis hin zu Tonröhren und Töpferwaren. In einem akribischen naturwissenschaftlichen Prozess sammelte, identifizierte, archivierte und ordnete Dion gemeinsam mit seinen Mitarbeitern die Artefakte und Naturalien, um sie in einem extra angefertigten Mahagonischaukasten gemeinsam mit Fotografien der Forschungsgrabung und Aufzeichnungen der Gezeitenströmung zu einer komplexen Installation zu arrangieren. Transferiert in den kunstmusealen Kontext verlieren die Fundstücke einerseits ihre Funktion im Zusammenhang mit ihrem ursprünglichen Vorkommen, werden aber andererseits frei für die kritische Reflexion über Geschichtsschreibung im Allgemeinen und über die menschlichen Überzeugungen, Wünsche und Vorstellungen bezüglich der sozialen Kategorie von „Natur“. „Meine Werke sind nicht über die Natur, sondern über die Idee von Natur“¹, beschrieb Mark Dion einmal seine künstlerische Methodik. Eine individuelle und wiederum zeitspezifische Idee und Anschauung von Natur, denn erst mal als künstlerisches Werk abgeschlossen, dokumentiert, archiviert und in den musealen Kunstkontext eingebunden, fungiert auch Mark Dions Werk wiederum als Zeitkapsel, ist Ausdruck einer persönlichen Sicht des Künstlers basierend auf einem spezifischen Auftrag, den örtlichen Gegebenheiten, technischen Forschungsmethoden und -vorgängen und Umsetzungsmöglichkeiten um die Jahrtausendwende.

Dion arbeitet häufig mit naturkundlichen und naturwissenschaftlichen Institutionen zusammen, glaubt aber, dass die Wissenschaft kein Monopol auf Naturdefinitionen hat. Naturhistorische Museen versteht er als Orte, wo wissenschaftliche Erkenntnisse über die Natur dem Publikum vorgestellt werden können, die Einblicke in die Festschreibungen von Naturgegebenheiten geben können, dem Lauf der Natur aber nie entsprechen können. Seine Kunst illustriert nicht die Wissenschaft, die Philosophie oder sogar Glaubensfragen, aber sie macht Abstraktionen fassbar, die in diesen Disziplinen vorhanden sind, und eröffnet den Spielraum zu neuartigen Interpretationsmöglichkeiten unseres Umgangs mit der Natur, indem er unseren Denkgewohnheiten zuwiderläuft. Mit hintergründigem Humor, philosophischer Schärfe und akribischem Detailreichtum schafft er Assemblagen und Installationen von liebevoller Sinnlichkeit, die faszinieren statt indoktrinieren, die lehrreich sein können, ohne didaktisch zu wirken. So fügte er etwa im Rahmen der documenta 13 der einzigartigen Xylothek von Kassel, die Carl Schildbach Ende des 18. Jahrhunderts angelegt hatte, eine Präsentationsarchitektur hinzu. Die Holzbibliothek, die aus 530 „Büchern“ aus heimischen Baum- und Straucharten besteht, erweiterte er um sechs neue Bücher, deren Hölzer die fehlenden fünf Kontinente repräsentieren. Das sechste Buch aus Eichenholz ist eine Reminiszenz an Joseph Beuys’ Pflanzaktion von 7000 Eichen bei der documenta 7 und 8. Seine Installation stellt nicht den Anspruch an eine naturwissenschaftliche Sammlung. Sie ist – wenn auch enzyklopädisch gedacht – mehr Reflexion über Ordnungs- und Sammelsysteme.

Formal und thematisch interessiert sich Mark Dion häufig für jene historische Übergangsphase im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, in der die subjektiven Ordnungen der Kunst- und Wunderkammern von der heute noch üblichen wissenschaftlichen Ausrichtung der Museen ersetzt wurden. Während die aus den Kuriositätenkabinetten hervorgegangenen europäischen Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barocks Naturalien und Artefakte, Raritäten und Kuriositäten von unterschiedlicher Herkunft und Bestimmung miteinander vereinten, begann mit der Aufklärung und deren neuen Wertmaßstäben von Skeptizismus und Rationalität die Spezialisierung, Systematisierung und Abgrenzung der einzelnen wissenschaftlichen Forschungsdisziplinen.
Dion übernimmt vom Wunderkammer-Ansatz die heterodoxe Sicht auf das Material, die Art und Weise, wie die verschiedensten Disziplinen und Kategorien vereint werden, die unsere Vorstellung von natürlich und künstlich auf den Kopf stellt. Er macht bewusst, dass taxonomische Ordnungen – also hierarchisch gestaltete Klassifikationsschemata, mit denen die Naturwissenschaften versuchen, unsere Welt zu strukturieren und erklärbar zu machen – selbst wieder in örtliche, kulturelle und soziale Systeme eingebettet sind und mehr über gesellschaftliche oder politische Ideologien als über die Natur selbst aussagen. Mark Dions Anliegen ist kein wissenschaftliches, sondern ein politisch-ökologisches: „Natur wird von links wie von rechts benutzt wie ein Schwamm, um Ideen und Ideologien zu konstruieren.“²

Mark Dions Sicht auf und Reflexion über Natur ist deutlich pessimistischer und abstrakter geworden: Standen in den vergangenen Jahrzehnten in seinen Skulpturen und Installationen vorwiegend gefundene Artefakte und Kuriositäten, gebrauchte Alltagsgegenstände, Naturalien oder ausgestopfte Tiere im Zentrum seiner kritischen Reflexion von Natur und Kultur, werden in den letzten zehn Jahren in Kollaboration mit anderen Künstlern zunehmend Objekte neu erschaffen, die an die privaten oder bereits musealisierten Sammelstücke verweisen. Seit 2010 entstehen unter dem Titel The Phantom Museum künstliche Replikate von realen Objekten, die in Papiermaché oder Plastilin ausgeführt die Spezifizität des ursprünglichen Vorbilds verlieren, gleichsam zu dessen Phantom werden und die Grenzen zwischen Realität und Funktion erneut hinterfragen.

Mark Dion wird oft als Sammler von Dingen verstanden und er selbst betont, dass er „definitiv ein Liebhaber von Dingen ist und wahrhaftig daran glaubt, dass Dinge sprechen können“³, dennoch ist er noch mehr ein Sammler von Ideen, einer, der Ideologien erforscht, prüft und kunstvoll gegenüberstellt, um die Verbindungen von Vergangenheit und Gegenwart nachzuzeichnen. So verfolgt er in seinem Phantom Museum (Wonder Workshop) 2015 die verschlungenen Wege von Naturalien und Kuriositäten vom Zeitalter der Aufklärung bis ins 21. Jahrhundert. Diese Sammlungsstücke, ihrem ursprünglichen ozeanischen Umfeld entrissen, über die Kolonialisierungswellen des 17. Jahrhunderts nach Europa gebracht, verkauft, gehandelt und gesammelt und in die oftmals privaten Kunst- und Wunderkammern eingegangen, versuchten zahlreiche Künstler und Naturwissenschaftler zu Beginn der Aufklärung einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen. Sie wurden abgezeichnet, um Phantasiewesen erweitert, in Kupferstiche übertragen, in Bücher gebunden und so weitertradiert. Mark Dion abstrahiert nun diese Repräsentationen von Natur abermals, indem er die Kupferstiche in seine vereinfachten, typischen blau-roten Buntstiftzeichnungen überträgt, diese anderen Künstlern weitergibt, die wiederum farblose Objekte formen und so die ursprünglichen Dinge als deren „Geister“ auferstehen lassen. Durch die neu entstandenen Objekte, ihre Beschreibung und den Verweis aufs Original hinterfragt Mark Dion nicht nur den Zusammenhang von Signifikat und Signifikant, sondern auch die Kraft des Objekts an sich, unabhängig von professioneller Charakterisierung und Einordnung in ein historisches System. Mit dieser Dekontextualisierung stellt Mark Dion einen lebendigen Umgang mit Kulturgut den traditionellen, institutionellen Praktiken zur Erfahrung und Erschließung von Zeitgeschichte gegenüber.

Inwieweit sich unsere Vorstellung und Repräsentationsformen von Natur durch die dominanten Massenmedien und Reproduktionstechnologien abstrahieren, ja mehr und mehr virtualisieren, und ob sie sich letztendlich von der Realität abzulösen drohen, kann noch nicht abgesehen werden. Tatsache ist jedoch, dass in heutigen Museen längst digitale Vermittlungsformen Einzug gehalten und teilweise die realen Anschauungsobjekte ersetzt haben; die fixen Systematisierungsformen wurden zugunsten einer neuer Form von Kontextualisierung und einer zunehmend massentauglichen, kommerziell ausgerichteten Erlebniskultur verschoben. Fast scheint es, als würde Mark Dion in seinem Phantasmal Cabinet, das in Quart erstmals publiziert ist, die sich gegenwärtig hybridisierenden Sammlungs-, Ordnungs- und Präsentationsideologien zur Disposition zu stellen. Er bezieht sich auf den Renaissance-Naturforscher und Mitbegründer der modernen Zoologie, Ulisse Aldrovandi (1522–1605), der neben der Zusammenstellung von Naturalienkabinetten prachtvolle Publikationen herausgab, in denen er die damals bekannten europäischen Spezies exotischen Lebewesen aus der neuen Welt und phantastischen Fabelwesen gegenüberstellte. Auf Grundlage der Kupferstiche in diesen Publikationen formte Dion gemeinsam mit seinen Mitarbeitern fluoreszierende Skulpturen von Vögeln, Fischen, Säugetieren und Phantasiewesen, die er nach den vier Elementen Luft, Wasser, Erde und Feuer in einem setzkastenartigen Display ordnet und in einer Blackbox präsentiert. Gemeinsam mit einem Arrangement von menschlichen und tierischen Totenköpfen entsteht unter Blaulicht ein in der Dunkelheit leuchtendes, unheimlich anmutendes Kuriositätenkabinett, das die mit hyperbolischen Monstrositäten angereicherte Naturvorstellung Aldrovandis in eine zeitgenössische Repräsentationsform überträgt. Er schafft eine surreale Phantasmagorie von Natur, die den Rezipienten zugleich fasziniert wie beunruhigt und die ihm fremd und zugleich vertraut erscheint. Mark Dion bietet ein die Wirklichkeit übersteigerndes Spektakel, das deutlich macht, dass sich zwar der Wissensstand über die „Kategorie“ Natur und die auf sie angewandten Parameter verändern, eines jedoch über die Jahrhunderte gleichgeblieben ist: die Neugier erweckende Faszination der Natur, die den Forscherdrang der Menschheit bis heute antreibt.

1 Dieter Buchhart, Interview mit Mark Dion in: Kunstforum 157 (2001), S. 185–198.
2 Meier, Andreas in: Mark Dion, The Natural History of the Museum, Paris 2007, S. 8.
3 Vu, Mimi: Artful and Stunning Cabinets of Curiosities, New York Times, 25.02.2016, www.nytimes.com

 

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